Wo ist Gruyère?
Aufgelöst und mit leeren Pfoten betrat Madame Roquefort die Mäusehöhle.
Picandou sah sofort, dass etwas nicht stimmte. »Ist etwas passiert?«, rief er beunruhigt.
»Und wo ist der Käse?«, fragte Pomme de Terre.
»Und Gruyère?«, fügte Bertram verwundert hinzu.
Madame Roquefort hob verzweifelt die Pfötchen. »Das weiß ich eben nicht! Ich dachte, sie ist vielleicht hier bei euch!«
»Nein, ist sie nicht«, sagte Bertram. »Wieso? Was ist denn geschehen?«
Madame Roquefort ließ sich auf das Schwammbett fallen. Ihre Augen waren dunkel vor Kummer.
»Sie war irgendwie merkwürdig. Auf dem Weg zur Käsetheke sagte sie plötzlich, ich solle kurz warten«, berichtete sie. »Also habe ich gewartet, aber dann war sie einfach verschwunden.«
Sie wischte sich eine Träne aus den Augen. »Ich habe immer wieder nach ihr gerufen, aber sie hat nicht geantwortet und kam auch nicht zurück. Ich verstehe es einfach nicht …« Sie brach ab und schniefte.
Bertram schüttelte den Kopf. »Das klingt so gar nicht nach Gruyère«, lispelte er. »Bist du sicher, dass ihr nichts zugestoßen ist?«
Pomme de Terre lief schon zum Höhleneingang. »Kommt, Leute, wir kucken gleich nach. Da gibt’s bestimmt ’ne einfache Erklärung für.«
»Genau«, sagte Picandou ein wenig schuldbewusst. »Wahrscheinlich nur ein Missverständnis.« Dass Gruyère sich der Mäusedame gegenüber in letzter Zeit etwas frostig verhielt, war ihm nicht entgangen, und er ahnte, dass er daran nicht ganz unschuldig war. Er folgte den anderen die Stufen hinauf in den Laden.
»Wo hast du sie denn zuletzt gesehen?«, fragte er Madame Roquefort. Die trippelte in die Mitte des Raumes und blieb dort stehen. »Hier«, sagte sie weinerlich und dann zeigte sie in den hinteren Teil des Ladens, wo die Küche lag. »Dann ist sie da langgelaufen.«
Pomme de Terre hob überrascht die Brauen. »Was wollte sie denn in der Küche? Die putzt Margarethe jeden Abend so blitzeblank, dass es dort rein gar nix für hinter die Küsen gibt.«
»Ach, woher soll ich das wissen?«, erwiderte Madame Roquefort und presste die zierlichen Pfötchen aneinander. »Sie … sie war irgendwie komisch, das hab ich doch schon gesagt.«
»Sehr seltsam«, lispelte Bertram. »Sehr, sehr seltsam. Aber in Anbetracht der Lage sollten wir in Erwägung ziehen, dass …«
»Ich schlage vor, wir teilen uns auf«, unterbrach ihn Picandou ungeduldig. Sie mussten Gruyère unbedingt finden, bevor Margarethe und Frau Fröhlich von ihrem Abendessen zurückkehrten. »Ihr sucht die Küche ab und Madame Roquefort und ich übernehmen den Laden.«
Bertram warf ihm einen genervten Blick zu. Picandous herrischer Ton gefiel ihm überhaupt nicht. Was musste der Mäuserich sich vor Madame Roquefort immer so aufspielen? Doch er hielt sich zurück, schließlich galt es, Gruyère zu finden.
Er und Pomme de Terre trippelten in die Küche und begannen dort die Ecken gründlich abzusuchen. Picandou und Madame Roquefort nahmen sich den Laden vor. Immer wieder riefen sie nach der Ratte – doch die blieb spurlos verschwunden.
»Ihr wart doch auf dem Weg zur Käsetheke«, sagte Picandou, nachdem sie jeden Winkel abgesucht hatten. »Vielleicht schau ich dort noch mal nach.« Er lief zur Kiste und wollte zum Regal hinaufklettern, doch Madame Roquefort hielt ihn am Arm fest.
»Da ist sie ganz bestimmt nicht«, sagte sie hastig.
Picandou wandte sich überrascht um. »Warum glaubst du …?«
Weiter kam er nicht, denn in dem Moment hörten sie vor der Ladentür die Stimmen von Frau Fröhlich und Margarethe. Waren die beiden etwa schon von ihrem Abendessen zurückgekehrt?
Picandou ergriff Madame Roqueforts Pfote. »Los, schnell weg hier!«, zischte er. »Bertram, Pomme de Terre!«
Der Hamster und der Mäuserich hatten ihn zum Glück gehört und huschten und hoppelten, so schnell sie konnten, zur Kellertür. Da wurde auch schon der Schlüssel im Schloss umgedreht, Frau Fröhlich und Margarethe betraten den Laden und das Licht ging an. Die Muskeltiere witschten gerade noch rechtzeitig durch die Tür und lauschten mit klopfenden Herzen auf der anderen Seite.
»Ich glaube, ich hab den Schirm in der Küche stehen lassen«, sagte Margarethe. Die Muskeltiere hörten, wie sich ihre Schritte der Kellertür näherten. Und dann wurde die Tür plötzlich zugezogen.
Die vier Nager erstarrten.
»Scheibenkleister«, flüsterte Pomme de Terre.
Bertram war unter seinem Fell ganz blass geworden. »Jetzt kommt Gruyère nicht mehr raus!«, flüsterte er erschrocken.
»Und wir nicht mehr rein, um sie zu suchen«, stellte Picandou fest. Er war nun auch etwas beunruhigt.
Pomme de Terre zupfte sich nachdenklich an den Schnurrhaaren. »Es gibt noch einen Weg«, murmelte er. »Aber der ist nich’ ganz ungefährlich.«
Die anderen sahen ihn neugierig an.
»Welcher denn?«, fragte Bertram.
»Durch die Ladentür, wenn die zwei wieder rausgehen.«
»Aber was ist, wenn sie uns dabei erwischen?«, rief Picandou.
Pomme de Terre breitete die Pfoten aus. »Das ist ja das Gute – die wissen nich’, dass es uns gibt, und deswegen werden sie uns auch nich’ sehen. Denn wonach man nich’ sucht, das sieht man nich’. Das is’ doch klar wie Kloßbrühe. Wir müssen bloß vorsichtig sein.«
Bertram nickte. »Pomme de Terre hat recht!«, sagte er. »Kommt! Die gehen bestimmt bald wieder.« Er sprang die Kellertreppe hinab.
Pomme de Terre hüpfte hinterher.
»Wartet!«, rief Madame Roquefort, die auf der obersten Stufe neben Picandou stehen geblieben war. »Das ist keine so gute Idee.«
Bertram wandte sich um. »Warum?«
»Weil …« Madame Roquefort zögerte. »Weil … wie … wie kommen wir da wieder raus?«
»Na, so wie wir reingekommen sind«, antwortete Pomme de Terre. »Durch die Ladentür natürlich.«
Madame Roquefort zögerte immer noch. »Es gibt da ein kleines Problem …«, sagte sie schließlich und schielte zu Picandou. »Sie wissen nämlich doch, dass es uns gibt.«
»Was?!«, riefen Bertram und Pomme de Terre wie aus einem Mund.
Madame Roquefort senkte den Blick. »Wir haben es euch nie erzählt, aber … Margarethe hat uns gesehen, als … wir … einmal oben waren.«
»Uns?« Pomme de Terre schaute von ihr zu Picandou, der gerade angestrengt seine Krallenspitzen betrachtete. »Warum hast du uns das nicht gesagt?«
»Ich … ich …«, stammelte Picandou und warf Madame Roquefort einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Wir wollten euch nicht beunruhigen«, sagte die Mäusedame.
»So, so«, schnaubte Bertram. »Dachtest du etwa, ihr zwei tut so, als ob nichts gewesen wäre, und dann geht das schon wieder weg?«
Picandou nickte und senkte beschämt den Blick. Er wagte es nicht, seine Freunde direkt anzuschauen.
»Aber du weißt doch, was mir damals in der Dicken Seejungfrau passiert ist«, rief Pomme de Terre und sah ihn vorwurfsvoll an. »Herr Klemke hat mir den Kammerjäger auf den Pelz gehetzt, und das war’s dann mit meinem Zuhause.«
»Aber es ist eben nichts passiert«, sagte Picandou schnell. »Margarethe hat nur die Tür zugemacht. Dabei hätte sie reichlich Zeit gehabt, einen Kammerjäger zu holen, wenn sie es gewollt hätte.«
»Was heißt hier reichlich Zeit?«, lispelte Bertram.
»Na ja …« Picandou schaute wieder hinüber zu Madame Roquefort. »Das Ganze ist schon ein paar Tage her …«
»Ein paar Tage?! Du belügst uns schon seit ein paar Tagen und bringst uns alle damit in Gefahr?« Pomme de Terre schüttelte fassungslos den Kopf.
»Er hat euch überhaupt nicht in Gefahr gebracht. Ihr habt doch gehört, was er gesagt hat – es ist nichts passiert«, mischte sich Madame Roquefort ein. »Wie könnt ihr nur so undankbar sein? Habt ihr schon vergessen, dass er euch hier bei sich aufgenommen hat und alles, was er besitzt, mit euch teilt? Ohne ihn würdet ihr auf der Straße sitzen!«
Jetzt platzte Pomme de Terre endgültig der Kragen. »Undankbar?!«, brüllte er. »Niemand ist hier undankbar! Darum geht es überhaupt nicht. Gruyère ist da drinnen eingesperrt und wir wissen nicht, was mit ihr ist und wie wir sie da rausholen sollen!«
»Falls sie überhaupt noch da drinnen ist«, entgegnete Madame Roquefort ruhig. »Wenn sie da gewesen wäre, hätte sie doch geantwortet, als wir sie gerufen haben. Du hast selbst gesagt, man kann durch die Ladentür rausschlüpfen. Vielleicht sitzt sie ja gerade im Müllsack und genießt dort ein schönes Abendessen.«
Picandou kratzte sich verlegen hinterm Ohr. »Es könnte sein«, sagte er zögerlich, »dass … dass sie im Moment ein wenig sauer auf mich ist und es daher nicht so … so eilig hat … nach Hause zu kommen. Vielleicht machen wir uns alle umsonst Sorgen.«
Madame Roquefort war die Einzige, die zustimmend nickte.
Im Laden hörten sie wieder Schritte und Margarethes Stimme. »Ich hab ihn!«, rief sie.
»Ein Glück«, antwortete Frau Fröhlich. »Sonst wärst du auf dem Nachhauseweg klitschnass geworden.«
Wieder klapperte der Schlüssel im Schloss und dann war es still.
»Zu spät!«, murmelte Bertram. »Das klingt, als ob sie heute nicht mehr in den Laden kommen.«
Pomme de Terre seufzte. »Also gut, schauen wir uns draußen ein bisschen um.« Er sah Picandou düster an. »Könnte immerhin sein, dass der Herr hier recht hat.«
Die drei Muskeltiere kletterten durch das Abflussrohr ins Freie. Nur Madame Roquefort blieb wie üblich wegen ihres verletzten Füßchens zurück. Das war Pomme de Terre und Bertram ausnahmsweise sehr recht. Ihre anfängliche Begeisterung für die Mäusedame hatte einen kleinen Dämpfer bekommen. Vor allem aber waren sie sauer auf Picandou, den sie keines Blickes würdigten. Dass er seine Freunde belog, war schlimm genug. Aber dass er Gruyères Verschwinden so herunterspielte, war noch viel schlimmer.
Dicke Tropfen platschten in die Pfützen, die sich überall im Hof gebildet hatten, und benetzten den Müllsack, der an der Hauswand lehnte.
»Auch das noch! Bestimmt hol ich mir jetzt noch eine mordsmäßige Erkältung«, jammerte Picandou.
Mitleid hatte keiner mit ihm. Das Wichtigste war jetzt, dass sie Gruyère fanden.
Immer wieder riefen sie nach ihrer Freundin, schauten hinter Blumentöpfen, beim Schuppen und in der Toreinfahrt nach – umsonst. Die weiße Ratte war wie vom Erdboden verschluckt.
Ratlos kratzte Pomme de Terre sich am Kopf. »Vielleicht schauen wir doch noch mal im Laden nach«, schlug er vor. Kurzerhand machten sie eine Räuberleiter. Pomme de Terre, der auf Picandous Schultern balancierte, klopfte an die Scheibe und rief Gruyères Namen, doch im Laden rührte sich nichts.
»Sie scheint nicht hier drinnen zu sein«, murmelte er enttäuscht. Der Hamster schwankte inzwischen sehr unter dem Gewicht der beiden Mäuse. Pomme de Terre sprang gerade noch rechtzeitig ab, Picandou purzelte zu Boden und riss Bertram mit sich, der auf dem Po landete. »Und was machen wir jetzt?«, fragte er und rieb sich die schmerzende Pobacke.
»Ich schlage vor, wir suchen morgen weiter«, antwortete Picandou. Der Regen war mittlerweile kräftiger geworden und er spürte schon ein deutliches Kitzeln in der Nase und die ersten Anzeichen von Halsschmerzen. »Außerdem ist es an der Zeit für einen kleinen Imbiss«, fügte er hinzu.
Bertram, der beim Wort »Imbiss« normalerweise hellhörig wurde, rümpfte die Nase. »Mir scheint, dein Magen ist dir wichtiger als unsere Freundin. Du hast sowieso nur noch Augen für Madame Roquefort.«
»Du bist bloß eifersüchtig, weil ich ihr von uns allen am besten gefalle«, entgegnete Picandou.
»Papperlapapp!«, rief Bertram entrüstet. »Seit diese Maus bei uns wohnt, bist du nicht wiederzuerkennen. ›Mausi‹ hier, ›Schnuckeltierchen‹ da – alles andere ist dir offensichtlich egal.«
»’n echter Schmachthappen bissu geworden«, pflichtete Pomme de Terre ihm bei. »Kein Wunder, dass Gruyère das nich’ mehr verknusen konnte. Wir können nur hoffen, dass sie trotzdem bald man wieder nach Hause kommt.«
Picandou schwieg beleidigt. Dass ihn die beiden für Gruyères Verschwinden verantwortlich machten, passte ihm überhaupt nicht. Er konnte doch nichts dafür, dass er sich verliebt hatte. Das war nun mal einfach passiert.
Er wieselte hinüber zum Müllsack und nahm mit, was er tragen konnte: Zitronentarte, Schokocroissantkrümel, Nudelsalat, Tomatenscheiben und gegrillte Zucchini.
»Seinen Appetit hat er jedenfalls nicht verloren«, bemerkte Pomme de Terre trocken.
»Ich schon«, sagte Bertram. »Ein Glück, dass Gruyère immer noch uns hat. Uns ist sie ja nicht egal, so wie ihm.« Er warf Picandou einen kühlen Blick zu, doch der tat so, als hätte er ihn nicht gehört.
Madame Roquefort wartete schon sehnsüchtig auf den Essens-Service, aber ihr Lächeln versiegte, als sie die ernsten Mienen der drei Muskeltiere sah. Schweigend aßen sie ihr Mahl. Es war köstlich, doch Madame Roquefort war die Einzige, der der Appetit nicht vergangen war.
Nur für einen kurzen, einen sehr kurzen Moment vergaß Picandou tatsächlich die weiße Ratte. Als er ein Eckchen Gruyère zwischen den Leckereien entdeckte, spürte er doch einen kleinen Stich. Was, wenn die anderen recht hatten?