Not macht erfinderisch
Gruyère war in einen unruhigen Schlaf gefallen. Ab und zu hatten sie Geräusche geweckt, mal Margarethes helles Lachen und mal die Ladenglocke, aber sie wagte es nicht, sich zu bewegen.
Als sie diesmal aufwachte, tauchte die Abenddämmerung die Wände in ein orange-gelbes Licht. Die Ratte hatte seit vielen Stunden nichts gegessen und getrunken. Ihre Kehle war rau wie Schmirgelpapier und ihr Magen knurrte so laut, dass sie befürchtete, Margarete und Frau Fröhlich könnten es hören. Sie hob den Pappdeckel mit der unverletzten Pfote an und ließ ihren Blick erneut über das Regal schweifen. Vielleicht gab es ja in einer dieser Käseschachteln noch einen winzigen Käserest. Sie hob den Kopf, so hoch es ging, und betrachtete die Schachteln etwas genauer – sie waren alle leer. Weit und breit war nicht einmal ein klitzekleines Krümelchen zu entdecken. Nur ein Päckchen mit Zahnstochern lag in der Nähe der Mausefalle. Gruyère wusste, dass Frau Fröhlich damit Käseecken aufspießte, um sie dann ihren Kunden zum Probieren anzubieten. Sie hatte so einen Zahnstocher, der in einem Käsestückchen steckte, einmal im Müllsack entdeckt. Der Gedanke an den Müllsack machte sie noch hungriger.
Vorsichtig versuchte sie, ihren Arm und ihr Füßchen zu bewegen. Beide waren, bis auf einen dumpfen, pochenden Schmerz, inzwischen taub. Sie zog und zerrte mit den Zähnen an dem Draht, doch er war starr und straff gespannt. Sie versuchte, eine Krallenspitze zwischen Holzbrett und Draht zu schieben, doch die Klammer gab kein bisschen nach. Verzweifelt sah sie sich um. Ihr Blick fiel wieder auf das Päckchen mit den Zahnstochern, und auf einmal hatte sie eine Idee!
Sie schob den unverletzten Fuß hinüber zu dem Päckchen und bekam es mit einer Krallenspitze zu fassen. Langsam, Millimeter um Millimeter, zog sie es zu sich heran, riss die Plastikfolie mit den Zähnen auf und zog einen Zahnstocher heraus. Diesen versuchte sie unter den Draht direkt neben ihrem Arm zu klemmen, doch dabei brach die Spitze ab. Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen, aber sie durfte nicht aufgeben. Sie nahm einen neuen Zahnstocher und rammte ihn mit aller Wucht neben die Holzstückchen unter dem Draht. Und diesmal gelang es ihr. Der Zahnstocher blieb stecken und die Falle gab einen viertel Millimeter nach. Gruyère schob drei weitere Zahnstocher direkt neben den ersten. Nach jedem Versuch sank sie erschöpft zusammen und ruhte sich kurz aus.
»Ich schaffe es«, murmelte sie dabei. »Ich werde es schaffen!«
Langsam, sehr, sehr langsam wuchs die kleine Zahnstocherpyramide an, und je mehr sie anwuchs, desto mehr lockerte sich der Druck auf Gruyères Arm und auf ihrem Füßchen.
Endlich war die Pyramide hoch genug, dass sie ihre verletzten Pfoten hervorziehen konnte. Sie war frei! Erschöpft und erleichtert krabbelte sie aus der Falle und ließ sich auf das Regalbrett sinken. Dann fiel sie in einen traumlosen Schlaf. Die Anstrengung hatte ihr die letzte Kraft geraubt.
Als Gruyère wieder zu sich kam, war es vor dem Schaufenster dunkel geworden. Sie hatte noch immer Hunger und überlegte, ob sie sich vielleicht eine Kleinigkeit aus der Käsetheke besorgen sollte. Sie rieb sich den verletzten Arm, der mittlerweile nicht mehr ganz so taub und auch nicht mehr ganz so blau war, schlich auf wackeligen Beinen bis zum Ende des Regals und lauschte. Im Laden rührte sich nichts, aber aus der Küche hörte sie die Stimmen von Margarethe und Frau Fröhlich.
Die Kirchturmglocke begann zu schlagen. Gruyère zählte mit: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Das bedeutete, die beiden Frauen würden gleich durch den Laden kommen, die Lichter ausschalten, hinausgehen und dann die Ladentür hinter sich abschließen.
Gruyères Blick glitt zur geschlossenen Kellertür. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit den Muskeltieren abends oft auf der anderen Seite auf diesen Moment gewartet hatte, und ihr kleines Herz wurde ganz schwer. Sie musste nach Hause, zu ihren Freunden und zu Picandou, und zwar sofort!
Fieberhaft überlegte sie, wie sie hinauskommen sollte. Der Weg zum Keller war versperrt. Aus der Küche drang das Klappern von Geschirr, und plötzlich fiel ihr etwas ein.
Gruyère humpelte zum Regalrand, hangelte sich langsam an den Kisten hinab, lief dann im Schatten der Käsetruhe zur Ladentür und verbarg sich daneben unter dem Schaufensterregal.
Kurz darauf betraten Margarethe und Frau Fröhlich, beide im Mantel, den Laden. Margarethe machte die Lichter aus und Frau Fröhlich, die den Müllsack trug, öffnete die Ladentür. Das war der Moment, auf den Gruyère gewartet hatte! So schnell, wie das mit ihrem verletzten Füßchen möglich war, huschte sie zwischen den Beinen der Frauen hindurch. Zum Glück waren die beiden so in ihr Gespräch vertieft, dass sie die weiße Ratte nicht bemerkten. Gruyère sprang die Stufen hinab und versteckte sich hinter einem Blumentopf neben der Treppe. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie konnte es kaum fassen, aber sie hatte es geschafft.
Sie war nur knapp dem Tod entronnen und hatte den Weg in die Freiheit gefunden – und das ganz ohne die Hilfe ihrer Freunde!
Dicht neben ihr verabschiedeten sich die beiden Frauen voneinander, dann entfernte sich das energische Klacken von Margarethes Absätzen in die eine Richtung, während sich Frau Fröhlichs humpelnde Schritte in die andere Richtung bewegten.
Gruyère blieb reglos in ihrem Versteck. Sie wusste, dass Frau Fröhlich gleich den Müllsack in den Hof stellen und von dort nach Hause gehen würde, denn direkt neben der Toreinfahrt gab es eine Tür, die hinauf zu ihrer Wohnung über dem Laden führte.
Gruyère spitzte die Ohren und wartete. Kurz darauf hörte sie das leise Klick, mit dem Frau Fröhlichs Haustür ins Schloss fiel, und dann war alles ganz still.
Humpelnd, genau wie Frau Fröhlich, schlich sie durch die Toreinfahrt und steuerte auf den Müllsack zu. Der stand wie üblich an die Wand gelehnt, direkt neben einer Pfütze. Gruyère trank gierig aus der Pfütze, dann schleppte sie sich hinüber zum Müllsack, kletterte hinein und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer zwischen Kekskrümel und Salatgurkenschalen sinken.
Nie hatte es ihr besser geschmeckt! Nachdem ihr Bäuchlein prall gefüllt war, fielen ihr die Augen zu. Die anderen Muskeltiere würden sie bestimmt wecken, wenn sie wie üblich zum Essen kamen, dachte sie schläfrig.
»Die werden staunen«, murmelte sie und lächelte bei dem Gedanken an ihre überraschten Gesichter. Heute würde sie einiges zu erzählen haben.