Ende gut, alles gut
Ein paar Stunden später wurden die Muskeltiere und Hein-Ole aus dem Schlaf gerissen. Aus dem Laden drangen aufgeregte Stimmen zu ihnen herab, Schritte näherten sich und die Kellertür wurde aufgerissen. Tante Lotti, gefolgt von Margarethe und Frau Fröhlich, stürzte die Treppe hinunter.
»Cläuschen!«, rief sie. »Wo bist du?«
Als sie ihn entdeckte, hockte sie sich zu ihm und umarmte ihn. »Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!«
Die Muskeltiere setzten sich verschlafen in ihren Betten auf.
»Auf die Möwen ist Verlass«, murmelte Pomme de Terre.
Claus öffnete die Augen. »Hallo, Tante Lotti«, stammelte er. »Wie … wie … hast du mich denn gefunden?«
»Der Gärtner hat zum Glück deine Nachricht entdeckt. Gerade noch rechtzeitig. Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen!«
»Welche Nachricht?«, fragte Claus verdutzt.
»Weißt du das nicht mehr? Die, die du vor die Eingangstür gelegt hast. Deine Rechtschreibung war allerdings …« Tante Lotti unterbrach sich. »Egal. Aber wieso bist du überhaupt hier, mein Junge?«
»Hier?« Clausens Blick schweifte langsam durch den Keller. Er brauchte einen Moment, bis er wusste, wo er war, und dann erinnerte er sich wieder an die letzte Nacht.
»Kann es sein, dass er schlafwandelt?«, fragte Margarethe, die sich über die beiden gebeugt hatte. »Er scheint eindeutig verwirrt zu sein und er weiß nicht, wie er hergekommen ist. Ich habe schon von so etwas gehört. Das ist nicht ganz ohne. Einmal haben sie einen Schlafwandler mitten auf der Autobahn aufgelesen.«
Claus schwieg. Die Muskeltiere warteten angespannt auf seine Antwort.
»Oh Mann, hoffentlich verpfeift er uns nicht«, flüsterte Hein-Ole. Ihm war diese Ratten-Mäuse-Hamster-Menschenkind-Freundschaft immer noch nicht ganz geheuer.
»Schlafwandeln? Unsinn!«, rief Tante Lotti.
»Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich hierhergekommen bin«, antwortete Claus.
»Du hast den Schlüssel aus meinem Geheimversteck geholt«, sagte Frau Fröhlich, die inzwischen die Treppe hinuntergehumpelt war. »Weißt du das nicht mehr?«
»Nein.« Claus schüttelte langsam den Kopf. »Keinen blassen Schimmer.«
Die Muskeltiere sahen sich erleichtert an. Bertram stupste Hein-Ole in die Seite: »Sag ich doch, auf das Menschenkind ist Verlass.«
»Ich rede mit Doktor Eberwein«, sagte Tante Lotti. »Ich kann nicht riskieren, dass du mir eines Nachts auf die Autobahn läufst oder dass ich dich aus der Elbe fischen muss.«
»Kommt, jetzt gibt’s erst einmal meine guten Croissants mit selbst gemachter Marmelade«, rief Frau Fröhlich und ging zurück zur Treppe.
Margarethe folgte ihr. »Und eine große Tasse heiße Schokolade für Claus«, sagte sie.
»Der hat’s gut!«, murmelte Picandou, dem beim Gedanken an die Croissants das Wasser im Mund zusammenlief.
»Geht doch schon mal vor«, sagte Claus. »Ich komm gleich.«
Die Muskeltiere hörten die Schritte der drei Frauen auf der Treppe und kurz darauf erschien Clausens Gesicht vor dem Höhleneingang.
»Alles klar bei euch?«, flüsterte er.
Die Muskeltiere nickten.
»Tschüss dann. Und – um eure Freunde hier kümmere ich mich nachher.« Er holte kurz das Glas aus seiner Jackentasche, in dem Helmut und Madame Roquefort sichtlich erbost umherhüpften, mit den Pfötchen gegen das Glas trommelten und schimpften. Zum Glück konnte man nicht hören, was sie sagten.
Claus grinste, dann winkte er seinen Freunden zum Abschied zu. »Bis bald.«
Die Muskeltiere und Hein-Ole winkten aus ihren Betten zurück und als sie wieder einschliefen, träumte nicht nur Picandou von einem ganzen Berg duftender Croissants mit Marmelade.
Ein leises, aber eindringliches Klopfen weckte die fünf Nager am späten Abend.
»Das ist bestimmt deine Kundschaft«, sagte Hein-Ole verschlafen zu Pomme de Terre. »Die wollen endlich ihre Belohnung kassieren.«
Pomme de Terre stöhnte und setzte sich langsam auf. Wankend kletterte er aus der Sardinendose. Diese Möwen, dachte er. Die lassen sich die Butter nicht vom Brot nehmen. Doch als er vor dem Höhleneingang stehen blieb und zum Kellerfenster hinaufspähte, sah er dort nicht die Möwen, sondern Rattussi, Rattilla und die ganze Rattengang. Das bedeutete, dass die Traviata in Hamburg vor Anker lag, denn die Ratten lebten inzwischen auf dem Schiff. Sie winkten begeistert, als sie Pomme de Terre entdeckten. Pomme de Terre torkelte zurück in die Höhle.
»Leute, aufwachen! Schaut mal, wer da is’«, rief er den anderen zu. Langsam wurden auch sie wach und schauten neugierig zum Kellerfenster hinauf.
»Den Gürtel müssen wir heute noch enger schnallen«, stellte Bertram fest.
»Eben. Die Hälfte des Müllsacks geht an die Möwen«, antwortete Pomme de Terre. »Versprochen is’ versprochen.«
Zögerlich kletterten sie hinaus in den Innenhof. Wie sollten sie ihren Freunden bloß erklären, dass es heute mit der Gastfreundschaft nicht besonders gut aussah? Die Ratten hatten das Sieb schon beiseitegeschoben und standen erwartungsvoll daneben. Freudig begrüßten sie die Muskeltiere mit viel Schultergeklopfe und Nasenstübern. Sogar Hein-Ole wurde herzlich in die Seite geboxt.
»Wir haben ’ne kleine Überraschung mitgebracht!«, rief Rattussi.
So klein war die Überraschung gar nicht. Die Ratten ließen sich wirklich nicht lumpen: Sie hatten ganze Armladungen der feinsten Kuchen- und Käsereste vom Schiff dabei, denn die Traviata war schließlich ein Fünf-Sterne-Schiff und die Küche dort war fast noch besser als die von Frau Fröhlich. Sie breiteten ihre Mitbringsel im Innenhof aus und holten unter Pomme de Terres wachsamem Blick allerhand Köstlichkeiten aus dem Müllsack dazu. Er hatte ihnen die Sache mit den Möwen sehr eingeschärft und so ließen sie die Hälfte übrig.
»Auf unser Wiedersssehen!«, rief Rattilla, der Rattenchef, und hob feierlich ein Käsestück hoch. Er lächelte den vier Muskeltieren zu.
»Allerdingsss! Auf unser Wiedersssehen!«, rief Rattussi, seine Frau.
»Auf unser Wiedersssehen!«, echoten die anderen. Sie hoben Käseecken und Kuchenstücke hoch und prosteten sich damit zu.
»Dasss Mahl issst eröffnet«, zischelte Ratilla und biss in sein Käsestück. Die anderen taten es ihm nach. Und dann war nur noch Schmatzen und wohliges Knurren zu hören. Kurz darauf raschelte es in der Luft über ihnen und die drei Möwen vollführten ein etwas wackliges Landemanöver zwischen den Essensresten.
»IsJaNichZuFassenIsJaEchtNichZuFassen!«, riefen sie begeistert und Picandou musste sie mehrmals zur Ruhe ermahnen.
»Na, hab ich euch zu viel verspochen?«, fragte Pomme de Terre vergnügt. Er war mehr als zufrieden. Bei diesem Festmahl wurden alle satt, auch die Möwen.
Es wurde noch ein sehr lustiger und ausgelassener Abend. Die Ratten tanzten Polonaise zwischen den Blumentöpfen und sangen dabei ihr Rattenlied:
Essen fressen,
Essen fressen!
Kräftig in die Fresse pressen.
Essen fressen
Essen fressen
Rülpsen, furzen
Nicht vergessen!
Kauen, kauen
Nagen, nagen
Voll der Magen.
Inzwischen saßen die Muskeltiere und Hein-Ole mit prall gefüllten Bäuchlein neben Rattussi und Rattila und erzählten ihnen von Madame Roquefort, auch bekannt als Fräulein Flieder, und von Helmut. Aufmerksam hörten die beiden ihnen zu.
»Ich glaube, von denen habe ich schon mal gehört«, sagte Rattussi. »Helmut und Ingeborg. Ingeborg issst nämlich ihr echter Name. Das sind zwei ganzzz fiese Finger.«
»Stimmt!«, rief Rattilla. »Jetzzzt wo du’s ssagst, erinnere ich mich. Da isss’ ’n Kumpel von mir auch drauf reingefallen! Die zzzwei haben immer die gleiche Masche: Ingeborg hat wasss am Fusss und wird dann von einem gutherzzzigen Typen aufgenommen. Und dann, wenn sssie den um den kleinen Zzzeh gewickelt hat, schlagen sssie und Helmut zzzu und rauben ihn ausss. Die haben hier in der Speicherstadt einen ganzzz üblen Ruf.«
»Was?«, rief Bertram. »Und wir sind drauf reingefallen!«
»Mhm«, machte Picandou kleinlaut.
Gruyère nahm seine Pfote. »Jedenfalls sind sie bald ganz, ganz weit weg und werden hier nie wieder ihr Unwesen treiben.«
»Ein Glück«, seufzte Bertram.
»Ein großes Glück«, murmelte Picandou und lächelte Gruyère zu.
Der Rattentanz war immer ausgelassener geworden, und als eine Rattendame Hein-Ole zum Tanz aufforderte, ließ er sich sofort mitziehen.
»Ihr auch!«, rief sie den anderen zu und bald wippten und sprangen die Muskeltiere mit den Ratten über den Hof. Pomme de Terre tanzte gleich mit zwei Rattendamen und Picandou und Gruyère hielten beim Tanzen Pfötchen und schauten einander tief in die Augen.
»Ssssind sssie nicht süssss?«, zischelte Rattussi Bertram zu, als der eine kleine Tanzpause einlegte und sich ganz außer Atem neben ihr niederließ. Sie deutete auf die beiden. »Immer noch wie zzzwei Frischverliebte. Da sssollte sssich mein Rattilla mal ein Beissspiel dran nehmen.«
»Na, wenn du wüsstest«, dachte Bertram, »dann würdest du dir das dreimal überlegen.« Aber das sagte er nicht laut. Stattdessen wippte er vergnügt mit den Füßchen und betrachtete zufrieden das bunte Treiben.
Die Muskeltiere hatten schon so einige Feste gefeiert, aber das hier war eindeutig die größte Party, die sie je gehabt hatten. Und das war auch gut so, denn viel hätte nicht gefehlt, und sie hätten einander für immer verloren.