Hein-Oles Geheimnis
Als Gruyère aufwachte, spürte sie Hein-Oles Blick auf sich ruhen. Es war inzwischen fast dunkel geworden, aber Gruyère erkannte seine Silhouette. Er stand an den Tresen gelehnt und beobachtete sie. Gruyère bemerkte auch, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er war so mager, dass sich seine Rippen unter dem struppigen Fell abzeichneten. Was, wenn er vor Schwäche jetzt umkippte und nicht mehr zu sich kam?
Die graue Maus war nicht aufgetaucht, und wer wusste schon, ob sie überhaupt noch kommen würde? Wenn Gruyère nichts einfiel, würden sie und Bertram elendig verhungern, denn Pomme de Terre und Claus würde sie hier nie und nimmer finden. Was sollte sie bloß tun?
Ihr Blick fiel wieder auf Hein-Ole. Zwar hatte die graue Maus sie davor gewarnt, dass er mit allen Wassern gewaschen sei, aber wie ein echter Fiesling sah er bei genauerer Betrachtung eigentlich nicht aus. Eher etwas verwahrlost und irgendwie verloren.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
Hein-Ole machte ein paar vorsichtige Schritte auf sie zu. Gruyère bemerkte, dass seine Augen glasig waren. Und jetzt sah sie auch, dass die schwarzen Stellen auf seinem Fell keine Flecken waren, sondern Brandspuren. Sein Fell war überall versengt, deswegen war er so struppig. Er musste ordentlich etwas vom Feuer abbekommen haben, als er die Mäusefamilie vertrieben hatte. Allerdings, viel hatte er davon wohl nicht gehabt, denn in einer Ruine zu wohnen, in der es nichts zu essen gab, war ja auch nicht schön.
»A-a-alles gut«, sagte er schwach und nach einer längeren Pause fügte er hinzu: »Ich ha-habe allerdings seit über einer Woche k-k-kaum etwas gegessen. Nicht seitdem diese Ga-Ganoven hier alles in Brand gesetzt haben. Aber e-egal.«
Gruyère sah ihn überrascht an. »Wer hat hier alles in Brand gesetzt? Ich dachte, das wärst du gewesen?«
»Ich?« Hein-Ole sah sie ungläubig an. Er schüttelte den Kopf und lachte bitter. »Wie k-kommst du denn darauf? Warum sollte ich mein eigenes Zu-Zuhause in Brand setzen? Das wäre doch zi-zi-ziemlich verrückt, oder?«
»Dein Zuhause?« Gruyère verstand überhaupt nichts mehr. »Ich dachte, es gehört der grauen Maus …« Zu spät merkte sie, dass sie sich verplappert hatte.
»He-He-Helmut?« Hein-Oles Augen verengten sich. »Also doch«, sagte er und machte noch einen Schritt auf sie zu. »Was ha-ha-hast du mit Helmut zu schaffen?«, fragte er argwöhnisch.
»Ni-nichts«, antwortete Gruyère etwas zu schnell. Helmut und der graue Mäuserich waren also ein und derselbe!
Hein-Oles Blick durchbohrte sie. »Ich wu-wu-wusste, dass ihr lügt!«, zischte er. »Also ra-ra-raus mit der Sprache – hat er euch geschickt? Wa-wahrscheinlich sollt ihr mich a-a-ausspionieren. Oder gleich u-u-umbringen. Es reicht ihm wohl nicht, dass er mein Heim abgebrannt hat. Dieser Wi-Widerling!«
»Er hat dein Heim abgebrannt?«, flüsterte Gruyère verunsichert.
»Ja. Er und d-d-dieses Fräulein Flieder. Jetzt t-t-tu nicht so – sie haben euch doch ge-geschickt.«
»Nein.« Gruyère schüttelte entschieden den Kopf. »So war es nicht.«
»W-wie war es dann?«
Gruyère warf Bertram einen Hilfe suchenden Blick zu, doch der Hamster schnarchte immer noch leise vor sich hin und bekam nichts von alledem mit, was gerade geschah.
Gruyère zuckte nervös mit der Schwanzspitze. Sie wusste, ein falsches Wort, und es war um sie und Bertram geschehen. Krampfhaft suchte sie nach einer guten Erklärung, doch ihr Kopf war leer. Es blieb nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. »Hör zu«, flüsterte sie. »Ich will dich nicht anlügen. Ich erzähle dir alles, was passiert ist.«
Und dann erzählte sie. Sie erzählte von ihrem Picandou und Madame Roquefort, sie erzählte von der Mausefalle und davon, dass Picandou sie nicht mehr in der Höhle haben wollte, und wie die drei Muskeltiere beschlossen hatten, sich ein neues Zuhause zu suchen. Hein-Ole hörte ihr aufmerksam und schweigend zu. Sie erzählte vom Gullyloch und davon, wie die graue Maus namens Helmut sie und Bertram gerettet hatte. Als sie schilderte, wie Helmut ihnen im Gegenzug das Versprechen abgenommen hatte, Hein-Ole zu fangen, blitzten die Augen der Ratte vor Wut.
»D-d-dieser gemeine Hu-Hu-Hund!«, stieß er hervor. »Ich k-k-kann nicht glauben, wie ni-niederträchtig der ist.« Er schwankte wieder etwas und tastete nach einem Halt. Er sah wirklich nicht gut aus. Gruyère hatte auf einmal Mitleid mit ihm.
»Ich weiß, wo du etwas zu essen bekommen kannst«, sagte sie sanft.
»D-d-du willst mich nur rei-reinlegen«, antwortete er schwach.
Gruyère schüttelte den Kopf und ihr Blick war so ernst, dass Hein-Ole schließlich nickte.
»A-a-also gut. D-d-dann spuck’s aus«, sagte er grimmig.
»Bei uns im Innenhof hinter dem Feinkostgeschäft steht ein Müllsack, der mit den herrlichsten Leckereien gefüllt ist«, antwortete Gruyère. »Wenn du jetzt rübergehst, kannst du dich satt essen. Aber beeil dich, denn sonst fressen dir Picandou und Madame Roquefort alles weg.«
Hein-Ole zögerte, aber nur kurz. »Is’ klar«, sagte er. »Aber wehe, d-d-das ist ein Trick. Du weißt, m-m-mit mir ist n-n-nicht zu spaßen.« Damit verschwand er wankend durch die Tür.
Gruyère ließ den Kopf auf den Boden sinken. Ihre zusammengebundenen Pfoten schmerzten. Hoffentlich war es kein Riesenfehler gewesen, Hein-Ole ihre ganze Geschichte zu erzählen, dachte sie. Andererseits hatte sie so ein Gefühl, dass es genau das Richtige gewesen war, und meist täuschte ihr Gefühl sie nicht.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Hein-Ole zurückkehrte. Er schwankte immer noch, aber diesmal nicht vor Erschöpfung, sondern unter dem Gewicht von Tortenresten, Pastetenkrümeln und Olivenecken. Die ließ er vor Gruyère fallen.
»F-für euch«, stotterte er, sah sie dabei schüchtern von der Seite an und zeigte seinen schiefen Zahn. Es sah sogar beinahe so aus, als ob er lächelte.
»D-das war ein verdammt guter M-Müllsack. Der beste, an dem ich je ge-ge-gespeist habe. Ein Ge-gedicht!«, fuhr Hein-Ole fort. Dann nahm er ihr die Fesseln ab. »D-d-das hier ist für dich und deinen K-K-Kumpel. Aber keine Mätzchen, ka-kapiert?«
Gruyère nickte und rieb sich die steifen Gelenke. »Danke«, sagte sie und griff hungrig nach einem Stück Schokotorte. Und dann erinnerte sie sich an ihre Manieren. »Ich heiße übrigens Gruyère«, sagte sie. »Genau genommen Gruyère-Josephine.«
Hein-Ole verbeugte sich und diesmal lächelte er wirklich. »Eine Dame!«, sagte er. »D-das hatte ich mir schon b-b-beinahe gedacht. S-sehr erfreut. Ich bin Hein-Ole.«
»Ich weiß«, sagte Gruyère. »Und das hier ist Bertram von Backenbart.« Sie deutete auf den Hamster, der jetzt schläfrig blinzelte. Die Essensdüfte hatten ihn geweckt. Er setzte sich ruckartig auf.
»Was ist los? Wo sind wir?«, rief er. Sein Blick fiel auf die Leckereien, dann auf Gruyère, die nicht mehr gefesselt war, und zuletzt auf Hein-Ole. Seine Äuglein verfinsterten sich, als er begriff. Dieser Hein-Ole hatte es tatsächlich geschafft: Er hatte Gruyère zwar von ihren Fesseln befreit, sie aber dafür mit seiner Stotterei eingewickelt. Unglaublich, ein Charmebolzen war diese Ratte nun wahrhaftig nicht. Wie konnte Gruyère nur auf diese billige Masche reinfallen?
»Glaub ihm kein Wort!«, knurrte er.
»Er ist nicht so, wie du denkst«, sagte Gruyère. »Stell dir vor: Helmut hat den Laden angezündet.«
»Helmut? Wer ist überhaupt dieser Helmut, von dem alle reden?«, schnaubte Bertram.
»Die graue Maus«, antwortete Gruyère.
»Na toll! Und du glaubst der Ratte natürlich. Hast du schon vergessen? Die graue Maus … ähm, Helmut hat uns doch vor ihm gewarnt!«
Hein-Ole verschränkte die Arme vor der Brust.
»Aha«, machte er. »Und w-w-was genau hat dieser G-G-Gauner gesagt?«
Bertram schwieg und betrachtete eingehend einen Riss in der Decke.
Gruyère stupste ihn in die Seite. »Hey, es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich habe ihm unsere ganze Geschichte erzählt.«
»Du hast was?« Bertram starrte sie fassungslos an. »Wie konntest du nur?«
»W-W-Wir haben alle ein ä-ä-ähnliches Sch-Schicksal erlitten«, sagte Hein-Ole und nahm Bertram jetzt die Fesseln ab.
»Was heißt hier ein ähnliches Schicksal?«, fragte Bertram. Er rieb sich die Pfoten und schaute misstrauisch von einem zum anderen. Die beiden wirkten ihm etwas zu vertraut und das gefiel ihm überhaupt nicht. Allerdings stieg ihm der betörende Essensduft in die Nase und der Hunger nagte so gewaltig an ihm, dass er sich erst darum kümmern musste. Also fischte er sich dankbar ein Tomatenstückchen aus dem Essenshaufen.
»Tja, auch so eine Ge-Geschichte mit einer hübschen M-M-Mäusedame«, antwortete Hein-Ole und ließ sich neben Bertram und Gruyère nieder. »Meine hieß F-F-Fräulein Flieder. Ich f-f-fand sie eines Tages im Rinnstein. Eine a-a-ausgesprochen fesche Lady. S-S-Sie hatte ein ver-verletztes Füßchen und war nich’ g-g-gut auf die Beine. I-I-Ich nahm sie mit nach Hause und habe sie ge-gesund gepflegt und m-m-meine Pizzakrusten mit ihr geteilt. S-S-Signor Francesco war da immer sehr g-g-großzügig mit seinen Resten. Er hat mir abends sogar manchmal K-K-Käse und Milch hingestellt, da habe ich natürlich gern geteilt. Je-Jedenfalls kümmerte ich mich a-a-also um das hübsche Fräulein Flieder, g-g-gab ihr mein Nachtlager und s-s-sah zu, dass sie alles hatte, was sie brauchte. S-S-Sie war sehr niedlich und s-s-sehr nett und ich dachte, a-a-alles wäre gut. S-S-Sie wollte sogar für immer bei mir bleiben.« Er seufzte leise. »Und ich hab geglaubt, s-s-sie mag mich. A-a-aber eines Nachts geschah es dann. Ich war da oben am Ofen und hab ein paar Pizzareste – für mich und F-F-Fräulein Flieder – besorgt, da spürte ich plötzlich einen harten Schlag auf die Birne.« Hein-Ole deutete auf seinen Kopf. »Ich wurde ohnmächtig, a-a-aber zum Glück nur kurz. Denn plötzlich weckte mich ein starker Schmerz – er durchfuhr meinen g-g-ganzen Körper wie t-t-tausend Nadeln. Ich öffnete also die Klüsen und sah wie Fräulein F-F-Flieder und so eine dunkle Gestalt, eine ziemlich untersetzte, aber kräftige graue Maus, die ich vorher noch nie gesehen hatte, v-v-versuchten, mich in die Glut zu sch-schieben.«
»Nein!«, rief Bertram entsetzt. »Etwa so ein Typ mit Bürstenschnitt und gegelten Barthaaren?«
»Genau der«, sagte Hein-Ole. »Helmut eben.«
Bertram wiegte den Kopf nachdenklich hin und her. Wer sagte nun die Wahrheit? Helmut oder Hein-Ole?
Hein-Ole stockte. Die Erinnerung an jene Nacht machte ihm zu schaffen. Ein leichtes Zittern ging durch seinen schmalen Körper und sein Stottern verstärkte sich wieder.
»S-S-Sie hatten mich zum P-P-Pizzaofen ge-geschleppt. Ich w-w-wehrte mich also. Fräulein Flieder a-aber und der Kollege wa-waren zusammen v-v-viel stärker als ich. Ich sah auch, d-d-die hatte g-g-gar k-k-keinen verletzten Fuß, d-d-die hatte nur so ge-getan. J-J-jedenfalls, beim K-K-Kampf stieß sie g-g-gegen eine Flasche mit Br-Br-Brennspiritus.« Hein-Oles Blick verfinsterte sich. Er zupfte nervös an seinem angesengten Fell. »D-d-die kippte um und lief aus«, erzählte er leise. »Ihr k-k-könnt euch vielleicht v-v-vorstellen, was dann passierte: Es g-g-gab eine Stichflamme, und d-d-dann f-f-fing alles Feuer – T-T-Tischdecken, Holztische, alles.« Er schüttelte sich, als er an jenen schrecklichen Moment zurückdachte, und schwieg. Der Regen klopfte leise gegen die Fensterpappe.
»Und wie ging es weiter?«, fragte Gruyère sanft.
Hein-Ole seufzte schwer. »Er und F-F-Fräulein Flieder sind sofort abgehauen, wer weiß wohin. Ihn habe ich danach einmal k-kurz gesehen, aber dieses Fräulein F-F-Flieder hat sich seitdem nie wieder hier b-b-blicken lassen.« Er war aufgestanden und begann, auf und ab zu gehen. »M-M-Mich haben sie einfach liegen lassen. D-d-die dachten bestimmt, ich würde hier verbrennen. Dieses P-P-Pack.« Er blieb stehen und hob die Faust. »Aber wie d-d-durch ein Wunder habe ich es geschafft, den F-F-Flammen zu entkommen. Und jetzt w-w-wisst ihr, warum der liebe Signor Francesco seinen L-L-Laden verloren hat. Es war m-m-meine Schuld. Hätte ich diese M-Maus hier nicht aufgenommen, wäre das alles nie p-p-passiert.« Bedrückt starrte er vor sich hin.
»Sag mal«, rief Gruyère, der plötzlich ein Gedanke kam. »Heißt Signor Francesco in Wirklichkeit Horst Schneider und kommt aus Nippes und nicht aus Neapel?«
Hein-Ole sah sie überrascht an. »Stimmt! Aber wo-woher weißt du das? D-das ist sein Ge-Geheimnis, von dem er nie spricht – a-a-außer wenn er mit sich s-s-selber redet. Manchmal hat er auch Ich bin ene kölsche Jung gesungen, wenn er hier spät aufräumte.«
»Davon hat Madame Roquefort auch erzählt«, rief Bertram. Er ahnte, worauf Gruyère hinauswollte.
»Und hat Fräulein Flieder vielleicht einen weißen Streifen auf dem Rücken?«, fuhr Gruyère mit blitzenden Augen fort.
Wieder nickte die Ratte und sah sie überrascht an. Und dann sprang er so plötzlich auf, als hätten ihn fünf Hummeln gleichzeitig in den Po gestochen. Er deutete auf das Schaufenster in Richtung Feinkostladen.
»Sie ist es, stimmt’s?«, rief er. »Eure Madame Roquefort und Fräulein Flieder sind ein und dieselbe M-M-Maus!« Er schüttelte den Kopf. »Ich h-h-habe es ja schon fast geahnt, als du eure Geschichte erzählt hast, aber ich k-k-konnte und wollte es einfach nicht glauben!«
Bertram lieferte ihm eine möglichst genaue Beschreibung von Madame Roquefort, und Hein-Ole schüttelte dabei immer wieder den Kopf und murmelte: »Sie ist es. K-k-klarer Fall. Sie ist es.«
»Und Helmut ist ihr Komplize, stimmt’s?«, fragte Gruyère.
»Ich glaube schon. Als er nach dem Feuer noch einmal h-hier gewesen ist, hat er fast alle Essensreste ge-geklaut. Ich habe ihm natürlich den Weg v-versperrt. Er war überrascht, dass ich ü-überlebt hatte. Damit hatte er nicht gerechnet. Wir haben miteinander ge-gekämpft und dann ist er ge-geflohen. Dabei rief er mir noch zu: ›Ich schwöre, ich mache dich kalt.‹«
»Mache dich kalt?«, fragte Bertram entgeistert. »Meinte er etwa …?«
Hein-Ole fuhr sich mit der Pfote über den Hals.
Bertram schluckte. »Verstehe«, murmelte er. Gruyère hatte mit ihrer Befürchtung also recht gehabt.
»Aber wenn das stimmt, was du erzählt hast –«, begann Gruyère.
»Es stimmt!«, unterbrach Hein-Ole sie. »Jedes einzelne Wort. Das schwöre ich beim Grab meiner Großmutter.«
Bertram und Gruyère sahen sich an. Sie ahnten beide, dass das nichts Gutes für Picandou bedeutete.
»Wir müssen zu ihm«, sagte Gruyère. »Und zwar sofort!«