Besuch und eine Überraschung
Picandou hatte das »kleine Geheimnis« sehr gut gehütet und niemandem von der unglücklichen Begegnung mit Margarethe erzählt. Die Tür blieb weiterhin verschlossen und weder Frau Fröhlich noch Margarethe waren seit jenem schrecklichen Tag in den Keller gekommen.
Ab und zu kletterte Picandou die Treppe hinauf und lauschte sicherheitshalber an der Tür. Manchmal hörte er die Stimmen von Margarethe und Frau Fröhlich, aber sie sprachen zu Picandous Erleichterung weder von Mäusen noch von einem Kammerjäger. Madame Roquefort hatte recht gehabt, die Gefahr schien gebannt. Diesmal waren sie noch knapp davongekommen und es war gut, dass er seinen Freunden nichts davon erzählt hatte, denn das hätte nur für unnötige Aufregung gesorgt.
Den anderen Muskeltieren fiel zwar auf, dass die Tür länger als sonst verschlossen blieb, aber keiner von ihnen wunderte sich sonderlich darüber. Nur Gruyère sagte einmal, es sei doch eigentlich schade, dass sie nichts mehr aus der Käsetheke stibitzen konnten.
Eines Tages aber ging die Tür wieder auf und kurz darauf rief eine helle Stimme nach ihnen. Bertram erkannte sie sofort wieder.
»Claus ist da!«, rief er aufgeregt und zu Madame Roquefort sagte er: »Du musst ihn unbedingt kennenlernen. Er ist so ein netter Menschenjunge.«
»Ein Mensch? Auf keinen Fall«, rief Madame Roquefort entsetzt. »Habt ihr etwa Regel Nummer Eins gebrochen?«
»Natürlich nicht«, antwortete Bertram entrüstet.
Regel Nummer Eins besagte, dass kein Tier mit Menschen sprechen durfte. Das wussten die Muskeltiere natürlich und sie hatten sich auch immer daran gehalten.
»Allerdings verstehen wir einander auch ohne zu schnacken«, fügte Pomme de Terre hinzu. Schließlich besagte die Regel nichts darüber, ob man den Menschen auch schreiben durfte. Und da Bertram bei Tassilo heimlich Lesen und Schreiben gelernt hatte, schrieb er Claus kleine Nachrichten.
»Claus ist eine Ausnahme«, erklärte Bertram. »Und ich weiß, dass er unser Geheimnis wie sein eigenes Leben hütet.«
»Pfff«, machte Madame Roquefort nur und schaute den Muskeltieren misstrauisch nach, als sie aus der Höhle trippelten. »Trau nie einem Menschen über den Weg. Das bringt nur Ärger«, rief sie ihnen hinterher. Doch keiner antwortete darauf, nicht einmal Picandou.
Claus saß schon auf der untersten Treppenstufe und wartete auf sie. Als sich die Muskeltiere vor ihm verneigten, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Oben aus dem Laden waren die Stimmen von Margarethe, Frau Fröhlich und Clausens Tante zu hören.
»Es ist schön, euch wiederzusehen«, flüsterte Claus. »Ihr habt mir gefehlt. Geht es euch gut?«
Drei Muskeltiere nickten eifrig. Am eifrigsten nickte Picandou, denn es ging ihm gerade blendend. Madame Roquefort hatte ihm in letzter Zeit immer öfter verliebte Blicke zugeworfen und ihn getätschelt, wenn sie allein waren. »Unser kleines Geheimnis«, dachte er glücklich. Nur Gruyère hatte auf Clausens Frage hin nicht genickt. Sie hatte ja bemerkt, dass Picandou sich irgendwie verändert hatte. In letzter Zeit hatte er nur noch Augen für Madame Roquefort und manchmal kam sich Gruyère ziemlich überflüssig vor.
Claus hatte einen Rucksack dabei. Den öffnete er jetzt und holte Papier und Tinte hervor. Er legte das Blatt vor Bertram auf den Boden und schraubte den Deckel vom Tintenfass ab.
»Was treibt ihr so?«, fragte er.
Bertram tauchte sein Krällchen ein und berichtete in wenigen Worten vom Feuer und von der süßen Maus, die sie gerettet hatten.
»Oh, das klingt ja sehr aufregend«, sagte Claus. »Darf ich eure neue Freundin auch kennenlernen?«
Bertram schüttelte den Kopf und schrieb:
»Verstehe«, sagte Claus, und dann erzählte er noch, dass seine Tante bald wieder einen Besuch in Ägypten plane. »Ich glaube, sie und mein Papa mögen sich wahnsinnig gern«, flüsterte er. »Ich glaube, sie ist sogar in ihn verliebt.«
In dem Moment rief seine Tante aus dem Laden nach ihm.
»Ich komme gleich«, rief Claus zurück und beugte sich nochmals zu den Muskeltieren.
»Wollt ihr nicht zu mir ziehen?«, sagte er leise. »Tante Lottis Haus ist riesengroß, außerdem sieht es ja ein bisschen aus wie die Traviata, das gefällt euch bestimmt. Und ich würde euch mit den leckersten Sachen verwöhnen.«
Doch die Muskeltiere schüttelten entschieden den Kopf.
schrieb Bertram und deutete mit seinem Degen in Richtung Höhle.
»Ich weiß schon«, sagte Claus ein wenig enttäuscht. »Trotzdem, irgendwann müsst ihr mich mal besuchen.«
»Claus«, rief seine Tante jetzt wieder. »Frau Fröhlich will den Laden schließen. Außerdem wartet unser Tisch schon.«
Claus erhob sich. »Wir gehen mit Frau Fröhlich und Margarethe essen«, flüsterte er. Er ging kurz in die Knie und strich den Muskeltieren über die Ohren. »Ich komm euch bald wieder besuchen.«
Dann sprang er die Treppe hinauf und kurz darauf wurde oben die Ladentür abgeschlossen. Jetzt war nur noch das regelmäßige Klopfen der Regentropfen an der Kellerfensterscheibe zu hören.
»So ein nettes Menschenkind«, seufzte Bertram.
»Allerdings«, sagte Pomme de Terre. Auch Gruyère und Picandou nickten zustimmend. Das war er wirklich!
Madame Roquefort kam aus der Höhle gehumpelt. Sie hatte Clausens Schritte auf der Treppe gehört, aber sicherheitshalber warf sie einen prüfenden Blick nach oben.
»Schaut mal«, rief sie und deutete aufgeregt hinauf. »Die Kellertür ist wieder offen. Da hatte der Besuch von eurem Menschenkind ja doch etwas Gutes. Wir sollten die Gelegenheit unbedingt nutzen!«
Die Muskeltiere folgten ihrem Blick. Tatsächlich, Claus hatte die Tür nur angelehnt.
Madame Roquefort lächelte hoffnungsvoll in die Runde. »Wie wäre es mit einer schönen kleinen Käsevorspeise?«, flötete sie und ihre Augen blitzten.
»Spitzenidee. Da bin ich dabei«, sagte Pomme de Terre.
»Ich auch«, rief Bertram überschwänglich, obwohl er keinen Käse mochte.
»Warum nicht?«, meinte Gruyère schulterzuckend.
Picandou zögerte als Einziger. Er war hin- und hergerissen. Einerseits mussten sie nach dem, was geschehen war, sehr vorsichtig sein, andererseits hatte er nun endlich die Gelegenheit, Madame Roquefort seine wunderbare Käsetheke zu zeigen.
Er stellte sich vor, wie sie Pfote in Pfote an all den herrlichen Käsesorten vorbeispazierten, den köstlichen Käseduft einatmeten und Madame Roquefort bewundernd und tief beeindruckt seinen Worten lauschte.
Der Gedanke gefiel Picandou so sehr, dass er seine Zweifel beiseiteschob. Margarethe und Frau Fröhlich würden heute Abend bestimmt nicht so schnell zurückkehren und wer wusste schon, ob die Tür am nächsten Tag noch offen stehen würde …
Jetzt erst bemerkte er, dass die anderen schwiegen und sich acht Augenpaare erwartungsvoll auf ihn richteten.
»Ausgezeichnete Idee!«, rief er im Brustton der Überzeugung. Er wandte sich an seine drei Freunde: »Holt doch schon mal ein paar schöne Leckereien aus dem Müllsack, während wir zwei«, er warf Madame Roquefort einen verheißungsvollen Blick zu, »uns um den Käse kümmern.«
Gruyère war sein Blick nicht entgangen und ihr gefiel der Vorschlag überhaupt nicht.
»Wie wäre es, wenn ich mit Madame Roquefort hinaufgehe?«, fragte sie.
»Nein«, widersprach Picandou entschieden. »Du weißt, den Käse muss man mit allergrößter Vorsicht abnagen, damit man keine Spuren hinterlässt, und darin bin ich nun mal Experte.«
Gruyère ließ nicht locker. »Dann geh ich mit dir«, sagte sie. »Letztes Mal, als wir zusammen Käse geholt haben, hast du mich sehr für meine Vorsicht gelobt.«
Picandou wurde ungehalten. »Aber sie ist unser Gast und sie war noch nie …«
Madame Roquefort legte eine Pfote auf seine Schulter. »Gruyères Vorschlag ist doch sehr schön«, unterbrach sie ihn mit einem sanften Lächeln. »Wir versprechen auch, ganz, ganz vorsichtig zu sein. Und du schaust später noch mal nach, ob wir alles richtig gemacht haben, okay?« Sie zwinkerte ihm zu. »Bitte, bitte.«
Picandou versank wieder in ihren schönen Laternenaugen und nickte willenlos. Er konnte ihr einfach nichts abschlagen.
Gruyère und Madame Roquefort kletterten die Treppe hinauf und spähten vorsichtig durch den Türspalt in den Laden. Das Straßenlicht schimmerte matt durch die Scheiben, erleuchtete hier und da die Bodenfliesen und spiegelte sich im Glas der Käsevitrine. Unter den Regalen und neben der Käsetruhe, wo das Licht nicht hinreichte, lagen tiefschwarze Schatten.
»Ich sehe leider nicht besonders gut im Dunkeln«, sagte Madame Roquefort leise. »Und du?«
»Geht so«, murmelte Gruyère kurz angebunden. Sie wandte sich zur Tür, um zu schauen, ob Picandou ihnen nicht doch gefolgt war. Er war nirgends zu sehen. Gruyère atmete tief durch. Ihr Herz klopfte etwas schneller als sonst, aber sie nahm all ihren Mut zusammen. Auf diesen Moment, wo sie mit Madame Roquefort endlich allein war, hatte sie gewartet. »Hör zu«, sagte sie und blickte die kleine braune Maus entschlossen an. »Ich will, dass du meinen Picandou in Ruhe lässt. Er gehört nämlich zu mir.«
Madame Roquefort starrte sie an und für einen Moment schien es ihr die Sprache verschlagen zu haben. »Was?!«, rief sie, als sie sich wieder gefangen hatte. »Deinen Picandou? Du und er?!« Jetzt kicherte sie. »Eine Maus und eine Ratte? Das ist nicht dein Ernst! Ich meine … das ist doch etwas merkwürdig, findest du nicht?«
Gruyère fing innerlich an zu schäumen. So hatte sie sich das Gespräch eigentlich nicht vorgestellt. Madame Roqueforts Glucksen wurde immer lauter und schließlich musste sie sich vor Lachen den Bauch halten. »Ich meine, dass ihr euch überhaupt ineinander verliebt habt …«, japste sie und brach erneut in Gelächter aus.
Gruyère war kurz davor zu platzen. »Haben wir aber«, zischte sie. »Deswegen – lass ihn in Ruhe!«
»Meine Güte.« Madame Roquefort verdrehte die Augen. »Dein Picandou interessiert mich nicht die Bohne. Was denkst denn du?«
Gruyère glaubte ihr kein Wort. »Das sieht aber ganz anders aus.«
»Ach was.« Madame Roquefort machte eine wegwerfende Pfötchenbewegung. »Glaub mir, da habe ich ganz andere Verehrer.«
»Wirklich?«
»Wirklich!« Madame Roquefort sah ihr dabei so fest in die Augen, dass Gruyère sich fragte, ob sie sich die verliebten Blicke zwischen Picandou und der kleinen braunen Maus nur eingebildet hatte. Nannte sie nicht Bertram und Pomme de Terre auch »Schnuckeltierchen« und »Mausi«? Trotzdem nagte immer noch ein leiser Zweifel an ihr. Sagte Madame Roquefort auch wirklich die Wahrheit?
Die kleine Maus schien ihre Gedanken zu lesen. Sie rückte etwas näher heran und flüsterte Gruyère ins Ohr: »Ich verrate dir ein Geheimnis, von dem niemand sonst etwas weiß: Ich habe einen Verlobten. Was soll ich da mit deinem Picandou?«
Sie warf Gruyère ein aufmunterndes Lächeln zu, nahm ihre Pfote und drückte sie sanft. »Komm«, flüsterte sie. »Der Käse wartet. Jetzt zeigen wir deinem Picandou, dass wir die besten Käseklauer in ganz Hamburg sind, einverstanden?«
Als Gruyère immer noch zögerte, knuffte Madame Roquefort sie in die Seite und kicherte: »Glaub mir, dein kleines Dickerchen kannst du echt gern behalten.«
Gruyère gab sich einen Ruck und trippelte der Maus hinterher, die schon zur Käsetheke gehumpelt war. Gruyère zeigte auf eine Kiste.
»Da müssen wir zuerst hoch«, erklärte sie. »Und von dort kann man die Regalsprossen ganz leicht hinaufklettern.« Sie deutete auf die Sprossen, die die Regalbretter hinter der Theke hielten.
»Gut«, sagte Madame Roquefort. »Hilfst du mir bitte hoch? Mein Bein ist immer noch nicht in Ordnung«, fügte sie entschuldigend hinzu.
Gruyère hob sie hoch und die Maus schaffte es, sich am Rand der Kiste festzukrallen. Sie kletterte hinauf, hüpfte von dort aufs unterste Regalbrett und begann, die Sprossen hinaufzuklettern.
»Hey«, rief Gruyère. »Du musst mir aber auch helfen!«
Doch die Maus war plötzlich zwischen den Regalbrettern in der Dunkelheit verschwunden und antwortete nicht. Hatte sie Gruyère etwa nicht gehört? Oder war sie so scharf auf den Käse, dass sie an nichts anderes dachte?
»Madame Roquefort!«, rief Gruyère jetzt etwas lauter. Es kam keine Antwort. Gruyère spähte hinauf zur Käsetheke, auch dort rührte sich nichts. Ob ihr da oben etwas passiert war? Klemmte sie vielleicht zwischen der Kühltruhe und einem Regalbrett fest?
Gruyère rief abermals nach ihr, und als sie wieder keine Antwort bekam, wurde ihr doch etwas mulmig und sie beschloss nachzuschauen. Sie brauchte ein paar Anläufe, bis sie es mit einem Sprung schaffte, sich am Rand der Kiste festzukrallen, und kletterte von dort die Regalsprossen hinauf zum zweiten Regalfach. Dort hinein war Madame Roquefort verschwunden.
Es war stockdunkel hier, denn die Käsetheke stand direkt vor dem Regal. Gruyère wollte sich gerade durch die Dunkelheit tasten, als sie ein leises Geräusch hörte. Sie hielt inne und lauschte.
»Madame Roquefort?«, rief sie.
»Hier … ich bin hier«, stöhnte Madame Roquefort leise. »Komm bitte … hilf mir …«
Gruyère tastete sich vorsichtig in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Und dann trat sie auf etwas, das auf dem Boden lag. Es schnellte hoch und traf sie an der Stirn. Gruyère erschrak, verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Ding nach vorne. Sie hörte ein scharfes Ratsch! Gleichzeitig durchfuhr sie ein stechender Schmerz und dann wurde ihr schwarz vor Augen.