Es riecht nach Gefahr
Picandou schob das Sieb über dem Abfluss neben der Regenrinne vorsichtig und mit einem leisen Klirren zur Seite. Wie jeden Abend schweifte sein Blick über den Innenhof, den die mondlose Nacht in tiefe Schatten tauchte. Als er sah, dass die Luft rein war, quetschte er sich mit einem schweren Ächzer aus dem Rohr und schnupperte die kühle Nachtluft. Es roch nach feuchter Erde und bitter-würzig nach den Geranien, die im Blumentopf neben dem Abflussrohr wuchsen. Dazu mischte sich ein zarter Hauch Eiersalat, etwas Krabbencocktail, Camembert und der betörende Duft von Krustenbrot, gepaart mit Blaubeer-Marzipankuchen und Zitronenbaiser. Picandou lief das Wasser im Mund zusammen. Der herrliche Geruch kam aus dem Müllsack, der an der Wand neben der Toreinfahrt lehnte. Frau Fröhlich hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Picandou seufzte in wohliger Erwartung.
Inzwischen war auch Mäuserich Pomme de Terre aus dem Abfluss geklettert, dicht gefolgt von der hübschen Rattendame Gruyère. Hamster Bertram von Backenbart steckte als Letzter seine Schnauze mit dem elegant gezwirbelten Schnurrbart aus der Öffnung. Er stöhnte und schimpfte, während er versuchte, sich aus dem Rohr zu schrauben, aber es half nichts – er steckte fest. Gruyère und Pomme de Terre packten ihn unter den flauschigen Ärmchen und zogen nach Leibeskräften.
»Hau ruck!«, riefen sie dabei, und endlich schoss Bertram wie ein Korken aus dem Abfluss. Mit einem Plumps landete er auf dem Bauch, schüttelte sich und erhob sich möglichst würdevoll.
»Wenn ich noch ein Milligramm zunehme, passe ich da nicht mehr durch«, lispelte er betrübt.
»Jetzt nöl ma nich’ rum. Dann bleibt eben mehr für uns übrig«, antwortete Pomme de Terre und pikste ihn sanft in den Bauch. »Diät is’ angesagt – da mussu durch.«
Bertram zupfte beleidigt seinen zerknitterten Schnurrbart zurecht und seufzte.
Gruyère war inzwischen zu Picandou hinübergetrippelt. Der Mäuserich nahm zärtlich ihre Pfote. »Du siehst heute wieder hinreißend aus«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Spätestens bei ihrem zweiten großen Abenteuer hatte er sich bis über beide Mäuseohren in die weiße Rattendame verguckt. Er war furchtbar eifersüchtig gewesen, als ein gewisser Ratterich ihr den Hof gemacht hatte. Zu seinem Glück aber hatte Gruyère sich für ihn entschieden. Sie gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Du auch«, sagte sie.
»Na, kommt schon, ihr zwei Turteltäubchen«, rief Pomme de Terre. »Sonst wird das Essen noch kalt.« Er war bereits auf dem Weg zum Müllsack.
Plötzlich blieb er stehen. Seine Nasenspitze bebte. »Riecht ihr das?«, rief er.
Die anderen reckten die Köpfe und schnupperten.
Gruyère nickte als Erste. »Was ist das?«, fragte sie verunsichert.
Der Geruch war scharf und stechend zugleich. Vor allem aber roch er nach Gefahr!
»Das kann doch nicht sein«, murmelte Picandou, »aber irgendwie riecht es nach … nach …«
»… nach Feuer«, beendete Pomme de Terre den Satz. Er sah sich besorgt um. »Es scheint irgendwo ganz in der Nähe zu sein.«
»In der Nähe?!« Gruyère sah ihn erschrocken an. »Doch nicht etwa in Frau Fröhlichs Laden?«
Frau Fröhlich besaß das Feinkostgeschäft, unter dem die Muskeltiere wohnten. Genau genommen lebten sie in einer gemütlichen Höhle unter der Kellertreppe, die direkt in den Laden führte.
»Aber das hätten wir doch im Keller gerochen, oder?«, fragte Picandou. Er versuchte, seine Beunruhigung zu verbergen.
»Ich schlage vor, wir gehen der Sache ohne Umschweife auf den Grund«, rief Bertram und zückte seinen Degen. Dann trippelte er schnurstracks in Richtung Toreinfahrt. Seinen Hunger und den Müllsack hatte er augenblicklich vergessen.
»Warte!«, rief Picandou. »Wir sollten nichts überstürzen.«
Doch der Hamster war bereits durch die Einfahrt verschwunden und die anderen mussten ihm wohl oder übel folgen.
So unauffällig wie möglich lugten sie um die Ecke. Die Straße und die Bürgersteige lagen verlassen im Schein der Laternen.
»Hier scheint immahin alles in Ordnung …«, begann Pomme de Terre. Doch der Rest seiner Worte wurde von einem lauten Geheul verschluckt. Es ging den Muskeltieren durch Mark und Bein.
Sie rannten zurück in die Toreinfahrt und drückten sich ängstlich in die Schatten an der Hauswand.
Das Heulen kam immer näher, wurde lauter und unerträglicher. Die Muskeltiere hielten sich verzweifelt die Ohren zu. Ein blaues, blinkendes Licht zuckte über die Pflastersteine, und fast gleichzeitig raste ein großes, rotes Auto an ihnen vorbei. Es hielt mit quietschenden Bremsen wenige Häuser entfernt.
Plötzlich verstummten die Sirenen, nur das blaue Licht zuckte weiter über die gegenüberliegenden Hauswände. Vorsichtig spähten die Muskeltiere aus der Einfahrt. Sie sahen, wie Männer mit Helmen und dunklen Schutzanzügen aus dem Auto sprangen und einen großen Schlauch vom Wagen zogen.
Pomme de Terre pfiff durch die Zähne. »Mann inne Tünn! Das is’ die Feuerwehr!«, näselte er. »Das bedeutet, dahinten muss ’n Feuer sein!«
Ein erneutes Heulen ließ die Muskeltiere wieder zusammenfahren. Ein zweites rotes Auto raste dicht an ihnen vorbei und hielt neben dem ersten.
»Das scheint eine größere Sache zu sein«, flüsterte Gruyère und drückte sich an Picandou.
»Vielleicht ist da jemand in Gefahr!«, lispelte Bertram. »Wir sollten unbedingt nachschauen, ob unsere Hilfe vonnöten ist.«
Und bevor ihn jemand stoppen konnte, sauste er schon auf die roten Feuerwehrautos zu.
»Bleib hier!«, rief Picandou. »Das ist zu gefährlich!«
Aber Bertram hörte nicht auf ihn.
Picandou war außer sich. Dieser Hamster machte ihn noch wahnsinnig. Er musste allem, was im Entferntesten nach Gefahr und Abenteuer aussah, hinterherlaufen.
»Der war die letzten Monate nich’ mehr richtig ausgelastet«, murmelte Pomme de Terre. »Da liegt der Wurm begraben.«
»Aber vielleicht ist ja wirklich jemand in Gefahr!«, antwortete Gruyère. »Jedenfalls sollten wir ihn nicht allein lassen.« Sie ergriff Picandous Pfote. »Komm, sonst verlieren wir ihn noch aus den Augen.«
Picandou seufzte. Er hatte sich schon so auf den Müllsack gefreut. »Bertram vermasselt uns noch den ganzen Abend«, knurrte er.
»Wir sind doch gleich wieder zurück«, sagte Gruyère tröstend, und dann lief sie Pomme de Terre, der schon losgerannt war und den Hamster fast eingeholt hatte, hinterher. Sie wollte die beiden auf keinen Fall aus den Augen verlieren.
Unwillig und als Letzter folgte der schwer atmende Picandou. Ein bisschen Diät würde mir auch nicht schaden, dachte er bei sich. Aber nicht sofort und ganz bestimmt nicht heute Abend.