In der Falle
Als Gruyère zu sich kam, herrschte um sie herum immer noch stockdunkle Nacht. Außerdem war es heiß und sehr stickig und es roch nach Käse. Hatte sie gerade Pomme de Terres Stimme gehört? Oder hatte sie das nur geträumt? Sie konnte sich nicht bewegen und ihr rechter Arm und ihr rechtes Bein schmerzten entsetzlich. Etwas lag auf ihr und nahm ihr fast die Luft. Sie streckte den linken Fuß aus und trat dagegen. Das Ding federte nach oben und landete wieder auf ihrer Nase. Immer wieder stieß sie dagegen, aber jedes Mal flog es an einer Seite hoch und senkte sich wieder auf sie herab. Dabei wehte ihr ein Hauch Camembert entgegen. Die frische Luft, die ihr mit jedem Stoß entgegenkam, tat gut. Gruyère nahm einen tiefen Atemzug. Sie war schon einmal unter einer Vase gefangen gewesen und deswegen wusste sie sehr wohl, dass sie nicht ersticken durfte. Mit aller Kraft stieß sie erneut gegen das Ding und diesmal gelang es ihr, es ein Stückchen zur Seite zu schieben. Endlich bekam sie etwas mehr Luft, doch die Anstrengung hatte sie so erschöpft, dass sie den Kopf wieder sinken ließ und sofort einschlief.
Als Gruyère das nächste Mal aufwachte, sickerte etwas Tageslicht hinter die Käsetruhe. Die Ladenglocke hatte sie geweckt, und nun hörte sie, wie Frau Fröhlich eine Kundin begrüßte. Gruyère spürte ihren schmerzenden Arm, auch ihr Fuß tat furchtbar weh und war inzwischen fast taub. Vorsichtig hob sie den Kopf, und als sie erkannte, wo sie war, stockte ihr fast der Atem: Sie befand sich in einer Mausefalle! Ihr Arm und ihr Füßchen waren unter einem Metalldraht eingeklemmt. Direkt daneben klemmten mehrere Stückchen hellbraunes Holz. Gruyère schnappte erschrocken nach Luft. Ohne diese Holzstückchen hätte die Falle ihren Arm und ihr Bein abgetrennt. Ein runder Pappdeckel steckte ebenfalls unter dem Draht fest. Das war also das Ding, das sie in der Nacht fast erstickt hatte! Er roch eindeutig nach Camembert und gehörte zu einer kaputten Käseschachtel.
Gruyère musste in der Dunkelheit über die leere Schachtel gestolpert sein, dadurch hatte sie das Gleichgewicht verloren und war in der Falle gelandet.
Schritte kamen jetzt direkt auf sie zu und jemand blieb ganz in ihrer Nähe stehen. Gruyère hielt die Luft an. Sie hörte das scharfe, wiederholte Klacken eines Messers auf Holz. Dann begriff sie: Frau Fröhlich schnitt gerade ein Stück Käse aus der Käsetheke ab. Die humpelnden Schritte der alten Dame entfernten sich wieder und kurz darauf vernahm Gruyère das Klirren der Kasse. Die Kundin und Frau Fröhlich verabschiedeten sich, die Ladenglocke bimmelte und dann wurde es wieder still.
Vorsichtig bewegte Gruyère ihre eingeklemmten Pfoten. Ein Glück – es schien zumindest nichts gebrochen zu sein. Sie versuchte sich an die letzte Nacht zu erinnern, und dann fiel ihr wieder ein, wie Madame Roquefort um Hilfe gerufen hatte. Gruyère war ihrem Ruf gefolgt und dabei direkt in die Falle getappt. Wo war die Mäusedame überhaupt? Gab es hier irgendwo noch eine zweite Falle? Mit dem freien Bein schob Gruyère das Pappdach ein Stück hoch und sah sich suchend um. Einzelne leere Käseschachteln lagen auf dem staubigen Regalbrett verstreut, aber eine weitere Mausefalle konnte sie nirgends entdecken. Gruyère reckte den Kopf noch ein bisschen höher und schaute zum Ende des Regals. Hinter den Sprossen erkannte sie die Kellertür. Sie erschrak – die Tür war geschlossen! Das bedeutete, die Freunde würden ihr nicht zur Hilfe kommen können. Sie würde in der Falle elendig zugrunde gehen! Gruyère spürte, wie Tränen der Verzweiflung in ihr hochstiegen. Was sollte sie bloß tun?
Nach dem Abendessen kletterten die Muskeltiere noch einmal durch das Abflussrohr und durchkämmten ein letztes Mal die Umgebung auf der Suche nach Gruyère – umsonst. Es dämmerte schon, als sie entmutigt zurückkehrten. Pomme de Terre, der als Letzter durch den Abfluss kroch, schob das Sieb ganz beiseite, damit Gruyère, sollte sie verletzt sein, leichter in das Rohr hineinkriechen konnte. Mehr konnte er im Moment nicht tun. Die anderen lagen bereits in ihren Betten, als er die Höhle betrat, und er ließ sich erschöpft in seine Sardinendose fallen.
Picandou hatte sein Bett direkt neben dem Schwamm aufgestellt, auf dem Madame Roquefort lag. Sie drückte ihm die Pfote und flüsterte: »Keine Sorge, es wird alles wieder gut. Wart’s ab, morgen steht sie wieder vor der Tür. Wahrscheinlich braucht sie nur ein bisschen Zeit, um sich an alles zu gewöhnen.«
Als die anderen beiden nicht hinschauten, gab sie ihm ein Küsschen auf die Nasenspitze.
Picandou versank wieder in ihren Augen wie in einem tiefen See und seufzte. Ja, Gruyère hatte allen Grund zur Eifersucht, aber sie würde bestimmt bald zur Vernunft kommen. Was erwartete sie eigentlich? Eine Liebe zwischen einer Ratte und einer Maus hatte doch überhaupt keine Zukunft! Das hatte er, Picandou, inzwischen begriffen. Eine Maus gehörte einfach zu einer Maus, das wusste doch jedes Kind. Der Hunger und das ungemütliche Wetter würden Gruyère schon zurück nach Hause treiben, dachte er, und mit diesem Gedanken schlief er beruhigt ein.
Als er am nächsten Abend erwachte, war ihr Käseschachtel-Bett immer noch leer. Picandou war nun doch ziemlich beunruhigt, aber das wollte er vor Madame Roquefort nicht zugeben.
Bertram schaute sorgenvoll in die Runde: »Meine Herren, wir dürfen unsere Freundin nicht im Stich lassen. Wir sollten auch heute weitersuchen«, lispelte er.
»Ach, sie wird schon wiederkommen«, winkte Madame Roquefort ab, die sich auf dem Schwammbett räkelte.
Picandou fegte sorgfältig die Krümelchen um sie herum zusammen und schwieg.
Bertram und Pomme de Terre wechselten einen Blick.
»Wieso bist du dir da so sicher?«, fragte Bertram.
Madame Roquefort zuckte mit den Schultern. »Bin ich mir eben.«
»Mir scheint, dass es dir ziemlich egal ist, ob sie zurückkommt oder nicht«, fuhr Pomme de Terre sie an.
»Quatsch!«, rief Madame Roquefort entrüstet. »Wie kannst du so etwas nur sagen?!« Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Hör auf, sie fertigzumachen.« Picandou legte schützend seinen Arm um Madame Roqueforts Schultern. »Das ist echt gemein!«
»Echt gemein? So, so«, lispelte Bertram. »Ich will dir mal sagen, was echt gemein ist: dass sie sich herzlich wenig Sorgen um Gruyère macht, obwohl ihr wer weiß was passiert sein könnte.«
»Ihr habt überhaupt keine Ahnung, worüber ich mir Sorgen mache«, schniefte Madame Roquefort. »Nämlich um euch. Vor allem nach dem, was sie so über euch gesagt hat …«
»Was hat sie denn gesagt?«, fragte Bertram.
Madame Roquefort zögerte einen Moment. »Es ist besser, wenn ich es euch nicht erzähle.«
»Spuck’s schon aus!«, sagte Pomme de Terre. Die anderen beiden nickten bestätigend.
Madame Roquefort blickte von einem zum anderen. »Na gut, ihr habt’s so gewollt«, sagte sie. »Ich glaube, sie hat keinen von euch wirklich gemocht.« Sie deutete auf den Hamster. »Dich hat sie ein Großmaul genannt und einen Kohlrabifurzer. Und dich«, sie deutete auf Pomme de Terre, »von dir hat sie gesagt, du hättest die Manieren einer Gossenmaus, und Picandou hat sie einen Fettwanst genannt.«
»Das hat sie getan?«, fragte Picandou erschüttert. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Hat sie aber. Ehrenwort«, schniefte die kleine Maus und nahm seine Pfote. »Leider. Ich wollte es euch eigentlich nicht sagen, aber … ihr habt ja darauf bestanden.«
Die Muskeltiere schwiegen und jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach. Hatte Gruyère wirklich so gehässige Sachen gesagt?
Weder Bertram noch Pomme de Terre konnten das so richtig glauben. Ihnen schien es eher so, als wäre Gruyère traurig gewesen. Und dass sie sauer auf Picandou war, konnten die beiden gut verstehen. Sie hatten sehr wohl bemerkt, wie Madame Roquefort und Picandou am Abend zuvor Pfötchen gehalten hatten.
Und sie beobachteten mit wachsender Sorge, wie der dicke Mäuserich ganz atemlos durch die Höhle hechtete, um der kleinen braunen Maus jeden Wunsch zu erfüllen – und Wünsche hatte Madame ja mindestens so viele, wie es Löcher im Käse gab.
»Schnuffelschnäuzchen«, sagte sie zu Picandou, »bindest du mir meine Schleife?«, oder: »Massier mir die Füße!«, und: »Kann ich bitte das große Stück Marzipanküchlein haben?«
Doch anstatt dass Picandou von den vielen Wünschen irgendwann genervt war, passierte genau das Gegenteil. Ja, er wirkte sogar richtig glücklich.
Pomme de Terre und Bertram waren sich einig: Es gefiel ihnen ganz und gar nicht, wie sich die Dinge entwickelten. Und es sollte noch schlimmer kommen …
Als sich Bertram und Pomme de Terre an diesem Abend wie üblich zum Müllsack aufmachen wollten, hielt Picandou die beiden zurück und flüsterte: »Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich heute Abend gern allein mit Madame Roquefort speisen. Ihr kommt dann einfach etwas später nach. Das macht euch doch nichts aus, oder?«
Pomme de Terre und Bertram starrten ihn verdutzt an.
Pomme de Terre hob eine Augenbraue. »Das sind ja ganz neue Sitten, Jongchen. Als Nächstes ordnest du noch an, dass wir solange die Höhle schrubben und dein Bettchen polieren sollen.«
Picandou lächelte verlegen. »Äh … eigentlich keine so schlechte Idee«, sagte er, aber niemand lachte über seinen Scherz.
»War nicht ernst gemeint«, fügte er hastig hinzu. »Hört zu Jungs, das heute ist echt eine Ausnahme, eine kleine Gefälligkeit unter Kumpels. Und keine Sorge – wir lassen euch genug übrig …« Er sah sie flehend an.
Pomme de Terre rollte die Augen. »Naaaa gut«, sagte er gedehnt.
»Und wann genau dürften wir dann dinieren?«, fragte Bertram spitz.
Picandou winkte ab. »Ach, wir sind ganz schnell wieder zurück«, rief er auf dem Weg zum Waschbecken über seine Schulter. »Ihr könnt ja schon mal überlegen, wie wir uns danach einen netten Abend machen.«
»Dreimal darfst du raten«, murmelte Pomme de Terre spöttisch. »So eine treulose Tomate«, sagte er zu Bertram.
»Ein echter Muskeltier ist er jedenfalls nicht mehr«, knurrte der Hamster. »Kein Fünkchen Ehrgefühl.«
»Sieht ganz so aus«, schnaubte Pomme de Terre. Er beobachtete, wie Picandou etwas schwerfällig zum Waschbecken hochkletterte, wo Madame Roquefort schon auf ihn wartete. »He, Digger!«, rief er ihm nach. »Wenn dir deine Freunde so piepegal sind, wollen wir uns ganz bestimmt nicht aufdrängen!«
Doch Picandou, der sich gerade hinter Madame Roquefort durchs Abflussrohr quetschte, hörte ihn nicht mehr.