Kapitel 15

Zur Dicken Seejungfrau

Pomme de Terre hatte sich vorsichtig durch den Türspalt geschoben und sah sich um. Er stand in einem kleinen fensterlosen Raum. Hier stapelten sich Kisten mit leeren Flaschen, die von Spinnweben überzogen waren. Dahinter führte eine Tür in den Gastraum. Pomme de Terre trippelte auf die Tür zu, blieb einen Moment dort stehen und sog genüsslich den vertrauten Duft von Erdnusskernen und abgestandenem Bier ein. Herrlich! Nichts hatte sich verändert. Tische und Stühle standen noch immer an ihren gewohnten Plätzen und vor den Butzenscheiben hingen Blümchengardinen. Pomme de Terre spazierte zwischen den Tischen umher und fand sogar noch einige Erdnüsse und Salzstangenkrümel. Zugegeben, die Erdnüsse waren schon etwas muffig und die Salzstangenkrümel ziemlich hart, aber sie schmeckten nach zu Hause. Der Mäuserich seufzte wohlig. Der vertraute Geschmack ließ Erinnerungen an sein Leben in der Dicken Seejungfrau hochsteigen. Es war nie langweilig geworden, denn hier war immer etwas los. Er hatte spannende Fußballspiele im Fernsehen und die eine oder andere Schlägerei miterlebt. Aber am liebsten hatte er abends in seinem Nest gelegen und den Seemannsliedern gelauscht, die die Gäste grölten. Selbst wenn Klemke den Laden jetzt verkaufte, würden sich bestimmt auch die anderen zwei Muskeltiere hier wohlfühlen. Kneipe blieb schließlich Kneipe.

»Ha! Das is’ überhaupt ’ne Spitzenidee«, murmelte Pomme de Terre bei sich. Er beschloss, sofort zurückzugehen, um den beiden von seinem Einfall zu erzählen. Schnell las er noch zwei Salzstangenkrümel auf und wollte gerade in Richtung Ausgang trippeln, da klapperte ein Schlüssel im Schloss und gleich darauf betraten drei Männer den Raum.

Pomme de Terre witschte blitzschnell hinter die Theke. Einen der drei erkannte er sofort: Es war Herr Klemke. Er hatte sich kein bisschen verändert, trug immer noch einen eindrucksvollen Bierbauch vor sich her und strich sich, wie immer, wenn er nervös war, mit der Hand über die glänzende Glatze. Herr Klemke führte zwei gut gekleidete Herren durch den Raum. Pomme de Terre hörte, wie er den beiden erklärte, wie toll das Geschäft in der Dicken Seejungfrau lief. Der Mäuserich wusste natürlich, dass das geflunkert war. Schon damals hatte Pomme de Terre sehr wohl mitbekommen, dass immer weniger Gäste kamen.

Plötzlich blieb Klemke dicht vor ihm stehen und lehnte sich gegen den Tresen. Pomme de Terres Herz klopfte wild in seiner Brust und er duckte sich noch etwas tiefer. Wenn Klemke ihn entdeckte, war er geliefert. Der hatte schon damals nicht davor zurückgeschreckt, den Kammerjäger auf ihn anzusetzen, und Pomme de Terre war nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen. Hastig sah er sich nach einem Versteck um – aber es gab keines. Was jetzt? Er drückte sich an die Wand der Theke und wagte es kaum, zu atmen. Er musste so schnell wie möglich hier raus. Auf Krallenspitzen schlich er am Tresen entlang bis zur nächsten Ecke. Gegenüber lag die Tür, die in den kleinen Raum und zu seinem Geheimgang führte. Ob er mit einem schnellen Sprint den Weg in die Freiheit wagen sollte?

Zu spät! Noch während er überlegte, näherten sich wieder die Schritte der Männer. Sie blieben direkt neben ihm stehen. Pomme de Terre hätte sich in den Allerwertesten beißen können. Er hatte den Moment verpasst. Nun musste er abwarten, bis sie die Gaststätte verließen. Von seinem Versteck aus sah er, wie Klemke auf die Tür des kleinen Raumes zusteuerte. »Schauen Sie mal«, rief er eifrig. »Hier ist jede Menge Stauraum. Nicht nur für Getränke!« Er ging hinein und schob einen Turm leere Bierkisten zur Seite. »Ungeahnte Möglichkeiten!«

Die Männer beobachteten ihn und nickten höflich, das Argument schien sie nicht zu überzeugen. Klemke versuchte seine Enttäuschung zu verbergen. Kurz darauf verließen die drei das Haus und Klemkes Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Dann war es still.

Pomme de Terre lief hinüber in den kleinen Raum, dann blieb er wie angewurzelt stehen und starrte entsetzt auf den Bierkistenturm. Er stand jetzt direkt vor der Tür. Pomme de Terre versuchte sich an den Kisten vorbeizuquetschen. Keine Chance. Klemke hatte ihm, ohne es zu wissen, den Weg in die Freiheit abgeschnitten. Wie sollte er hier jetzt herauskommen?

»Ruhig Blut«, murmelte er leise zu sich. »Ganz ruhig Blut und den Gripskasten einschalten.«

Er sah sich suchend um, dabei fiel sein Blick auf die Butzenfenster. Vielleicht war ja eines davon zerbrochen! Er sprang auf einen Stuhl, kletterte von dort aus auf einen Tisch und dann hangelte er sich an einer Blümchengardine hinauf, um einen besseren Überblick zu bekommen. Nein, die Scheiben hatten nicht das winzigste Loch, stellte er enttäuscht fest. Auf den Fenstersimsen lagen tote Fliegen, die vergeblich versucht hatten, nach draußen zu gelangen. Ob ihm dasselbe Schicksal blühte?, überlegte Pomme de Terre. Nein, so schnell würde er nicht aufgeben! Er musste unbedingt eine Lösung finden. Er trippelte hinüber zur Küche und dann zu den Toiletten und suchte jeden Winkel ab. Aber nirgends führte ein Weg nach draußen. Schließlich stand er wieder vor der Eingangstür. Doch auch hier gab es weder eine angeschabte Ecke noch das winzigste Löchlein.

Pomme de Terre zupfte ratlos seine Schnurrhaare. Er hatte in seinem Mäuseleben schon oft in der Klemme gesteckt, aber diesmal wusste er wirklich nicht weiter. Er wünschte sich, er hätte auf den kleinen Abstecher in sein altes Zuhause verzichtet.

Wer wusste schon, wann Klemke mit den nächsten Käufern anrückte, denen er die Dicke Seejungfrau andrehen konnte. Höchstwahrscheinlich würde sich das mit dem Verkauf noch hinziehen. Die Anzugträger hatten nicht besonders begeistert gewirkt. Jedenfalls würde Pomme de Terre sofort nach draußen witschen, sobald Klemke die Haustür aufsperrte. Und hoffentlich war er bis dahin nicht verhungert oder verdurstet oder sogar beides.

Es ist wohl doch keine so gute Idee gewesen, mit den Muskeltieren hierherzuziehen, dachte Pomme de Terre entmutigt und ließ sich neben die Treppe sinken. Sie lag gegenüber der Haustür und führte bis hinauf zum Dachboden. Hinter der untersten Stufe befand sich ein kleiner Hohlraum. Dort konnte er sich verstecken und warten, bis die Haustür wieder aufging. Pomme de Terre krabbelte in den Hohlraum und lehnte sich gegen die Holzwand. Er war auf einmal schrecklich müde. Die Nacht und der Tag waren lang gewesen und er hatte seit einer gefühlten Ewigkeit kein Auge mehr zugetan. Er dachte an Gruyère und Bertram, die auf ihn warteten, und noch während er an sie dachte, war er schon eingeschlafen. Er schlief tief und fest. Und irgendwann träumte er vom Wasser, das ihn durch das dunkle Rohr trug, vom Gitter, das immer näher kam, und plötzlich hatte er Flügel. Er flog damit durch Klemkes Gaststätte und knallte, genau wie die Fliegen, immer wieder gegen die Fensterscheibe. Und dann merkte er, dass er nicht mehr träumte. Er hörte tatsächlich ein Knallen, aber es kam nicht von den Fenstern.