Madame Roquefort
Als sie die Höhle betraten, streckte Pomme de Terre gerade die Pfoten aus seiner Sardinendose und gähnte ausgiebig.
»Moin, moin«, murmelte er. »Irgendwas hat mich geweckt. Habt ihr das auch gehört?«
Die kleine Maus sah ihn überrascht an. »Was denn?«, fragte sie unschuldig und schielte zu Gruyère und Bertram, die immer noch fest schliefen.
»Es klang wie ein Schrei«, sagte Pomme de Terre. »Ich glaube sogar – es klang wie Margarethe.«
Die Mäusedame schüttelte den Kopf. »Ich hab nichts gehört. Du etwa?« Sie schaute Picandou von der Seite an. Und obwohl der eigentlich nicht vorgehabt hatte zu flunkern, schüttelte auch er den Kopf.
»Du hast wahrscheinlich nur geträumt«, sagte die kleine Maus zu Pomme de Terre und strahlte ihn an. »Manchmal wirken Dinge im Traum ganz echt.«
»Das kann ich bestätigen«, tönte es aus dem Sahnebecher. »Ich träumte gerade von zarten jungen Salatblättern mit sonnengereiften Tomaten und knackigen Kohlrabistücken. Geschmacklich ein Traum … leider nur ein Traum.« Bertram räkelte sich, dabei rollte der Becher mit Bertram über den Boden und stieß gegen Gruyères Käseschachtel.
Die Rattendame blinzelte und setzte sich verschlafen auf. »Ihr seid schon alle wach?«, fragte sie.
»Allerdings«, seufzte Bertram und krabbelte aus dem Becher. »Das war eine ungemütliche Nacht. Ich habe kaum ein Auge …« Er brach ab, als er die kleine Maus erblickte. »Oh, guten Morgen, Madame«, rief er und machte sofort eine tiefe Verbeugung. »Haben Sie gut geruht, meine Verehrteste?«
»Sehr gut sogar«, sagte die kleine Maus. »Dank Ihnen. Aber wollen wir nicht alle einfach Du zueinander sagen?«
»Unbedingt«, rief Bertram erfreut und rieb sich die Pfoten. Er trat etwas näher an sie heran. »Übrigens, bei all der Aufregung gestern Nacht haben wir ganz vergessen uns vorzustellen. Ein unverzeihlicher Fehler.« Er verbeugte sich nochmals. »Gestatten, Bertram von Backenbart, Goldhamster aus edelstem Goldhamster-Geblüt, Muskeltier und …«
Picandou verdrehte die Augen. Musste sich der Hamster schon wieder in den Mittelpunkt stellen?
»Also, ich bin Picandou Camembert Saint Albray«, unterbrach er ihn.
»Was für ein feiner Name!« Die Mäusedame klatschte in die Pfoten. »Ich ahne auch, wo du ihn herhast.«
»Ähm, ja.« Picandou betrachtete verlegen seine Krallenspitzen. Die Sache mit seinen Namen war ihm ein wenig peinlich, seit Pomme de Terre sich bei ihrem Kennenlernen darüber lustig gemacht hatte. Schnell fuhr er fort: »Und das hier sind Pomme de Terre und Gruyère Reserve, die anderen Muskeltiere. Wir sind nämlich alle Muskeltiere – nicht nur der Hamster.« Er warf Bertram einen genervten Blick zu.
»So, so, Muskeltiere?« Die Maus legte den Kopf zur Seite und betrachtete die vier neugierig.
Bertram winkte ab. »Ich weiß, ich weiß«, rief er und zwinkerte ihr zu. »Von Muskeln keine Spur. Aber mit wem bitte schön haben wir die Ehre?«
»Ein Herr mit Manieren!« Die Maus schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Mein Name ist …« Sie zögerte kurz. »… Roquefort.«
»Etwa wie die Käsesorte?«, rief Picandou.
Die kleine Maus nickte.
Picandou konnte seine Begeisterung kaum verbergen. »Du bist also, genau wie ich, nach einem Käse benannt?! Noch dazu nach einem französischen?! Was für ein unglaublicher Zufall!«
Oder vielleicht doch kein Zufall, dachte er bei sich, sondern Schicksal – zwei Mäuse mit französischen Käsenamen! So oft gab es das bestimmt nicht auf der Welt.
Er lächelte die kleine Maus an. Sie lächelte zurück. Nur Gruyère, die das sehr wohl bemerkte, lächelte nicht.
»Wie charmant«, rief Bertram. »Darf man dann ›Madame Roquefort‹ zu Ihnen … ich meine, zu dir sagen?«
»So werde ich in der Tat genannt«, antwortete die Maus, neigte das Köpfchen und legte die Krallenspitzen aneinander. »Und jetzt, wo das erledigt ist – sollten wir zum angenehmen Teil des Abends übergehen: Ich habe nämlich einen gewaltigen Hunger.«
»Dem kann ich nur zustimmen, Madame«, sagte Bertram.
Picandou schob ihn beiseite. »Der Müllsack wartet!«, rief er und reichte Madame Roquefort seine Pfote.
Pomme de Terre nahm ihre andere Pfote. »Na denn man tau!«
»Es ist noch etwas zu früh«, sagte Gruyère und verschränkte die Arme vor der Brust. Das komische Ziehen in ihrem Magen war plötzlich wieder da. »Die Kirchenglocken haben noch nicht geschlagen.«
»Stimmt.« Picandou seufzte. Noch eine Begegnung mit Margarethe wäre mehr als eine Katastrophe, das wäre das endgültige Aus. Und darauf wollte er es auf keinen Fall ankommen lassen. Im Stillen hoffte er ja, dass Madame Roquefort recht behalten würde: Margarethe würde nichts unternehmen, weil sie im Nachhinein glaubte, sie hätte sich alles nur eingebildet. Aber damit das klappte, durfte sie nie wieder einer Maus begegnen. Ab jetzt galt also äußerste Vorsicht und die Käsetheke würden sie auf längere Zeit meiden müssen.
In der Ferne schlugen die Kirchturmglocken. Picandou zählte mit. »Sieben Mal«, sagte er.
Kurz darauf hörten sie oben die Schritte und Stimmen der beiden Frauen. Dann schlug die Ladentür zu, der Schlüssel wurde im Schloss umgedreht und dann war es still.
»Okay«, sagte Pomme de Terre, der schon ganz kribbelig war. »Ab in den Müllsack!«
Es wurde noch ein sehr netter Abend. Madame Roquefort hatte auf dem Weg zum Waschbecken einen Rückzieher gemacht und den Muskeltieren erklärt, dass sie wegen ihres kaputten Beinchens nicht durch das Abflussrohr krabbeln konnte. Sie bat daher um ein Picknick in der Höhle. Da es angefangen hatte zu regnen, hatte niemand etwas dagegen. Die Muskeltiere liefen so lange zwischen Müllsack und Keller hin und her, bis sie ein schönes Mahl zusammengestellt hatten, das sie neben Madame Roquefort auf dem Schwamm auftischten.
Gruyère fürchtete schon, wieder hungrig ins Bett gehen zu müssen, aber diesmal hielt sich Madame Roquefort beim Essen sehr zurück. Im Gegenteil, sie war sogar ausgesprochen aufmerksam Gruyère gegenüber und reichte ihr die schönsten Tortenstücke. Gruyère, die anfangs sehr schweigsam war, taute langsam auf, denn Madame Roquefort brachte alle mit ihren lustigen Geschichten aus dem Restaurant zum Lachen.
Signor Francesco hieß in Wirklichkeit Horst Schneider, erzählte sie, und kam nicht aus Neapel, sondern aus Nippes bei Köln. Aber für seine Gäste machte er immer einen italienischen Akzent nach und sang italienische Lieder. Nur wenn er allein war, trällerte er Ich bin ene kölsche Jung.
Die Muskeltiere wiederum erzählten von ihrem letzten großen Abenteuer: Sie hatten einem Menschenjungen namens Claus mit C geholfen, seinen echten Vater zu finden, und dabei sogar zwei Gauner zur Strecke gebracht.
Madame Roquefort lauschte mit tiefer Bewunderung und war voll des Lobes für die tapferen Freunde. So verging die Nacht wie im Flug, und schon bald dämmerte der Morgen vor dem Kellerfenster.
»Zeit für mein Sardinendöschen«, sagte Pomme de Terre und gähnte. Die Muskeltiere erhoben sich. Madame Roquefort aber hatte bereits die Äuglein geschlossen und schnarchte ganz sanft auf Bertrams Schwammbett. Auf Krallenspitzen räumten die anderen um sie herum auf.
Nur Bertram warf sehnsüchtige Blicke auf sein Schwammbett. Picandou bemerkte es und flüsterte ihm zu: »Weck sie jetzt nicht. Du weißt: Schlaf ist die beste Medizin.«
Seufzend quetschte Bertram sich wieder in den Sahnebecher. »Vielleicht kann ich ja morgen mein Bett wiederhaben«, lispelte er. »Sie passt viel besser in den Becher als ich. Außerdem riecht es da drin nach Sahne. Das gefällt ihr bestimmt.«
Doch auch in den nächsten Tagen und Nächten gab Madame Roquefort das Schwammbett nicht her und hatte immer einen guten Grund, warum sie dort liegen bleiben musste. Mal war ihr übel, mal hatte sie schlecht geträumt und musste sich noch ein wenig erholen und manchmal hatte sie einfach nur einen schlechten Tag. Selbst wenn sie wach war, erhob sie sich kaum, sondern bat die Muskeltiere um Hilfe oder darum, ihr eine klitzekleine Kleinigkeit aus dem Müllsack mitzubringen.
Picandou hatte sie zugeflüstert, der wahre Grund habe mit ihrem Geheimnis zu tun. Nach der überstürzten Flucht aus dem Laden habe sich ihr Beinchen wieder verschlimmert und deswegen müsse sie die ganze Zeit im Bett bleiben.
»So ein paar Krümelchen aus eurem Müllsack wären jetzt einfach zu schön«, raunte sie ihm zu. »Ich meine, natürlich nur, wenn es dir keine allzu große Mühe macht.«
»Überhaupt nicht!«, rief Picandou eifrig. Auf die Art und Weise konnte er ungestört etwas Zeit mit ihr allein verbringen.
»Bin gleich wieder da«, sagte er dann zu den anderen, die im Müllsack zu Abend aßen, und schleppte zwei Armladungen voller Leckereien zur Höhle. Als er zurückkam, wartete Madame Roquefort schon lächelnd auf ihn, den Kopf auf ihr Vorderpfötchen gestützt. Es sah einfach zu niedlich aus! Picandou genoss es, sie mit kleinen Krümelchen zu füttern. Aber es dauerte meist nicht lange, da betrat auch schon Pomme de Terre mit ein paar Käserinden oder Crackerkrümeln die Höhle, und wenige Minuten später folgte der Hamster mit dem Nachtisch.
Gruyère, die allein im Müllsack zurückblieb, sah den dreien nachdenklich hinterher und schaute dann zum Mond hinauf, der wie der Punkt am Ende eines großen Fragezeichens über ihr hing. Ihr entging natürlich nicht, wie Madame Roquefort die Herren auf Trab hielt, und sie fragte sich, wo das wohl alles hinführen sollte.
Währenddessen wetteiferten Picandou, Pomme de Terre und Bertram darum, Madame Roqueforts Wünsche zu erfüllen.
»Bitte, könnte ich noch etwas zu trinken haben?«, rief sie von ihrem Bett aus, und schon kam Bertram, gefolgt von den anderen beiden, mit einem Kronkorken voll Wasser angeschossen. »Sei doch so lieb, mein Mäusepups, und mach die Krümel hier weg«, rief sie Pomme de Terre zu. »Und trag am besten gleich den Abfall raus!« Es dauerte nicht mal eine Viertelsekunde, und schon war er an ihrer Seite und klopfte das Schwammbett für sie sauber.
»Schnuckeltierchen«, flüsterte sie Picandou zu und klimperte dabei mit ihren langen Wimpern, »würdest du mir bitte den Rücken kraulen?«
Keiner der drei schlug ihr je eine Bitte ab, besonders nicht Picandou, der bis über beide Ohren errötete, wenn sie ihn Schnuckeltierchen oder Mausi nannte. Pomme de Terre sang ihr Seemannslieder vor und Bertram unterhielt sie mit Geschichten, die er in seinem alten Leben von Tassilos Hör-CDs aufgeschnappt hatte.
Bertram hatte sich inzwischen sogar mit seinem Sahnebecher abgefunden, allerdings hatte er Ringe unter den Augen, weil er so schlecht schlief. Aber er beschwerte sich nicht und er schien durch die Rumrennerei sogar etwas abgenommen zu haben.
Nur Gruyère, die das Ganze mit wachsender Sorge beobachtete, nahm Picandou schließlich beiseite: »Wann bekommt Bertram eigentlich sein Schwammbett wieder? Mir scheint, er schläft sehr schlecht. Und er ist auch ganz abgemagert … für seine Verhältnisse, meine ich.«
Picandou winkte ab. »Also erstens: Eine kleine Diät schadet ihm überhaupt nicht. Zweitens: Es ist nicht sein Schwammbett, sondern meins. Und drittens ist sie unser Gast und hat ein verletztes Beinchen. Da sollte man doch Rücksicht nehmen!«
Gruyère schüttelte nur ratlos den Kopf. Warum nur ließ sich Picandou von dieser Madame so ums Krällchen wickeln?
Eines Abends, als die anderen drei schon in der Höhle verschwunden waren, machte Gruyère einen kleinen Spaziergang zur Pizzeria Francesco. Sie war erleichtert, als sie sah, dass ein Gerüst vor dem Gebäude stand und jemand begonnen hatte, die Fassade zu streichen. Das bedeutete bestimmt, dass das Restaurant bald wieder eröffnen würde.
Dann kehrt Madame Roquefort in ihren Laden zurück und alles wird so wie früher, dachte Gruyère bei sich.
Noch ahnte sie nicht, wie sehr sie sich da täuschte.