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Klar hätte ich gehen können, als Katja mit Emma vor der Tür stand, um Elli abzuholen. Ich hätte die Gelegenheit nutzen können um zu gehen, aber dann hätte sie mich gesehen, in Falks Wohnzimmer. Was hätte ich gesagt? Dass es wichtig ist, den politischen Gegner zu kennen? Dass es wichtig ist zu sehen, welche Bilder in seinem Wohnzimmer hängen? Nein, ich bin sitzen geblieben, als Katja geklingelt hat. Von der Tür aus kann man nicht ins Wohnzimmer sehen. Man sieht kein Plakat, man sieht kein Defend Europe. Man sieht mich nicht.

Ich bin geblieben. Ich habe Katja gehört, Katja und Emma, wie sie Elli abgeholt haben zum Fußballspielen, und ich bin sitzen geblieben auf dem Sofa. Bin geblieben. Sitzen. Neben Falk. Lasse ihn reden. Er redet, und ich höre zu. Ihm. Patriotische Grüße, Falk.

Ich sitze mit dem Rücken zur Wand, und er sitzt um die Ecke auf dem Sofa. Ein Meter Abstand, bestimmt. Ein Meter Abstand zu den Blauen, ist das noch genug? Ich weiß nicht, wohin mit den Händen. Wenn man so auf dem Sofa sitzt und die Beine vor sich hat im rechten Winkel, dann weiß man nicht, wohin mit den Händen. Wo habe ich die Hände denn normalerweise? Auf den Beinen, mit den Handflächen auf den Oberschenkeln? Gefaltet? Die Arme vor der Brust verschränkt?

Er wird weich. Falk. Als er von Elli erzählt, und dann auch zuletzt, als er von seinem Vater erzählt, da ändert sich seine Körperhaltung. Nur ein ganz klein wenig, es ist zwar nicht gerade so, dass er sich auf einmal im Schneidersitz auf das Polster setzt wie ein Hippie, aber es gibt da diese Weichheit, einen Tick mehr lässt er sich gegen die Lehne sinken, einen Tick mehr die Schultern hängen. Vielleicht ist es auch sein Gesicht. Seine Wangen. Seine Augen. Es ist nicht so, dass er mich nicht zu Wort kommen lässt. Er macht Pausen. Sieht mich an. Aber ich habe nichts zu sagen. Ab dem Moment, als ich nicht gegangen bin, als Katja hier war, habe ich nichts mehr zu sagen zu alledem. Ich sitze und höre zu. Vielleicht wird man mich später einmal befragen dazu. Warum saßt du dort? Warum hast du dir das alles angehört? Aber daran denke ich nicht. Ich höre nur zu. Ich wusste schon, dass seine Mutter weg war. Dass sie ihn verlassen hat. Ich spürte es. Er spürte es auch, in mir. Ich sagte es nicht. Er weiß es ja schon. Man spürt sich unter den Mutterlosen. Ohnmacht und Kampf.

Er ist weich, und ich bin offen. Es ist still, aber er versteht. Ich weiß nicht. Ich sollte gehen. Steh auf. Geh jetzt. Aber ich bleibe. Sitze. Noch kurz. Noch einen Moment. Er auch. Steht nicht auf, sitzt. Still. Noch einen Moment.

43

Die Wolle ist blutverschmiert. Am Hals klafft eine Wunde, der Kopf ist verdreht, die Augen starr. Das Schaf ist tot. Gerissen, vom Wolf. Aber nicht gefressen. Katja schickt mir das Foto, ohne Worte, ohne Warnung. Es folgt noch ein Bild, noch ein Schaf, klaffende Wunde am Hals, aufgerissenes Maul, die Zunge hängt raus, noch ein Foto, vom Bauch diesmal, aufgerissen, blutrotes Loch, rot und braun, rohes, zerfetztes Fleisch, dazwischen Gedärme, die Wolle verklebt.

Jemand hat den Strom unterbrochen, schreibt Katja, vom Zaun, er ist hoch genug, der Zaun, aber jemand hat das Verbindungsstück gelöst. Sie tippt. Das waren die. Soll ich kommen?, tippe ich, da kommt schon eine Nachricht von Erik: Wir treffen uns alle bei Katja in Lotschel, wir haben ein Auto, wo sollen wir dich abholen? Ich springe auf. Erik kann unmöglich hierherkommen. Was ist los? Hat wieder jemand das N-Wort gesagt oder so? Falk grinst. Ich zeige ihm das Bild. Er lacht. Da macht der Wolf wohl keinen Unterschied zwischen grünen und blauen Schafen, ni’ woahr? Ich gehe.

Es sind drei Schafe, drei von sechs. Katja hat das dritte eben erst gefunden, am anderen Ende der Koppel. Der Bauch sieht so blutverschmiert aus wie beim zweiten Schaf, aber je näher ich komme, desto mehr verwandelt sich das Verschmierte in ein Muster, und als ich neben Katja stehe, sehe ich es. Das ist kein Blut. Das ist Farbe, rot gesprayte Schrift: Wolfsland.

Auch dieses Schaf wurde nicht gefressen, ein lebloser Körper, wie umgekippt. Der Bauch wölbt sich, sieht zu schwer aus, um auf der Seite zu liegen. Getötet, einfach so. Schwerer, toter Körper im Gras, zwischen den gelben Blumen des Löwenzahns. Wieso reißt ein Wolf das Schaf, aber frisst es dann nicht? Katja und die anderen gehen über die Koppel zum Zaun, Erik und Sare und Janine sind da, sie sind mit mir im Auto gekommen, auch Kurt und die Frauen vom Antiquariat. Sie stellen sich an die Stelle, an der der Zaun geöffnet wurde. Den Zaun abzustellen ist ganz einfach: Man muss nur die Schlaufe vom Haken nehmen, an der Stelle ist der elektrische Zaun mit einem Gummimantel umwickelt, sodass man keinen Schlag bekommt. Einfach vom Haken nehmen, und schon kein Strom mehr auf dem Zaun, fertig. Kein Schloss, kein abgeschlossener Stromkasten, aber warum auch? Wer sollte den Zaun eines Hofs abstellen, damit die Schafe ungeschützt sind?

Ich habe mich zurückfallen lassen, ich will nicht mit, will noch bei Brabax bleiben, so heißt das Schaf, das vor mir liegt, weiter hinten Califax und Lona. Von den drei Abrafaxen hat einzig Abrax überlebt, sie steht hinten mit Dig und Dag in die Ecke der Koppel gedrängt, hinter zwei Bäumen. Ich knie mich vor Brabax, fasse ihre Wolle an, dick, weich und fettig, bald hätte Katja sie geschoren. Ich schaue ihr in die Augen, die toten braunen Tieraugen sind wie ein Tor in eine andere Welt, eine Geisterwelt, leere Augen und offenes Maul. Schafskopf. Ich berühre ihre Stirn, kalter Knochen. Ich schaue mir ihre Wunde am Hals an, aufgerissene Haut, aufgerissenes Fleisch, klaffende Wunde. Warum hat der Wolf sie hier einfach liegen lassen?

In der einen Ecke der Koppel stehen die restlichen drei Schafe, in der anderen Ecke Katja, Erik, Sare. Ich will nicht zu Erik und Sare. Als er mich abholte, saß sie vorne hinter dem Steuer, ihr Auto war es, nicht Eriks, Erik saß neben ihr auf dem Beifahrersitz, und hinten Janine. Ich war mit dem Rad schnell zum Marktplatz gefahren, fünfzehn Minuten, von Falk in die Altstadt, aber eine andere Welt, raus aus den Einfamilienhäusern, aus dem Vogelgesang und Rasenmähergebrummel, über die großen Verkehrsachsen, schwarzer Asphalt, übergroße Ampeln, dann rein in das Gründerzeitviertel, durch die Alleen bis zu den Kopfsteinpflastern und Fachwerkhäusern, dorthin, wo die Stadt leise flüstert.

Vor dem roten Turm haben sie mich abgeholt. Und je länger wir hier nach Lotschel rausfuhren, durch die sanften, zu dieser Jahreszeit saftig grünen Limeshügel, desto mehr nahm ich ihre kleinen Gesten wahr. Sares Blick zu Erik, sein Blick zu ihr. Ich musste mich zusammenreißen, um meinen Blick abzuwenden, und nachzuschauen, auf meinem Handy, ob schon jemand etwas gepostet hat. Ich scrollte durch die Accounts der Blauen in Grenzlitz und Grünlau, durch die Seite der 1-Prozent-Bewegung, sah mir Defend Europe an, nichts, bei allen waren die letzten Postings irgendwelche Meldungen zu randalierenden, betrunkenen oder um sich schlagenden Männern in deutschen Städten, die Migrationshintergrund haben oder zumindest so aussehen. Ich suchte nach Falk Schloßer, ich bekam vier Falk Schloßers. Ich suchte nach: Falk Schloßer, Grenzlitz. Nur noch ein Falk Schloßer, kein Profilfoto von sich, stattdessen ein Ausschnitt aus einem Film, ein Mann mit freiem Oberkörper in einer Schlacht, Schild und Speer, aufgerissener Mund, brüllend. Falks neuestes Posting: Gestern Abend, 22:49 Uhr. Ein Foto. Von einer Pistole, schwarz.

»Und? Hat schon jemand was gepostet?« Janine schaute mich an. »Nein.« Ich steckte das Handy in meine Tasche.

Als wir ausstiegen, liefen sie nah beieinander, Erik und Sare. Ihre Hände berührten sich fast.

Katja lehnt gegen einen hölzernen Pflock, blass, Erik hat seinen Arm um Sare gelegt, Kurt, Uschi und Pia aus dem Antiquariat stehen vor ihnen, schauen auf den Boden. Sie sehen lächerlich aus. Sie alle zusammen, eine kleine Ansammlung von Menschen, die nicht wissen, wohin mit sich, die Schultern schmal und eingefallen, die Gesichter betreten, verunsicherte Augen, kurze Hosen, weiße, dünne Beinchen, Entenschuhe, und dieses Trippeln um Katja herum. Dann schauen sie sich um, immer wieder. Sie haben Recht, das hier ist noch nicht vorbei. Vielleicht sind sie hier. Beobachten uns. Vielleicht sehen sie deshalb so lächerlich aus. Weil ich sie mit deren Augen sehe. Mit blauen Augen.

Ich verabschiede mich von Brabax, merke, dass das nicht stimmt: Brabax ist schon längst weg, das hier ist Fleisch, Knochen, Wolle, ein Tor in die Zwischenwelt.

Sare redet beruhigend auf Katja ein, leise, langsam. Als ich bei ihnen ankomme, sagt sie gerade, sie müsse die Polizei rufen und den Tierarzt, »die Tiere werden abgeholt, dann musst du sie nicht mehr so sehen, Katja«. Warm schaut sie Katja an, große Augen hat sie jetzt, sie sieht Katja und Erik mit dieser Wärme an, und ich versuche mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn sie einen so warm anschauen, diese dunklen Augen mit der fast schwarzen Umrandung. Jetzt sieht sie mich an, Sare, aber nicht warm, sondern sie zieht ihre zarte Augenbraue hoch, mein Starren irritiert sie. Ich schaue weg, folge Katjas Blick in die Ferne, zum Waldrand. Dort hinten wird er sein, der Wolf. Und die Blauen, ich blicke mich um, die werden auch noch irgendwo hier sein. Ich konzentriere mich auf Katja. Ich bin nicht für Erik hier. Nicht für Sare. Sondern für Katja.

Katjas Haare sind unsortiert, sie machen keine Welle, sie hängen, sie sehen fisselig aus, dünn, sie trägt eine Brille, mit Brille habe ich sie noch nie gesehen, sie trägt Kontaktlinsen sonst, hatte sie vorhin auch diese Brille auf, bei Falk? Jetzt stehen ihre dicken, schwarzen Ränder der großen Gläser in krassem Kontrast zu ihrer weißen Haut und machen ihre Augen klein und müde. Auch Katja steht da, als hätte jemand die Luft aus ihren Schultern gelassen.

Ich gehe zu ihr, lege ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckt, schüttelt mich ab. »Nicht anfassen jetzt«, sagt sie. Ich gehe einen Schritt zurück. »Nein, auch nicht weggehen«, flüstert sie, schaut mich kurz an, lacht über sich selbst. Ich bleibe bei neben ihr stehen. »Wo ist Benni?«, frage ich. »In Grünlau, Lehre. An der Uni.« »Und Emma?« »Habe ich bei einer Freundin gelassen.« Ich stocke. »Bei Elli?« Katja runzelt kurz die Stirn, »nein, wieso? Elli und Emma hatten heute Fußball. Als ich Brabax, Califax und Lona fand, habe sie dort abgeholt und zu Lotte gebracht. Wenn du es genau wissen willst.« Sie mustert mich. »Keine Sorge, ich lasse Emma nicht bei Falk.«

Ich schaue mich um. Katjas Hof liegt am Rande von Lotschel, fünf Minuten aus dem Dorf raus mit dem Auto. Das Haus ist recht klein, ein schöner, roter Backsteinbau, rechts und links an den Ecken des Mauerwerks große gelbe Sonnenhut-Stauden und weiße Margeriten, vor dem Haus ein kleiner Gemüsegarten, an der Seite unter einem großen Fenster eine weiß gestrichene Bank, hinter dem Haus zwei Eichen, aber sonst steht der Hof frei. Hinter der Koppel beginnt das hügelige Gelb, Raps, so weit das Auge reicht, angestrahlt von gelber Frühjahressonne, und erst hinter dem Raps beginnt der Limeswald sich zu erheben, ganz hinten meine ich im Dunst das Limesgebirge zu erkennen.

Ich blicke die Landstraße entlang Richtung Lotschel und dann Richtung Grünlau, natürlich ist sie von Bäumen gesäumt, eine Allee, aber wer schafft es, ungesehen hierher zu kommen? Und: wann? »Wann hast du denn die Schafe entdeckt?«, frage ich, und Katja fasst sich an die Wange, »erst heute Nachmittag, als die Mädels beim Fußball waren. Ich habe es heute Morgen einfach nicht geschafft, mich um die Schäfchen zu kümmern. Eigentlich macht das dann Friedemann, unser Nachbar, aber der ist gerade nicht da – einen Vormittag schaffen sie es aber auch alleine.« »Das heißt, sie sind wahrscheinlich seit gestern Nacht tot?« Katja zuckt mit den Schultern. »Nehme ich an.« Erik und Janine scrollen auf ihren Handys, »ist inzwischen was aufgetaucht?«, frage ich, sie schütteln die Köpfe. »Vielleicht wollen sie uns nur einschüchtern«, sagt Janine. »Wie früher. Da sind se ja ooch nicht gleich los mit dem Baseballschläger, mal tauchten die bloß auf, zu zehnt, hauten wieder ab, mal gab’s ’ne entglaste Scheibe, und nichts kam hinterher.« Ich schüttele den Kopf. Tote Schafe bei der Zukunftsgrünen, die hier regieren will und in jedem Interview nicht müde wird zu betonen, dass die Forderung nach dem Abschuss der Wölfe absurd sei, dass 110 Zentimeter vom Land geförderter Zaun alles sei, was man brauche für den Herdenschutz, wie einfach das sei, wie schnell sie ihren Zaun bekommen habe – und jetzt ihre aufgerissenen, blutverschmierten Abrafaxe, das ist einfach zu gut, das war ein Spitzeneinfall von denen, das können sich die Blauen doch nicht entgehen lassen. Worauf warten sie? Da braucht es Fotos! Und zwar am besten Fotos von Katja, Katja ohne Schultern vor ihren aufgerissenen Abrafaxen, Katja mit dicker Brille, blasser Haut und verfisselten Haaren, Katja hilflos vor dem Tor in die Zwischenwelt.

Ich blicke noch einmal über die Felder, durch die Hecke zu den Nachbarn, selbst wenn da jemand wäre, wir würden sie nicht entdecken. Waren es dieselben Sprayer, die das mosaique angegriffen haben? Ein paar Häuser weiter knattern Motorräder los, wir hören sie beschleunigen, zu schnell beschleunigen im zu niedrigen Gang, das Aufheulen zerreißt die Luft. Auf der Straße sehen wir zwei Motorräder Richtung Grenzlitz abfahren. »Das bedeutet gar nichts. Jeder Dritte hier hat ein Motorrad«, sagt Katja. »Ich sage jetzt erstmal der Polizei Bescheid. Dann dem Tierarzt.«

Katja läuft zu ihrem Haus, ich will mit, aber Janine hält mich an der Schulter zurück. »Sie ist etwas speziell mit ihrem Haus hier in Lotschel«, erklärt sie. Katja sei da gerne allein. Nicht einmal Benjamin komme hierher, oder nur selten, Emma natürlich schon, mit der arbeite Katja im Garten, und sie liebe die Schafe, die kleine Emma. Aber sonst lasse Katja niemanden her, normalerweise, »das ist ihr Rückzugsort, verstehste?« Ich erinnere mich daran, wie Katja mir von den Schafen erzählte. Die Hand in der warmen Schafswolle, das mache sie gerne, wenn sie abends rausfahre. Da kommt man zurück auf den Boden.

Die anderen machen sich auf den Weg zu ihren Autos, ich zögere. Geh nicht weg, hat Katja gesagt. Nicht zu nahekommen, aber auch nicht weggehen. Fahrt schon mal vor, sage ich. Und setze mich auf die weiß gestrichene Bank vor Katjas Küchenfenster. Sehe drinnen kurz ihren Schatten. Und ihr Schatten sieht mich. Keine Minute dauert es, bis Katja vor mir steht, und ich sehe die Angst in ihrem Hals pochen. »Was machst du hier.« Sie stellt es fest, sie kann die Stimme am Ende des Satzes nicht mehr heben, dazu hat sie keine Luft, die Stimme bricht weg. Sie atmet flach ein, ihre Augen blitzen mich an. Ich kenne das. Wenn niemand zu nahekommen darf. Wenn jeder Satz die Kehle noch weiter zuschnürt. Ich bleibe sitzen, bewege mich nicht. »Keine Sorge, ich komme nicht rein«, sage ich. »Ich sitze nur hier. Genieße die Sonne. Bis du so weit bist und wir nach Grenzlitz fahren.« Katja mustert mich. »Ich kann dich nicht hereinbitten«, sagt sie. Ich nicke. »Ich weiß.« »Aber es kann noch eine ganze Weile dauern, der Tierarzt kommt und …« »Ich weiß.« Ihr Gesicht entspannt sich. »Du wartest?« »Ja.« »Willst du einen Tee?« »Nein. Ich genieße die Sonne. Ich bin gar nicht da. Ignoriere mich einfach.« Jetzt hellt sich Katjas Gesicht auf, beinahe lächelt sie. »Okay. Ich gehe rein, ja?« »Ja.«

Nachdem die Autos weg sind, zwitschern die Vögel, die Käfer brummen, ich spüre die Maisonne auf meiner Nase, auf meiner Brust. Ein Schmetterling setzt sich auf Katjas Kohl, noch einer. Weiße Schmetterlinge, Katja sprach davon, der Kohlweißling. Sie werden den Kohl fressen. Anis wollte sie deshalb besorgen, und Beifuß, den mögen die Schmetterlinge nicht. Etwas weiter weg das leise Knattern einer Kettensäge.

Ich hole mein Handy raus. Gehe auf Falks Profil. Auf das Posting von gestern Abend. Schwarze Waffe, drapiert auf einem weißen Tuch, daneben ein Messer. »Low Level Self Defense. Glock 46. Sonnenbrillen-Smiley.« 54 Likes. Ich betrachte die Pistole. Stärke. Grenzüberschreitung. Ich kenne das Gefühl. Kraft. Provokation. Feuer. Irgendwoher kenne ich es. Mein Nacken wird blass, aber das Feuer züngelt den Bauch hoch, bis es ein Pochen in der Brust wird. Stärke. Low. Level. Self. Defense. Ich sehe sein Grinsen. Blaues Kribbeln durch meine Haut. Falk Schloßers Hand an meiner Wade.

Ping. Neues Posting. Ich klicke drauf. Falk hat gerade eben einen Post geteilt von einem Nutzer, der sich Leonidas I. nennt. Ein Foto. Das Foto zeigt uns alle, Katja, Erik, Sare, Kurt, Uschi, Pia und mich, von weitem, blasse Gesichter, vor uns Califax mit dem aufgerissenen Bauch. Ich blicke rüber zu der Hecke zu den Nachbarn, von dort muss es aufgenommen worden sein, keine 20 Minuten kann das her sein. »Sowas kommt von sowas«, schreibt Falk und: »Der Wolf macht eben auch um grüne Schafe keinen Bogen. Nix für ungut. Sonnenbrillen-Smiley. Willkommen im Land der Wölfe, Frau Stötzel. Wenn Sie den Wolf loswerden wollen, sind wir gerne behilflich. Emoji: Bombe. Emoji: Wasserpistole.«

Gepostet: Sonntag, 17:34 Uhr. Vor sechs Minuten. 68 Herzen. Es erscheint ein Kommentar darunter: »die braune mosaik-fotze neben tarzan soll mal nicht so schockiert tun bei ihr im bad steht garantiert schon ein armes lämmchen dem ihr mohammed nächste woche den hals aufschneidet. nennt sich dann zuckerfest. emoji: hochgehobener zeigefinger.« 69 Herzen, 70 Herzen, 71 Herzen, 72 Herzen.

44

»Vielleicht war es der Krattschütze«, murmelt Katja. Wir sitzen in ihrem Auto, Richtung Grenzlitz, es dämmert. Die gelben Hügel hinter uns, die Wiesenhügel hier sind nur noch Schatten, im Westen färbt sich der Himmel in ein Pink, das nach Kaugummi aussieht.

Es kommt zeitlich genau hin: Die Typen auf den Motorrädern nehmen das Foto auf, fahren weg, zehn Minuten später tauchen die ersten Postings auf. Katja schüttelt den Kopf, sie hätte vielleicht doch genauer hinschauen sollen. Ob sie die Motorräder erkennt, oder wenigstens eines davon, war nicht eines davon gräulich? War es vielleicht der Krattschütze? Ich verstehe nicht, Kratt? »Der was?« »Na, Krattschütze! Der hat doch so ein Krattschützen-Zeichen hinten auf seinem Motorrad, der Falk.« Ich schaue sie an, sie blickt auf die Straße. »Was heißt denn Kratt?« »Krad-Schütze! Kraftradschütze eben. Kradschütze. Die gab es in der Wehrmacht, Motorradschützen, und das taktische Zeichen dazu hat Falk sich auf sein Motorrad geklebt. Charmant, oder?« Ich habe davon noch nie gehört. Kraftradschütze. Falk fährt also als Wehrmachtsschütze durch Grenzlitz. Wie war das nochmal, ist ja nicht so, als würde gleich eine SS-Division aus dem Osten in die Republik einfallen? Falk kann es nicht gewesen sein, will ich schon sagen, habe meinen Mund schon geöffnet, Luft geholt, mache ihn wieder zu. Klar kann er. Wie lange habe ich gebraucht, um mit dem Rad zum Turm zu fahren, und dann mit dem Auto raus nach Lotschel? In der Zeit kann doch auch ein Motorrad da rausfahren. Aber wir haben keins bemerkt, sie müssen schon vorher da gewesen sein. Außerdem hatte er es nicht gerade eilig. Wäre noch länger sitzen geblieben. Mit mir. Überrascht war er natürlich nicht gerade, von den toten Schafen. Da erinnere ich mich. Ich hatte es nicht kapiert, »meinste, dass wir im Land der Wölfe leben?«, das hat er gefragt, da auf dem Lidl-Parkplatz. Ich hatte es auf das mosaique bezogen und nicht verstanden. Er muss es schon gewusst haben.

Katja parkt das Auto vor ihrem Haus, wir steigen aus. »Danke«, sagt sie, »wirklich. Danke. Und bis morgen«, und schließt die Tür auf. Geht rein. Lässt die Tür zufallen. Keine Umarmung. Wieder stehe ich vor der Fassade. Ich gehe los, am Park vorbei, durch das Gründerzeitviertel, dann werden die Häuser wieder kleiner, niedlicher, Altstadt. Ich gehe über den Marktplatz, die Palme vor dem Turm weht im warmen Abendwind, Eriks Rad wartet auf mich. Das olle Klapperrad. Ich schließe es auf, gehe ein paar Schritte zur nächsten Bank, setze mich. Noch ein Bierchen bei …, schreibe ich. Will ich schreiben, an Erik. Erik ist offline. Vermutlich ist er mit Sare. Sare und Erik im Pavillon, nein, wo wohnt Erik eigentlich? Ich weiß es nicht. Packe das Handy weg.

Fahre nach Hause. Also in meine Wohnung mit den Dachfenstern und dem Neonlicht in der Küche. Setze mich an das Wachstuch und schaue nach. Tatsächlich, Kradschütze, daneben das Symbol von Falks Motorrad. In der Wehrmacht, lese ich, gab es eine eigene Staffel mit Kradschützen. Danach gab es keine Motorrad-Division mehr, die Bundeswehr hatte nie eine. Das Kradschützen-Zeichen gehört demnach unmissverständlich in die Zeit der Wehrmacht. Anders als die Zeichen der NSDAP und der SS sind Zeichen der Wehrmacht jedoch nicht verboten. In der Wehrmacht dienen musste schließlich jedermann. Falk, wie er sich fühlt, wenn der mit 200 auf seinem Wehrmachtshengst durch die Hügel brettert.

Ich lege den Kopf auf den Tisch, und ich spüre, wie die Borkenkäfer aus meinem Handy über den Tisch durch meine Haut in mein Fleisch krabbeln, ich spüre, wie die Käfer sich durch meine Gedärme fressen, und ich lasse es zu, ich lasse sie unter meiner Haut durchkrabbeln, sehe die vielen kleinen Knubbel durch meine Arme kriechen.

Als ich die Augen wieder öffne, sind die Käfer weg, mein Hals ist steif, von unten wummert es, wumm, wumm, geht der Bass mir durch die schmerzenden Knochen. In der Wohnung unter mir schreit sie wieder, die Frau, und diesmal brüllte eine Männerstimme zurück, Türen knallen und es hört sich an, als würde jemand gegen die Wand knallen, als würden Möbel herumgestoßen, gezogen, umgeworfen. Ich stehe auf. Weg. Hier.

Draußen überall Kameras. Ich hatte sie erst gar nicht bemerkt in den vergangenen Wochen, aber von jeder zweiten Laterne schauen sie jetzt in der Morgendämmerung auf mich herab, Paul Wittes Pappkameras, darunter sein Grinsen: Grenzlitz, aber sicher! Die ganze Breslauer Straße haben die Blauen mit ihren Wahlkampfpappen tapeziert, dazwischen geht Katjas sonniges Lächeln fast unter, ihr Gemeinsam in die Zukunft wird aufgesogen von Wittes Grinsen und seinen Kameras, die mich beobachten. Seit ich gestern Nachmittag bei Falk losgefahren bin, zeichnen sie jede meiner Bewegungen auf, sie verzeichnen meine Fahrt zum Marktplatz, mein Einsteigen in Sares Auto, sie verzeichnen meine Rückkehr mit Katja, sie verzeichnen Katja, die müde in ihre Wohnung geht, sie verzeichnen mein unschlüssiges Stehen vor ihrem Haus, sie verzeichnen meine Nachricht an Erik, die ich nicht abschicke, sie verzeichnen meine Rückkehr in meine leere Wohnung um 22:36 Uhr, sie verzeichnen mein Verlassen der Wohnung um 5:45 Uhr, sie verzeichnen das Klappern meines Rades, sie verzeichnen meine wabbeligen Oberschenkel, meine unrasierten Waden, meine Augenringe und meine blasse Haut, sie verzeichnen, wie ich den Mann anschaue, der neben mir auf dem Bürgersteig läuft, sie verzeichnen seine Locken und seine Haut, sie verzeichnen das Zucken meiner Waden unter seinen Blicken, sie verzeichnen die Brüste, die die Frau hinter ihm an die kühle Morgenluft lässt, aus ihrer hautengen Bluse heraus, sie verzeichnen die Länge ihres Minirocks und ihrer Keilabsätze, sie verzeichnen, dass sie mit rollendem R in ihr Handy spricht, sie verzeichnen, dass ich keine Puste mehr habe, dass ich auf halben Wege nach oben auf der Breslauer Straße absteigen muss, weil ich keine Luft mehr bekomme, sie verzeichnen meinen rasenden Herzschlag und den kalten Schweiß in meinem Nacken, sie verzeichnen, wie ich versuche, ganz normal weiterzugehen, mir keine Schwäche anmerken zu lassen, und sie verzeichnen, dass ich abrupt stehenbleibe, weil ich denke: Ich muss hier weg. Aus Paul Wittes Augen. Die Falk Schloßers Augen sind. Weg.

Ich habe nichts gepackt, ich habe nur meinen Schlüssel genommen, das Rad und los, hoch die Breslauer Straße. Wieder erhebt sich die Sonne, sie klebt schon weit oben am Himmel, das ist doch nicht normal, seit Wochen diese strahlende Sonne, sie brennt auf meinen Scheitel und brennt mir den Schweiß im Nacken in die Haut, und es würde mich nicht wundern, wenn ich die Straße hochkomme und da ist gar kein Bahnhof mehr, bestimmt ist er weg, bestimmt gibt es keine Schienen mehr, bestimmt komme ich hoch und es fängt der Limeswald an und es gibt keinen Weg mehr hier raus, keine Straßen, keine Schienen, da steht kein Bahnhof und wenn ich versuche, das Auto zu nehmen, dann führen alle Straßen zurück in die Stadt, weil es nur noch Grenzlitz gibt, die Welt ist Grenzlitz und Grenzlitz ist die Welt.

Ich schiebe mein Rad die Breslauer Straße hoch, und da kommt kein Bahnhof, da kommt kein Bahnhof, da … doch. Da kommt die Spitze von diesem Zwiebeltürmchen, ein rundes kleines Zwiebeltürmchen mit Säulchen, darin wohnen die Tauben, hat Eriks Opa immer gesagt, darunter die Uhr, es ist gerade mal kurz nach sechs, verrückt, dass es einfach nur kurz nach sechs ist, eine ganz normale Uhrzeit an einem ganz normalen Tag, klick, der Zeiger geht weiter, 6:04 Uhr, und darunter baut er sich auf, mit breiten Steinschultern und hohen, gewölbten Fenstern schaut der Bahnhof hinunter auf die Stadt.

Ich kann nicht stehen bleiben, ich weiß es, ich versuche es gar nicht erst, die schweren Holztüren öffnen sich vor mir, ich schiebe mein Rad hindurch, lande in einer Traube von Jugendlichen mit roten Polohemden, Gänsehaut, die Gänsehaut erreicht meinen Nacken, bevor ich verstehe, warum, es ist der Junge vor mir, der halbe Mann da, hochgeschossen, das Kinn schon eckig, die blonden Haare mit Seitenscheitel, halb rasiert, dazu dieses Polohemd, er grinst seinen Kumpel an, der ein bisschen kleiner ist, dunkle Haare, aber dieselbe Frisur, ein Mädchen rennt an mir vorbei, sie hat zwei lange blonde Zöpfe, die oben auf ihren Kopf anfangen, französischer Zopf sagt man, warum eigentlich, deutscher kann man nicht aussehen als diese Jugendlichen hier. Als diese Kids hier würde ich sagen, wären sie nicht so krass deutsch, auf dem Rücken ihrer roten Polohemden steht: Jugendblasorchester Grenzlitz. Das glaubt mir in Berlin doch kein Mensch, Noah, das glaubst du mir nicht, die sehen aus wie. Aus den Zwanzigern. Des 20. Jahrhunderts.

Ich will das nicht mehr. Es ist meine Haut, die das nicht mehr will, sie kribbelt, ich will diese blonden Zöpfe nicht, ich will diesen Seitenscheitel nicht, diese perfekt rasierte 1920er-Jahre-Herrenfrisur auf dem Kopf dieses Fünfzehnjährigen mit dem Siegergrinsen, als wäre er Papp-Paul-Wittes Neffe, vielleicht ist er es, was ist so falsch an einem Jugendblasorchester?, höre ich Falk Schloßers Stimme in meinem Kopf fragen, wieso ist es so viel besser, wenn die Kids, wie du sie nennst, auf E-Scootern durch die Stadt rasen, Wasserpfeife rauchen, Leute anpöbeln, was hast’n du jetzt für ’n Problem mit dieser Jugendkultur hier, bloß weil der Junge blond ist oder was? Nee is’ klar, aber Diskriminierung kommt dir natürlich ni’ in den Sinn, findest du das ni’ ’n bisschen komisch? Ich schüttele den Kopf, ich will das nicht mehr, diese Jugendlichen hier nicht und Falk Schloßers Stimme in meinem Kopf auch nicht. Ich nehme den Fahrstuhl hoch zu Gleis 2, ich habe Glück, der Zug aus Grünlau kommt in fünf Minuten, er fährt surrend ein, ich schiebe mein Rad in den Zug, setze mich, der Zug fährt los, er bringt mich aus Grenzlitz heraus, dann durch die grünen Hügel, dann Limenz, leichte Erinnerung an diese Frau, lila Haare, ihr Wanken. Noah. Ich habe Noah von dieser Frau erzählt. Grüne Hügel, das Gras ist dunkler jetzt. Kein Reh.

Cottbus. Der Zug fährt wirklich in Cottbus ein, und Cottbus ist direkt mit Berlin verbunden, ich schiebe mein Rad auf den Bahnsteig, in den Zug gegenüber, eine Regionalbahn, eine ganz normale Regionalbahn, wie sie überall in der Republik fährt. Wie kann das sein? Ich setze mich auf einen Klappsessel, halte mein Rad noch immer in der Hand. Mein Rad. Zukunftsrad. Halt, das ist nicht mein Rad. Erst hier merke ich, dass ich gerade das Zukunftsrad von Erik mitnehme. Ein Gespräch mit einem Blauen, und schon flüchtest du kopflos nach Berlin?, grinst Falk in meinem Kopf.

Junge Menschen mit Rädern und Radtaschen steigen ein, sie sprechen Englisch, ich höre auch Spanisch, Ausflüglerinnen, alles ganz normal, keine Seitenscheitel, keine blonden Zöpfe, normale Menschen, schwarze Haare, lange Haare, kurze Haare, Tattoos auf den Armen, Piercings, alles dabei. Köllnische Heide steigen die ersten Menschen mit Kopftüchern ein, sie setzen sich gegenüber, sprechen mal Deutsch, mal Arabisch, wechseln mitten im Satz, meine Haut taut auf, es tut so gut, sie zu hören, kein Wort verstehe ich, sie könnten über ihren Neffen streiten oder über ihre Männer fluchen, sie könnten sich genauso über das Mädchen aufregen, das da hinten bauchfrei sitzt in Hotpants, oder über den Schaffner aus dem letzten Zug, ich weiß es nicht und es ist mir völlig egal, aber ich bin froh, dass sie da sind, ja, Falk, ich weiß, dass das komisch ist, dass ich mich wohlfühle mit diesen fremden Menschen, über die ich nichts weiß, die mir ebenso sympathisch wie total unsympathisch sein könnten, wenn ich sie kennenlernen würde, was ich nicht tue, aber schon dass sie hier sind, erleichtert mich, warum, fragst du? Warum?

Jannowitzbrücke steige ich aus, ich fahre den Rest mit Eriks Rad, ich fahre die Heinrich-Heine-Straße entlang und es ist unglaublich, wie viele Menschen hier sind, Autos, Graffiti, bunt alles und Döner und Späti und niemand guckt nach mir, es gibt keine riesigen Kamera-Plakate und es kann mich kein Paul Witte sehen, kein Falk Schloßer und keine Erik oder Kurt oder Katja, ich biege links ein und fahre über den Oranienplatz, lauter ältere Menschen auf Bänken in der Sonne, ich fahre hinter dem Kottbusser Tor einen Durchgang hindurch, es riecht nach Pisse, an der Wand Grafitti: Nazis raus!, FCK BL, nobody flees without a reason, ich schlängele mich an Mülltonnen und an zwei auf dem Boden zusammengesackten Menschen vorbei, ach, das findeste cool, ja, dass die hier einfach so liegen können, das ist dann eure Toleranz? Dass die Leute vor euren Augen herumliegen und vielleicht krepieren? Ich fahre weiter, schnarrende Stimmen der Zugedröhnten, fahre an einer Polizeiwanne vorbei, das Kottbusser Tor öffnet sich vor mir, gelbe U-Bahn, alles wie immer, ich krabbele aus Alices Kaninchenloch, alle zwei Minuten quietscht die U-Bahn oben entlang wie immer, ich fahre drunter durch, den Kottbusser Damm runter, vorbei am türkischen Supermarkt, an Salat und Kohl und Granatäpfeln und Orangen, vorbei an Blumenläden und Cafés und Falafelläden, Blau ist keine Farbe, steht überall an den Wänden, in grün, schwarz, rot, der Hermannplatz voller Blech und Gehupe, nach links die Sonnenallee rein, und dann rieche ich es: diese Mischung aus Kichererbsen und Knoblauch, Cumin und Minze und Olivenöl, arabische Schrift und stilisierte Libanon-Zedern. Ich biege ab auf den Bürgersteig, fahre noch vier, fünf Meter, ein Junge stellt sich vor mich in den Weg: »Ist kein Radweg hier, Madame!« Er ist vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre alt, leichter, schwarzer Flaum auf seiner Lippe, sein Kumpel kichert los, dann lassen sie mich durch, diese Kids da sind jetze richtig, ja? Nur weil se nicht blond sind, gefallen die dir besser? Ach halt die Klappe, Falk, halt einfach die Klappe.

Ich stehe vor meiner Tür, FCK BL, ist einer der Aufkleber hier, Kein Sex mit Nazis ein anderer, ich schließe auf, zerre mein Rad über die viel zu hohe Türschwelle, die Tür fällt hinter mir ins Schloss, Ruhe. Die Sonnenallee ist draußen, ich bin drinnen.

Kühl. Dunkel. Zuhause. Ich schiebe mein Rad vorbei an den überquellenden Briefkästen mit den vielen Namenaufklebern drauf, Yılmaz, Malouf, Temiz und die WG ganz oben, Gernburg/Gómez/Niemann. Ich ziehe die zweite Tür auf, schiebe das Rad in den Hof, Schatten, grün, ruhig, hallo Kastanie. Ich quetsche Eriks Rad zwischen die kaputten Räder in den Radständer, die Hälfte der Räder hat einen Platten oder keinen Sattel mehr, trotzdem sind sie hier angeschlossen bis in alle Ewigkeit, Fahrradzombies, ihre Besitzerinnen längst ausgezogen, sie bleiben. Ich schließe ab, gehe ins Hinterhaus, erster Stock, schließe meine Wohnung auf, ziehe die Tür hinter mir zu, schließe sie ab, einmal, zweimal, niemand soll rein, niemand, ich gehe drei Schritte, lasse mich auf mein Bett fallen. Kein Wummern. Keine Kameras. Keine Borkenkäfer. Nur das leise Rauschen der Autos in der Großstadt. Endlich lässt meine Haut los. Ich fließe in meine Laken. Kühles Laken weiche haut weicher nacken tür zu bloß der wind der kastanie hier kann mich keiner …

Hinter meinen Lidern das Licht ist weich. Zärtlich. Hellgelb. Rauschen. Ich öffne die Augen, betrachte das Schattenspiel an meiner Wand, Kastanienblätter. Einfach hierbleiben. Nie wieder zurück in diese Welt da. Einfach hier. Sonnenallee. Wo blau keine Farbe ist. Mein Magen ist weich und warm. Noah. Vielleicht rufe ich Noah an. Vielleicht treffe ich ihn einfach. So anders kann er doch nicht sein. Noah. Verwirrt, aber noch immer mein Noah. Bestimmt ist er erleichtert. Wenn ich mich melde. Vielleicht bereut er sein Drama längst. Einfach ein Kaffee im Wankenden Boot. Cappuccino, wie immer. Vielleicht ein spätes Frühstück dazu. Guter Käse. Italienische Salami. Baguette. Gesalzene Butter und Thymian. Noah, einfach Cappuccino, einfach wir beide, willst du?

Ich stehe auf. Da erst sehe ich es. Das Herz, das in meinem Fenster hängt. Also hing. Das immer dort hing. Das aus rotem Glas, vom Weihnachtsmarkt. Ist nicht mehr da. Ich sehe mich um. Das Poster mit dem Dschungel. Mit dem Wasserfall. Und den Lianen und Bäumen und dem Moos. Neben der Küchentür. Das Foto, das du gemacht hast auf Teneriffa, das du mir geschenkt hast zum Geburtstag. Wie früher, als wir Piratinnen waren. Unser Dschungel, Nana. Ist weg. Ich durchwühle mein Bett, aber das Kissen. Mit dem Kaninchen drauf. Weg. Ich gehe in die Küche. Die Tasse mit der Wüste drauf, Wüste und Palmen. Weg.

Du warst hier. Noah. Du. Hast. Echt. Alles. Mitgenommen. Alles, was du mir mal geschenkt hast.

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na ja, nana, du hattest ja auch …

ich will jetzt gar nichts von dir hören.

na hör mal, aber du …

nein! ich erzähle. nicht du.

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Er war hier. Noah hat meinen Schlüssel, schon immer, für alle meine Wohnungen, falls mal was ist, und jetzt ist er zu mir gefahren und hat alles mitgenommen, was er mir gegeben hat, als Teil von ihm. Er hat sich mir weggenommen. ich bin froh, dass du weg bist. antworte nicht, ich lösche alles ungelesen, was von dir kommt. Das hat er geschrieben. In Grenzlitz war es so leise. Hier schreien mich die Zeilen an. Ohne Echo. Die Wände schweigen. Auch mein Tisch schweigt mich an. Draußen vorm Fenster die Kastanie, sie schweigt mich an. Das Schweigen breitet sich in meinem Magen aus, schwarz schwappt es durch meinen Bauch, meine Beine, meine Arme. Ich falle in die Welt, und sie fällt in mich. Leere. Meine Wohnung ist leer. Ich gehe raus.

Sonnenallee, Hupen, Menschen, Rufen, gebratenes Lammfleisch und Minze, Busse, Sonne auf Asphalt. Bei Azzam alles frei. Wieso ist hier alles frei? In der Ecke sitzt nur ein Mann über seinem Falafelsandwich mit Ayran, Baseballcap, T-Shirt, Typ Deutsch-Hip-Hop. Ich bestelle einen Halloumi im Brot, Sesamjoghurt und Harissa, setze mich ans Fenster neben die offene Tür. Auch auf der Sonnenallee weniger Menschen als sonst. Habe ich was verpasst? Sind hier alle weggegangen? Hatte ich die Enge bloß anders in Erinnerung? Ich bekomme mein Sandwich, der Duft von gebratenem Käse und Sesam, dazu der süße Weizen von meinem Pide.

Der Typ hinter mir zahlt, tritt auf die Sonnenallee, blinzelt in die Sonne, geht dann mit großen Schritten die Straße entlang, die Schultern rechts und links nach vorne drückend, Berliner Hip-Hop-Gang, breit, immer performend. Im Radio singt eine Frau. Außer mir niemand da. Nur der Mann hinter der Theke stapelt Brote, schneidet Halloumi und Tomaten und Gurken in große Kübel, als würde er jeden Moment den Massenansturm erwarten.

Mein Handy pingt, es ist Katja: Geht es dir gut nach allem gestern, Nana? Wir sind bei Janine, kommst du auch? Wir wollen das Zuckerfest absprechen, bevor ich zur Feuerwehr muss! Da kapiere ich es: Ramadan! Es ist ja Ramadan, nicht nur in Grenzlitz, natürlich auch in Berlin. Es fällt mir schwer zu verstehen, dass beide Orte den Gesetzen derselben Welt gehorchen, Grenzlitz, Sonnenallee, und Ramadan ist überall. Deshalb ist hier niemand. Deshalb ist die Sonnenallee so leer. Erst heute am späten Abend wird sie sich füllen, zum Sonnenuntergang werden alle jene aus ihren Wohnungen strömen, bei denen keine Mama den halben Tag gekocht hat, hierher werden sie strömen und Halloumi und Falafel, Köfte und Schawarma verspeisen.

Ich starre auf Katjas Nachricht. Dass es sie noch gibt, verwirrt mich. Also Katja. Und Janine. Und Erik. Sie sind jetzt in Janines Café, Einhörner aus Zucker und goldener Glitzer auf dem Porridge, Talking Heads aus den Boxen. Es pingt nochmal. Sprachnachricht. Falk Schloßer. Die Blauen Grenzlitz. Tiefe, feste Stimme. Ja, guten Tag, Nana, ich wollte mich, räuspern, nur nochmal melden nach gestern, du bist dann ja recht schnell los. Also ich wollte mal hören, ob es dir gut geht. Ist schon heftig, was hier abgeht, wollte ich dir nur sagen. War sicher ’n kleiner Schock gestern. Räuspern. Und dann stürmen die Mohammeds übermorgen unseren Marktplatz mit ihren geschlachteten Lämmern. Pause. Ich find’s krass, was hier abgeht. Also, ich hoffe, alles ist gut bei dir. Vielleicht meldste dich mal. Nochmal pingt das Handy, Erik schreibt: gehe gleich bei dir vorbei, treffen uns bei janine, soll ich dich runterklingeln? Ich packe das Handy weg. Zahle, gehe raus.

Gehe die Reuterstraße entlang, die Friedelstraße, gehe an Noahs Haus vorbei, bleibe nicht stehen. Gehe weiter über die Brücke über den Kanal, der um diese Jahreszeit einem Bilderbuch entspringt: Saftgrüne Trauerweiden, Schwäne, am Ufer vereinzelte Menschen mit Kaffee und Bier. Gehe weiter am Kanal entlang, dann die Mariannenstraße, unter der U-Bahn hindurch, auf den Heinrichplatz. Ich hatte nicht geplant, hierherzukommen.

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noah. hatte ich wirklich nicht. ich denke, ich habe dich gesucht. mein körper hat dich gesucht.

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Ich suche etwas, ich setze mich vor das Café zum Wankenden Boot. Graffiti, rote und gelbe Häuser, Burger, und immer diese gelben Busse, Doppeldecker, schnaufend kommen sie kaum einen Meter vor den Tischen zum Halten. Immer dieser Bus. Noah und ich hatten diesen miesen Platz hier, direkt an der Bushaltestelle. Ständig kam so ein gelbes Monster angeschnauft, sein Rad hatte Noah an ein Straßenschild angeschlossen, es stand zwischen Schild und Straße, und der Bus berührte es jedes Mal fast am Lenker, es waren nur zwei, drei Zentimeter, er kam angedröhnt, nahm fast Noahs Rad mit, stand schnaufend da und ergoss seine Menschen vor uns auf den Platz, dann schloss er sich wieder und furzte uns dröhnend voll, alle fünf Minuten kam dieser Bus, und ich konnte ihn kaum mehr verstehen. Ihn. Sie. Ich konnte sie kaum mehr verstehen. Noah. Ich wollte ihn kaum mehr verstehen, Noah, ich wollte dich nicht verstehen. Wie konnte es sein, dass du mich so wenig verstandst?

Er fing an, mir von seinem Tanzen zu erzählen. Nachts, wenn alle schlafen, hat er gesagt, dann tanze ich. Zum Gesang von Fairuz, zu den Klängen der Oud und der Rebab, oder nein, war es Techno? Richtig laut, aber mit Kopfhörern, damit niemand es hört, hat er gesagt. Im Dunkeln, aber ich schließe ohnehin meine Augen, ich stelle mir vor, wie ich durch den Wald tanze, durch die Blätter fliege, die Blätter des Waldes bei Waldburg, ich lasse alles los, ich tanze einfach und immer mehr in mir gerät ins Schwingen, es sind vor allem meine Arme, Nana, hast du gesagt, meine Arme beginnen zu wachsen, hoch zu wachsen und sich zu biegen und beugen und sich zu verästeln, und mein Kopf wird auch zu Blättern und Ästen und zu einer Baumkrone, die sich wiegt im Wind, nur meine Beine bewegen sich kaum, das liegt an den Füßen, Nana. Meine Füße verwurzeln sich mit dem Waldboden, nur mein Körper wiegt im Wind, sanft wiegt er im Wind, und weißt du was, es gibt keine Grenze mehr dann in meinem Körper, es fließt dann einfach von unten nach oben und oben nach unten, da ist keine Grenze mehr in meinem Bauch, und ich glaube, das liegt daran, dass ich ein Kleid trage. Das wollte ich dir erzählen. Sagte Noah. Seit Jahren erzähle ich es niemandem, aber nachts trage ich Kleider, denn in Kleidern kann ich fließen und tanzen und Wald werden, und in Hosen kann ich das eben nicht, und ich will das nicht mehr, Nana, ich will überhaupt kein Mensch mit Hosen mehr sein, der unterteilt wird in zwei Hälften, in oben und unten, und wo der Gürtel ist, da ist der Schnitt, das möchte ich nicht mehr, ich will nicht mehr meinen Kopf haben und dann spüre ich meinen Bauch nicht mehr, ich will nicht mehr meine Haut so angespannt halten müssen, dass sie alles an sich abprallen lässt, ich will wachsen und tanzen und fließen und mich im Wind wiegen, Nana, ich glaube, ich will kein Mann. Mehr. Sein.

Ich bestelle mir einen Cappuccino. Ich beobachte die Menschen. Tattoos, Piercings, junge Menschen, alle sehr jung hier. Schnaufend der Bus. Es steigt kaum jemand aus. Es ist früher Nachmittag. Erik und Janine und Katja sind jetzt im Café und wundern sich, wo ich bin. Ich bin im Wankenden Boot. Ich beobachte die Menschen, die an mir vorbeigehen. Hip-Hopper mit diesen angespannten Schultern, immer nach vorne, wie Stiere, immer bereit zum Angriff.

Ich sehe sie, die Männer, sagte er. Sagte sie. Sagte Noah. Seit ich klein bin, sehe ich sie und spüre sehr gut, dass ich nicht so bin, wie sie es von mir verlangen. Sie hassen mich deshalb. Ihr sprecht immer darüber, wie ihr angeguckt werdet, von uns Männern, sagt ihr, dass wir Männer denken, ihr gehört uns, bloß weil wir uns stärker fühlen, sagt ihr, ich meine, das sagt ihr echt: Dass wir euch besitzen wollen, weil wir uns stark fühlen! Hört ihr euch eigentlich zu? Was soll daran stark sein, eine Frau haben zu müssen? Ich kann das nicht. Ich fühle mich nicht stark als Mann, sondern schwach, ganz schwach, und nicht nur ihr werdet auf der Straße angemacht und bedroht, Nana, darüber spricht bloß keiner: Dass Männer nichts mehr hassen als einen Menschen, der wie ein Mann aussieht, aber nicht mitspielt. Einen Menschen, der wie ein Mann aussieht, aber seine Schultern nicht breit macht, nicht diesen breiten Gang einnimmt, nicht seinen Arm über die Schultern seiner Frau legt, nicht das Kinn so hochreckt, sondern der die Schultern schmal hält und auf den Boden guckt und tänzelt. Ich weiß das, Nana, ich gucke meistens auf den Boden, wenn ich unterwegs bin, ich will einfach mit mir sein, mehr nicht, ich will einfach mit mir und meinen Gedanken alleine gelassen werden und ich will auch ihre Blicke nicht sehen, ihre herablassenden Blicke, ihre wütenden Blicke, ihre hasserfüllten Blicke, denn wenn ich mal einen Mann ansehe, wenn ich es wage, seinem Blick standzuhalten, dann rastet der aus, der kann nicht. Der kann es irgendwie nicht aushalten. Meinen weichen Blick. Mein Fließen. Meine fließenden, wiegenden Arme, meine Äste und mein Tanzen im Wind. Kann der nicht. Ich weiß nicht, wer ich bin, Nana. Ich weiß nur, dass ich fließen will. Und nicht diesen. Körperpanzer. Den ihr von mir erwartet. Du. Den du von mir erwartest, das wollte er sagen, Noah.

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das wolltest du sagen, noah.

ja.

du hast mich dann so angeguckt, noah. verletzlich.

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Fragend. So von unten. So schaute er mich dann an. Ich wusste natürlich, was ich tun sollte. Meine Arme öffnen. Ach, Noah, sagen. Ich liebe dich wie du bist. Nimm dir Zeit. Du musst kein Mann sein. Du darfst alles sein, was du bist, finde es heraus, ich bin da.

Aber mein Mund, Noah, der hat sich geweigert, und meine Augen. Ich konnte sie nicht mehr öffnen, sie haben zugemacht. Ich dachte nur noch: Tom. Ich dachte: So einfach, denkst du, ist das zu haben? Eine Frau zu sein? Weiblich zu sein? Schnips, und schon bist du weiblich, ohne das alles erleiden zu müssen? Erst nimmst du dir alles, Noah, dachte ich, erst nimmst du dir einfach, was du willst, zusammen mit Tom und deinen anderen Kumpels nimmst du unsere Körper aus, und wenn ihr euch genug vollgestopft habt, dann ist es euch doch zu hart irgendwie und dann wollt ihr den Rest auch noch, ihr wollt einfach alles haben, Noah: Ihr wollt angehimmelt werden, ihr wollt diejenigen sein, die immer gesehen und gehört werden, die nie überhört werden, die sich alles nehmen können, aber dann ist selbst das euch nicht genug, dann wollt ihr noch unsere Weichheit dazu, unsere Zärtlichkeit, unser Fließen, erst machst du mich klein, Noah, erst machst du mich klein und lässt dich von mir bedienen und dir hinterherrennen und dich lieben und vermissen und mich um dich kämpfen und an deine Tür klopfen, dann nimmst du mich aus, bietest mich deinem Kumpel Tom an zum Ausnehmen wie einen Fisch, hörst du? Wie einen Fisch hat Tom mich ausgenommen! Und dann kommst du an und beschwerst dich, dass ich dich wie einen Mann behandle, reicht es dir nicht, Noah, reicht es dir nicht, dass du dir alles von mir genommen hast, meine Zärtlichkeit, meine Liebe, meine Unschuld, jetzt willst du dir auch noch meine Weiblichkeit nehmen, einfach so? Nein. Das sagten mein Mund, meine Augen, und dann auch meine Lippen: Nein, Noah. Du hast keine Ahnung, was es heißt, eine Frau zu sein. Und dann, Noah, dann ist etwas passiert. Dann habe ich nicht gewartet, ob du gehst, ich saß nicht da von der Angst gelähmt, dass es wieder passiert, dass ich gleich wieder nur deinen Rücken und deinen Hinterkopf zu sehen bekomme, wie sonst immer, mit der bangen Frage, ob du wiederkommen würdest, zurück zu mir. Oh nein, diesmal nicht. Diesmal stand ich auf. Ich sah deine Augen, die sich wandelten, sie wandelten sich von offen-verletzt zu geschlossen-wütend, aber noch bevor du richtig wütend werden konntest, sah ich einfach weg.

Es war mir egal. Zum ersten Mal in meinem Leben war es mir egal, ob du wütend auf mich bist, ob du weggehst und nie wiederkommst, oder was überhaupt mit dir passiert. Ich sah weg, ich drehte mich weg, und ich ging weg, und dich, Noah, dich ließ ich da sitzen, auf der Bank neben diesem scheiß furzenden gelben Bus. Ich ging weg von dir, und ich kam bis Grenzlitz. Zu Falk Schloßer.

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Ich fahre zurück. Ich übernachte nicht mal in Berlin, in dieser leeren Wohnung, ohne das Glasherz, ohne das Kaninchenkissen, ohne die Wüstentasse, leer, nichts ist da in Berlin, was habe ich dort noch? Was hatte ich überhaupt jemals dort?

FCK BL. Na klar, FCK BL. Blau ist keine Farbe. Einfach raus mit denen, am besten abschieben, oder doch einfach wieder eine Mauer um sie bauen, weg, weg, lalala, die gibt es gar nicht, vor meiner Haustür packt mich eine riesige Wut auf diesen scheiß selbstgerechten Aufkleber, na klar, ihr kleinen Antifa-Superhelden, mutig streift ihr durch Berlin-Neukölln und muckt gegen das Gesetz auf, indem ihr im selbstlosen Kampf gegen den Staat und seine Aufklebergesetze Sprüche an Türen von Häusern klebt, deren Bewohner sie zu 100 Prozent teilen in einer 100 Prozent blaufreien Straße! Kein Sex mit Blauen, mein Fingernagel zieht den Sex von der Tür ab, dreckiges Papier und alter Kleber dehnen den Nagel von der Unterhautnagelhaut weg, nochmal, nochmal, ich knibbele die Aufkleber ab, einen nach dem anderen, ich will, dass mein Nagel abbricht, aber er bleibt, er bekommt nur Risse, ich ziehe wirklich meinen Hut vor euch und euren 100 Prozent antifaschistischen T-Shirts und euren 100 Prozent antifaschistischen Cafés und Kneipen und Demos und WGs. Ihr kommt garantiert in den Himmel.

Ich reiße mein schrottiges Zukunftsrad aus den Fahrradleichen und trete in die Pedale so schnell ich kann, ich habe Muskeln bekommen in meinen Beinen, dick und heiß fahren sie mich durch das Abendrot die Sonnenallee entlang, vorbei an all den Vorbereitungen für den Sonnenuntergang, vorbei an libanesischem Lamm, an Couscous Royal und Harissa, vorbei an Läden mit prächtigen Ballkleidern und ägyptischen Lampen, ich fahre, bis es leerer wird, bis die Autos sich nicht mehr wütend anhupen, vorbei am Jobcenter Neukölln, wo sich die Stadt ihrer Industrie öffnet, oder dem, was sie mal war, Fabrikhallen und Schornsteine, ich sehe, wie die Häuserreihen flacher werden, wie fünf Stöcke zu vier Stöcken zu drei Stöcken zu zwei Stöcken werden, wie sich der rote Himmel immer mehr Raum nimmt, vorbei an leise rauschenden Bäumen und über Brücken, weiter über Kanäle und Flüsse, vorbei an Kleingärten, und jetzt es ist dunkel geworden, gelb leuchten die großen Supermärkte hier draußen, rot leuchten die Baumärkte, da vorne wird es noch dunkler, da beginnt der Wald, Bäume beugen sich mit ihren dünnen Ästen über die Straße, um mich aufzugreifen, um die verlorene Berlinerin da aufzugreifen und mit ihren Ästen zu einzufangen, da fahre ich die S-Bahn an und rolle in die Station, steige ab und trage Eriks Rad bis hoch zur S46, die mich hinausträgt aus dem Beton, nur ein Mann sitzt in meinem Waggon, Brille, schwarze Haare, roter Kapuzenpulli, er lehnt seinen Kopf gegen das Fenster und schläft mit offenem Mund, an der Endstation sammelt er sich auf und schlurft mit mir aus der Bahn, er nach draußen, ich rüber auf den anderen Bahnsteig, ich nehme die Regionalbahn, die mich weiterträgt bis nach Cottbus, Ende dieser Welt, aber ich fahre über das Ende hinaus, in Cottbus nehme ich die ODEG, die Ostdeutsche Eisenbahn, die saftigen Wiesen mit ihren Rehen kann ich nicht mehr sehen, zu dunkel, nur schwarz und das Neonlicht der ODEG, die Bedarfshalte, Limenz, Grenzlitz, dieser Zug endet hier, bitte alle aussteigen.

Es ist kurz nach halb zwölf. Ich rolle Eriks Rad auf den Bahnhofsvorplatz, und hier ist niemand. Aber es riecht nach Berlin. Nach Kichererbsen und Harissa. Die Breslauer Straße liegt dunkel vor mir, aber rechts, neben dem Bahnhof, leuchtet es rot, Falafel, leuchtet es, ich lehne mein Rad an die Wand und gehe rein, und wirklich, es duftet nach frischem Falafel, Kichererbsen und Petersilie. Rechts Regale voller Gläser und Dosen, links die Theke, ich höre das Prasseln des heißen Öls, das Murmeln, in das ich eingetreten war, versiegt. Guten Abend!, sagt ein Mann, er steht mit einer großen Kelle vor der siedenden Schüssel und nickt mir zu. Neben ihm sitzen zwei jüngere Männer und eine ältere Frau, sie trägt ihr geblümtes Kopftuch locker um das Kinn gebunden, darunter schauen graue Haare hervor, sie schaut zu mir, sagt nichts. As-salāmu ʿalaikum, sage ich, da lächelt sie, sagt aber noch immer nichts, nickt. Haben Sie noch geöffnet? Eigentlich nicht, sagt der Mann, aber schauen Sie sich ruhig um, wir wollen gerade essen.

Ich gehe zu den Regalen, betrachte die verschiedenen Dosen Kichererbsen, die riesigen Dosen voller Tomatenmark, Gläser mit eingelegtem Gemüse, kleine Tütchen mit verschiedenen Gewürzen, Cumin, Piment, Zimt, Kurkuma, Paprika, Chili, bis ich schließlich das vertraute Gelb und Rot erblicke, kleine und große Dosen und die Tuben Harissa, der kleine Leuchtturm darauf, Harissa, Le Phare du Cap Bon, Tunisie. Richtige Harissa. Ich nehme eine kleine Dose, gehe zum Tresen. Noch immer sprechen sie nicht miteinander, warten damit, bis ich wieder weg bin, schauen mich an. Die Frau sagt etwas zu dem Mann. Haben Sie Hunger?, fragt er. Mein Magen knurrt leise, ich glaube nicht, dass sie es hören können, aber die Frau sagt wieder etwas, diesmal bestimmter, und der Mann sagt: Kommen Sie, ich mache Ihnen ein kleines Sandwich. Er nimmt die Falafelbällchen aus dem siedenden Fett, legt sie auf ein Küchentuch, nimmt eine Pide in die Hand. Scharf, fragt er. Scharf, sage ich. Die alte Frau sagt etwas auf Arabisch, der jüngere antwortet, sie lachen, der Mann, der mich bedient, sagt: Sie kommen nicht von hier, sagt meine Mutter, scharf essen die Deutschen nicht, er kleistert Harissa auf das Pide, legt Salatblätter hinein, Zwiebeln, verteilt die Falafelbällchen, nimmt eine Kelle mit Sesamjoghurt, wickelt das Ende in Aluminium ein. Meine Mutter kommt aus dem Land von Meer und Wüste, sage ich. Aber sie ist auch Europäerin. So halb. Immer gespalten. Er übersetzt. Die Alte sagt etwas, er übersetzt es mir zurück: Sie sagt: Gott gibt uns die Heimat, Gott nimmt uns die Heimat. Unser Zuhause ist, wo wir unter Unseresgleichen essen. Ich nehme mein Sandwich und die Tüte mit der Harissa. In schāʾa ʾllāh, sage ich. Shukran. Haben Sie vielen Dank.

Und da ist er wieder. Falk Schloßer. Falk, wie er sich schüttelt, dass Deutsche jetzt Arabisch sprechen, mitten auf der Breslauer Straße. Ist doch kein Verbrechen, dass man in seiner Heimatstadt Deutsch sprechen will, sagt Falks Stimme in meinem Nacken. Setzen Sie sich, sagt der Mann und zeigt auf einen Stuhl, ich schüttele den Kopf, ich muss Falk hier rausbringen, weg von den Menschen hier. Ich sitze lieber draußen, sage ich. Die Breslauer Straße ist leer, meine Schritte hallen durch die warme Dunkelheit. Ich setze mich auf die Bank vor den Laden, beiße in meinen Falafel. Kichererbsen, Petersilie, dann Knoblauch, Olivenöl, Joghurt, Sesam, dann Chili auf der Zunge. Paul Witte beobachtet mich von oben.

Ich hole mein Handy raus. Zwölf Anrufe in Abwesenheit. Ich wische sie alle weg. Schreibe Katja: Ich musste weg. Bin wieder da. Melde mich morgen.

Ich fahre zu meinem Bett, in meine Wohnung, in der man nur auf dem Stuhl stehend aus dem Dachfenster nach draußen blicken kann. Aber ich will nichts mehr sehen. Ich will Chili auf der Zunge und Dunkelheit. Mein Fingernagel bleibt an meinem Laken hängen und reißt ein.

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wieso ist es

WEIBLICH

wenn der bauch

BAUCH

sein darf

ohne diesen

SCHNITT

quer durch

die organe

einfach bauch

ganzer bauch

ohne

OBEN

und

UNTEN

sondern ein

kugelrundimkreisfließender

BAUCH

unter einem

KLEID?

was ist das?

das gedicht, das ich geschrieben habe. ich wollte es dir eigentlich zeigen, damals am heinrichplatz, im wankenden boot

das würde janine gefallen. und erik

dir hat es nicht gefallen. du bist weggerannt. weil ich kleider anziehe, bist du abgehauen, und jetzt kuschelst du mit blauen körperpanzern in grenzlitz

sonst bist ja immer du von mir abgehauen

stimmt nicht

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Wumms. Wumms. Wumms. Meine Matratze vibriert, der Techno holt mich aus dem Schlaf, unter mir die Nachbarin brüllt, der Kleine brüllt zurück, Türknallen. Kein Mann diesmal. Die Sonne fällt noch nicht auf die Matratze, der schmale Strahl ist erst in der Mitte des Zimmers angekommen, Sonne, mal wieder, seit Wochen ist es trocken, kein Regentropfen, kein einziger.

Ich setze mich auf. Grenzlitz. Gestern war Katjas Rede bei der Feuerwehr. Das Eichendenkmal für den Robur. Morgen Zuckerfest. Und heute? Mein Kalender sagt: Heute Abend Ergebnisse Telefonumfrage. Er sagt auch: heute Öffnung Rotkäppchens Wald. Das hatte ich völlig vergessen. Der Kalender sagt: noch sechs Tage bis zur Wahl.

Die Blätter im Limeswald sind nicht mehr hellgrün, der Frühling ist vorbei. Tiefgrün wiegen sie sich im leichten Sommerwind, manche von ihnen, ganz oben an den Spitzen, sehen fast gelb aus, sie haben Durst. Ich auch. Es geht schon eine Weile bergauf, erst den schmalen Schotterweg hinter dem Bahnhof, dann den Waldweg, der sich den Limesberg hinaufschraubt, immer in Kreis schraubt mich der kleine Weg auf den Berg, aber ich packe das jetzt, auch ohne Elektro, wie oft bin ich jetzt schon hier hinaufgefahren, zu Erik? Da höre ich wieder den Kuckuck, jedes Mal begrüßt er mich hier, und jedes Mal will ich seinen Ruf aufnehmen, aber ich weiß, sobald ich stehen bleibe und mein Handy raushole, hört er mit dem Rufen auf, er will nicht aufgezeichnet werden, und wem sollte ich seinen Ruf noch schicken? Also fahre ich weiter, ich versuche, ihn mir zu merken, seinen hellen Ruf aus dem Wald, und wie er zwischen den Bäumen hallt, weitergegeben in Tausenden tiefgrünen Blättern. Weil ich ihn bald nicht mehr höre? Warum? Wo bin ich denn bald? Rechts von mir erscheint das Schild: Rotkäppchens Wald.

Auf der Lichtung laufen Menschen umher, Kinder steigen die Holztreppen zu den tieferen Baumhäusern hinauf und hinab, rennen um den Pavillon herum, Erwachsene stehen an den Kofferräumen ihrer Autos und kramen darin herum, und die Lichtung ist nicht mehr von dem Geknatter der Kettensäge, von dem Dröhnen des Schleifgeräts erfüllt, auch nicht von dem Kuckuck oder dem Surren der Käfer, sondern von Menschengemurmel und Kindergekreische.

Inmitten des Gewusels entdecke ich Erik, Zwei-Meter-Erik in seinem grünen Kleid mit lila Blüten, bis zu den Knien geht es ihm, oben lassen die schmalen Träger seine Schultern breit erscheinen heute, muskulös, Kettensäge, Hammer, Schleifen, Erik hat Muskeln bekommen. Aber ein zartes Schlüsselbein, noch immer. Ich umarme ihn, er beugt sich zu mir herab, ich drücke ihn kurz richtig an meine Brust, er lässt es geschehen, befreit sich dann, lächelt. Ausgebucht, sagt er, das kommende Wochenende ausgebucht! Kurz sehe ich ein Strahlen in seinen Augen, dann ist es wieder weg, getrieben huscht sein Blick über den Platz, Klopapier in Haus vier und Sprudelwasser im Pavillon, sagt er.

Ich bringe Klopapier und Wasser, verteile Zukunftspläne mit den Standorten der Fahrräder, erkläre, wie man von hier aus in die Stadt kommt, mit dem Zug, der noch fährt und fahren wird, weil Erik im Stadtrat dafür sorgen wird, ich empfehle Janines Café und den Spazierweg am Limes, die Nikolaikirche und die Tuchfabrik. Ich blicke hoch zum Piratenschiff und meine, dort oben zwei Beine baumeln zu sehen, zwischen den Blättern, jetzt fliegt jemand anderes über den Limeswald, bestimmt hat jemand das Baumhaus gemietet und fliegt. Auf dem hängenden Sofa im Pavillon sitzen zwei Frauen und reden, es fließt, die Menschen fließen in seine Baumhäuser und in den Pavillon.

Da zupft mich ein Kind an meinem T-Shirt, ich schaue hinab, Elli strahlt mich an. Nana!, ruft sie und pustet mir Seifenblasen ins Gesicht, sie dreht sich um, Papi, Nana ist auch hier! Ich sehe mich um, tatsächlich, da hinten. Grinsen auf der Lichtung in Rotkäppchens Wald, hochgezogene Augenbraue, sprühende Augen. Für einen Moment halte ich die Luft an, warte, dass etwas passiert, dass alle sich umdrehen, sich anschauen, jemand ruft, er solle abhauen, er habe hier nichts zu suchen, aber nichts passiert, sie gehen einfach an ihm vorbei, die Leute, er ist einer von vielen hier. Falk Schloßer.

»Na, guten Tag!«, feste Stimme, »oder begrüßt du mich jetzt auch ni’ mehr?« »Guten Tag!«, ich strecke ihm die Hand entgegen. Breiteres Grinsen. Harter Händedruck, ich drücke zurück. »Was machst denn du hier, Falk? Entdeckst du deinen inneren Hippie?« »Na, der Limeswald gehört doch wohl noch allen?« »Vermisst dich deine Justizvollzugsanstalt nicht?« »Der war gut.« Lachen. »Hab heute frei, nächstes Wochenende dann Nachtdienst.« Ich blicke mich um. »Ist Ellis Mama auch …?« »Nee«, Falk winkt ab, »die ist heute mit ihrem Neuen … und der und ich, das verträgt sich nicht. Vielleicht hat der Angst vor mir!« Grinsen.

Mein Blick sucht Erik, dem wird das nicht gefallen, hoffentlich treffen die beiden nicht aufeinander. Warum ist Falk gekommen? »Papi, darf ich auf das Baumhaus?« Elli zeigt mit ihrem kleinen Finger die Sprossen entlang, die an dem dicken Baumstamm neben uns befestigt sind, dann die Strickleiter hoch zum Piratenschiff, »da ist ein Piratenschiff, darf ich da rauf? Von da kann man bestimmt über den Wald sehen, bis nach Thüringen rüber, zu Oma und Opa!« Thüringen? Ich sehe Falk an, er zuckt zusammen, kaum merklich. »Ich dachte, du kommst aus Grenzlitz?« »Komme ich ja auch«, sagt er, »bin hier aufgewachsen, aber meine Eltern, die kommen aus Jena.« »Aha, eingewandert, wa?« »Na, das kannste doch jetzt nicht vergleichen! Ob ich aus einem Eselsdorf irgendwo bei Damaskus komme oder aus …« Er unterbricht sich, merkt es, ist auf meine Provokation reingefallen. Räuspert sich. Heute habe ich wirklich die Oberhand, es fällt mir nicht schwer.

Elli geht zum Baum, klettert zögerlich die ersten zwei, drei Sprossen hoch. Es ist zu hoch für sie. Ich schaue Falk an, der beobachtet seine Tochter, sagt nichts. »Weißt du was, Elli«, sage ich, »das hier ist ein bisschen zu hoch für dich, aber bestimmt darfst du in ein anderes, vielleicht das Hexenhaus?« Sie springt, landet weich auf dem Rindenmulch. »Lass uns Erik fragen, okay?« Ich sehe mich um, Erik steht jetzt bei der breiten Holztreppe zwei Häuser weiter, im Kleid, lächelnd mit Schrippe im Mund, er sieht glücklich aus. »Nu gloar«, Falk nickt, sein Grinsen wird ein Lächeln, an dem etwas nicht stimmt, seine Mundwinkel ganz hinten rechts und links gehen runter statt hoch, kleine Haken, »nu gloar, gehen wir Erik fragen!«

Elli rennt los, sie rennt zu Erik in ihrer Jeanslatzhose, darunter rot-weiß geringeltes T-Shirt, Pippi vor Erik im Kleid, ein schöner Anblick, kurz. Dann aber erstarrt Erik, als er Elli sieht. Blickt hoch, schaut sich um, sieht Falk, wird ernst. Stellt sich auf, breite Beine, Brust raus, Kinn hoch, nickt Falk zu: »Falk.« »Erik.« Falk hält ihm die Hand hin. Erik schüttelt die Hand, zieht sie dann zurück, etwas zu schnell. Blickt auf den Boden. Unterwerfung. Falks Kinn geht ein Stück höher, fast unmerklich, aber nur fast.

»Na, Erik, da haste ja was aufgebaut.« Erik schaut hoch in den Wald, sagt nichts. »Doch, bin beeindruckt. Ich geb’ zu, ist jetze nicht so mein Ding, hier wie Tarzan durch die Bäume zu klettern, aber scheinbar gibt’s ja noch genug andere Tarzans auf der Welt, wa?« Falk schlägt mit der Hand gegen Eriks Schulter, er zuckt zusammen. »Papi, darf ich jetzt?«, Elli zupft an Falks T-Shirt. »Die Elli hier würde gern mal hoch auf das Baumhaus da«, Falk deutet auf das Piratenschiff, »sie kann doch sicher mal hoch?« Der will Ärger. Natürlich ist das Piratenschiff zu hoch für eine Sechsjährige, und das weiß auch Falk. So, wie er sich Sorgen um sie macht, wenn sie nur mal bei den Nachbarn ist, wird der sie niemals alleine die bestimmt fünfzehn Meter hochklettern lassen. Wieso nicht das Hexenhaus? Das ist hoch genug, und Elli schien mit dem Vorschlag ganz zufrieden. Erik geht in die Knie, schaut Elli an, »das ist ein bisschen zu hoch, Elli. Die Leiter da oben wackelt ganz schön!« Elli schüttelt den Kopf, »nö! Nicht zu hoch.« »Das geht nicht, Elli. Vielleicht wenn du älter bist. Aber mit deinen sechs Jahren ist mir das zu gefährlich.« Erik bleibt hart. Zeigt auf die Schaukeln weiter hinten. »Wenn du willst, kannst du ein bisschen schaukeln!« Elli wird wütend. »Ich will aber nicht schaukeln. Ich will da hoch!« Sie zeigt auf das Piratenschiff.

Erik steht auf, sieht Falk an. »Falk, das sind gut fünfzehn Meter.« »Das schafft meine Elli schon.« Erik schüttelt den Kopf. »Das geht nicht.« »Boah, ihr Flitzpiepen!« Falks Augen sprühen. »Ihr traut euch echt gar nichts!« Er packt Elli an der Hand, »komm, wir gehen, was sind das hier alles für …? Was hab ich dir gesagt?« Elli sagt nichts, sie ist jetzt wütend. Jetzt wollte sie auf das Piratenschiff hoch. »Schisser sind das!«, sagt Falk, jetzt ist er wütend, zieht an ihr, sie bleibt stehen. »Wir gehen, habe ich gesagt!« »Aber ich will …« Er reißt an ihrer Hand, sie fängt an zu weinen, Protestgeheul, Falk zieht nochmal, sie lässt sich jetzt ziehen, aber weinend, er die weinende Elli hinter sich her, über die Lichtung, und verschwindet zwischen den Bäumen des Limeswalds.

Erik sagt nichts. Bewegt sich nicht. »Es tut mir leid, echt, aber ich habe ihn nicht hierhergebracht«, sage ich, »ich wusste nicht einmal, dass er kommt«. Erik blickt auf den Boden, verlagert das Gewicht von einem Bein auf das andere, lässt dann den Blick über sein Werk gleiten, über den Pavillon, die Baumhäuser, die Menschen hier, seine Augen sind gefüllt von, was ist das, Wut? Er blickt mich schließlich an. Wut. Die Wut über das Blau, hier in Rotkäppchens Wald. »Aber wegen dir war er hier.«

54

Wir starren alle auf die kleine Leinwand im Pavillon, darauf projiziert die Mail von der Limeszeitung, morgen früh werden die Ergebnisse in der Zeitung veröffentlicht, heute bekommen wir sie vorab. Alle sind hier, die Zukunftsgrünen und Bürger für Grenzlitz, Katja und Kurt und Erik, Uschi und Pia, nur Janine ist in ihrem Café geblieben. Niemand regt sich. Vor uns grüne, blaue, schwarze und rosa Balken. Grün und blau und schwarz ziemlich lang. Fast gleich lang. Mein Magen kribbelt. Das war unser Ziel, und wir haben es möglich gemacht. Aber so viel blau?

Die Balken, die in Eriks Pavillon an der Wand stehen, sagen: Paul Witte 35,6 Prozent. Katja Stötzel 35,2 Prozent. Michael Klammer 26,5 Prozent. Und Kerstin Groth von den Pinken 2,7 Prozent.

Da sind sie beide an die Wand projiziert, die blau regierte Stadt und die zukunftsgrün regierte Stadt. Beide sind möglich. 2,7 Prozent. Mit den Stimmen der Pinken wäre Katja vorne, dann hätte sie 37,9 Prozent. Dann müsste sich der konservative Michael Klammer zurückziehen, nach der ersten Wahlrunde. Aber so? Wenn Katja in der zweiten Runde gegen Witte antritt, wählen die Konservativen dann wirklich Zukunftsgrün, wählen sie nicht eher Blau? Nach der ersten Wahlrunde gegen Paul Witte nochmal ins Rennen zu gehen, das wird für Katja nicht nur mutig, sondern gefährlich. Für alle hier. Falls diese Telefonumfrage der Limeszeitung repräsentativ ist. Ist sie das?

Das alles rattert in unseren Köpfen, man kann es hören, aber noch immer sagt niemand etwas. Katja starrt nach vorne, langsam wendet sie den Kopf ab, schaut mich an. »Und wenn wir uns nochmal mit ihr treffen?«, frage ich. »Mit Kerstin Groth? Von den Pinkroten?« Ich nenne sie noch immer so, pinkrot, dabei haben sie das Rot längst hinter sich gelassen, sich vor fünf Jahren offiziell in die Pinken umbenannt. Katja schüttelt den Kopf, aber langsam. Ganz langsam wiegt sie ihn von rechts nach links, nach rechts, nach links. »Damit es dann heißt, die Stötzel dränge unliebsame Parteien zum Rückzug, ganz wie früher, oder wie? Ich habe ja mit ihr geredet. Mit Frau Groth. Wie lange habe ich mit ihr geredet! Dass wir zusammenarbeiten können, dass sie mir das pinke Parteiprogramm frühzeitig zeigt, dass wir soziale Forderungen, die wir nicht selbst schon aufgestellt haben, in das gemeinsame Wahlprogramm der Zukunftsgrünen integrieren können. Aber mit der kann man nicht reden, mit der Groth. Die ist stur.«

Katja lässt sich in das hängende Sofa fallen, jetzt kommen auch die anderen in Bewegung, Bierflaschen werden geöffnet, das Ergebnis diskutiert. »Die hat es ja auch leicht, stur zu sein!«, sagt Erik »Die will hier gar nichts verändern, diese Pinken wollen doch gar nichts verbessern für die Leute!« Kerstin Groth betont in den Interviews immer, wie wichtig ihr eine soziale Grenzstadt sei. Leerräume wie die alte Garnfabrik am Limes will sie für Kulturprojekte nutzen, und im Wahlkampf setzt sie vor allem auf den Widerstand gegen einen geplanten Standort der Bundeswehr zwischen Grünlau und Flussburg. Ihr Büro ist tapeziert mit Plakaten gegen Militarisierung, in ihrem Flyer ist nachzulesen, der Aufbau von Militärstandorten sei kein Beitrag zum Strukturwandel am Limes – stattdessen brauche es Investitionen in Bildung und Forschung, Energie aus erneuerbaren Quellen und Zukunftstechnologie. Im Grenzlitzer Stadtrat, in dem Kerstin Groth seit sechs Jahren sitzt, erklärte sie wiederholt ihre Ablehnung des Grenzlitzer Fernwärmeprojekts: Es sei nicht ökologisch genug, da in den ersten fünf Jahren noch auf die Nutzung von Erdgas gesetzt werde. Die Förderung der Entwicklung von grünem Wasserstoff begrüßte Groth zwar, lehnte die Zusammenarbeit mit Siemens aber ab, da der Konzern in Australien den Bau eines der größten Kohlebergwerke der Welt unterstütze. 60 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr soll das Bergwerk fördern, Siemens liefert die Zugsignalanlage – die Proteste gegen diese Pläne waren groß, und Kerstin Groth sprach sich dagegen aus, sich als ökologische Stadt mit »solchen Klimakriminellen« gemein zu machen. Die Pinken fordern deshalb, Siemens aus allen öffentlichen Aufträgen auszuschließen. Also auch aus dem Fernwärmeprojekt.

So entschied sich Kerstin Groth Ende vergangenen Jahres dagegen, dass es die Pinken den Roten und Bürgern für Grenzlitz nicht gleichtun, dass sie Katja also nicht als gemeinsame Kandidatin ins Rennen schicken. Kerstin Groth kandidiert selbst: Für ein solidarisches und 100 Prozent nachhaltiges Grenzlitz. Und sorgt nun womöglich dafür, dass Katja die entscheidenden Stimmen fehlen, um eine Stichwahl zwischen Schwarz und Blau zu verhindern.

Erik hat wieder diese Furchen auf den Wangen, ratsch, ratsch. Er geht zur Musikanlage. Die Grünen und die Zukunftsleute setzen sich nach hinten an Janines großen Tisch, Kurt setzt sich an den Kopf des Tisches und ruft zur Ruhe. Leiser Techno dringt durch die Boxen, verspielt, ein Remix von »Burning down the house«, gemischt mit »Das ist unser Haus«, Talking Heads und Ton Steine Scherben, unterlegt mit Minimal.

Es sind noch sechs Tage bis zur Wahl, die letzten Veranstaltungen sind geplant, die Zukunftsgrünen können jetzt eh nichts mehr ändern, der Plan geht weiter. Heute Abend: Ausschwärmen in den Limeswald, Borkenkäferbekämpfung. Zwei Treffpunkte gibt es, um 17 Uhr bei Erik in Rotkäppchens Wald, für die Eltern mit Kindern; und um 20 Uhr oben bei der Tuchfabrik.

Katjas Handy klingelt, sie zieht sich zurück. Kurt hat alles vorbereitet, mit den Förstern abgesprochen, die Leute schwärmen in Kleingruppen durch den Wald und markieren auf einer digitalen Karte in einer App auf dem Smartphone die befallenen Bäume, an denen sie Holzmehl feststellen. Der Förster und die Bauern fahren dann mit ihren Gerätschaften ran und verteilen die Fangbäume, einige Meter entfernt von den zu schützenden Bäumen, in der Hoffnung, dass die Borkenkäfer vom lebenden Baum ablassen und auf den toten, am Boden liegenden Lockbaum übersiedeln, wie Kurt erklärt. Ende Juni dann gibt es den zweiten Trupp: die Leute schwärmen wieder aus, um zusammen mit den Bauern die befallenen Fangbäume einzusammeln. Kurt ist ganz in seinem Element, er hält eine Karte vom Limeswald hoch, zeigt darauf, wie weit hinein die Trupps vorstoßen sollen, seine Wangen sind gerötet, er sieht jünger aus jetzt, zieht seinen Cordsacko aus, gestikuliert, plant, teilt ein.

Von hinten tippt Katja mir auf die Schulter, sie hält ihr Handy hoch: Die Limeszeitung habe angerufen, flüstert sie, meldet sich gleich wieder, sammelt Reaktionen auf das Umfrageergebnis. Alle Kandidatinnen sollen eine Frage beantworten: Wenn Sie ein Superheld wären, welche Superkraft hätten Sie?

Wir gehen raus, stellen uns an Katjas Auto. Sie holt ihr Notizheft heraus, sagt: Also erstmal das Übliche, schreibt: Überwältigt von der großen Zustimmung, ein Drittel der Stadt, historisch für eine Zukunftsgrüne im Osten, stolz, einen neuen Weg zu gehen für die Stadt, die Region, und dankbar für das Vertrauen der Bürgerinnen, diesen Weg mitzugehen. »Und was sagen wir zum Witte?« Katja blickt in die Baumwipfel. »Besorgt?« »Nein, wie kann denn Demokratie Sorgen machen, das geht nicht.« »Respekt, Anerkennung für so ein beachtliches Ergebnis?« »Nein, wir wollen das nicht gutheißen, dass die Leute Witte wählen, sie sollen ja zu uns kommen.« In meinem Kopf gehe ich es durch. Was sagt Katja zu den Blauen? »Und wenn du nicht auf die Blauen eingehst, sondern die Distanz zum Klammer suchst? Gegen den Stillstand?« »Mit den Blauen verbünden, gegen die Konservativen?« Katja schaut mich an. In ihren Augen ist keine Empörung, sie hat darüber auch schon nachgedacht. »Nicht verbünden«, sage ich. »Aber wir waren uns doch einig, dass wir deinen Wahlkampf nicht von Reflexen leiten lassen, sondern jederzeit ehrlich sind in der politischen Auseinandersetzung. Und wenn wir ehrlich sind, haben Witte und du eines gemeinsam: Ihr seid davon überzeugt, dass es nicht länger so weitergehen kann wie in den vergangenen dreißig Jahren.« Bisschen Verwaltung, bisschen Unternehmenspolitik, das wird schon Arbeitsplätze schaffen, bisschen Geflüchtete verteilen und bisschen Recycling als Umweltschutz? Das wollen die Zukunftsgrünen nicht. Die Blauen aber auch nicht. Die Zukunftsgrünen wollen den Aufbruch. Die wollen eine Politikwende. Anders als die Konservativen. Ich muss an Falk Schloßer denken: Machen wir uns doch nichts vor. Wir stehen an einer Weggabelung. Von hier geht es nur noch da lang oder da lang. Kein Weg durch die Mitte. Eine historische Entscheidung. Wir wollen nur in gegengesetzte Richtungen. Ich finde deine Richtung falsch, aber ich bewundere deinen Mut.

Gibt es Blaue wie Falk, die Katja noch erreichen kann? Wenn Paul Witte ihr öffentlich Respekt zollen kann für ihren Wirtschaftsplan, was er getan hat, kann Katja nicht auch etwas Gemeinsames finden – durch das Leute aufhorchen, die eher konservativ oder blau wählen wollen? Etwas, das das Gefühl bedient, dass sich hier grundsätzlich etwas ändern muss, das sich für sie aber nicht so fremd anfühlt, wie wenn Katja Brennnesseln in ihren Gärten stehen lassen, oder ihr Auto stilllegen will, oder irgendwelches magisches Gas in einem Kraftwerk verbrennen? Etwas, das sich nach gewohnter Erfahrung anfühlt – in der grünen Zukunft? Wie das Denkmal für den Robur-Feuerwehrwagen! Eine Eiche pflanzen als Symbol für den Ausgleich der Treibhausgase, und als Würdigung der vielen hier verbrachten Leben, der über Jahrzehnte verrichteten Arbeit.

Jetzt gehen Katjas Augenbrauen hoch. »Und was wäre so ein Robur, übersetzt in Superkräfte?« »Was stellst du dir denn als Superkraft vor?« »In die Zukunft blicken«, sagt Katja. »Sehen, welche Klimakonzepte funktionieren und welche nicht. Dann wüsste ich endlich wirklich, was ich hier treibe. Ob das alles überhaupt Sinn macht.« Sie reibt sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Mir ist schon aufgefallen, dass sie müder aussieht als vor ein paar Wochen. Die Augenringe von vorgestern sind wegretuschiert, aber man sieht sie trotzdem, an der Form der Tränensäcke. Sie sind dicker geworden. Die Haut im Gesicht ein bisschen blasser. Da sind kleine Fältchen, um die Mundwinkel, auf der Stirn. Und ihre Haare. Es sitzt nicht mehr alles. Sie sind nicht mehr so stark und selbstbewusst, sondern trockener irgendwie, strohiger. Müde Haare.

»Nein«, sage ich. »Du reist nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit.« Unverständnis, zwei grüne, offene Ringe in ihren Augen. »Zu den ewig Gestrigen, oder was?« Ich schüttele den Kopf. »Du interessierst dich nicht nur für die Zukunft, sondern für die Vergangenheit der Menschen. Denk an das Robur-Denkmal! Die Leute haben das Gefühl, sie werden nicht gesehen. Das, was ihnen wichtig war, wird belächelt, oder nicht einmal mehr gekannt. Stell dir vor, das würde dir passieren«, sage ich, »alles, was du jetzt leistest, das alles würde in zwanzig, dreißig Jahren für völlig bescheuert erklärt, von deinen Kids, von deiner Emma, weil du angeblich null Durchblick hattest, weil alles, was wir jetzt wichtig finden, nicht mehr gilt …« »Du musst mir echt nicht erklären, wie es meinen Eltern mit der Wende ergangen ist, Nana.« Katja verschränkt die Arme vor der Brust. Das war nicht gut. Ich hätte gerne ein Bier, blicke zum Pavillon, von dem wieder leiser Techno her weht. Ich reibe durch mein Gesicht. Ich beiße meine Backenzähne aufeinander, es drückt im Kopf, ich merke, ich habe geknirscht letzte Nacht, sie tun weh, die Zähne, und mit ihnen mein Schädel. Ich habe mies geschlafen. Zigmal beschlossen, nie mehr nach Berlin zurückzukehren. Soll er doch machen, was er will. Tanzen. Kleider anziehen. Eine Frau sein. Soll sie doch. Solange sie mich damit in Ruhe lässt. Sie. Noah. Was will er denn überhaupt von mir, was soll das? Dass ich bettele, damit er wieder mit mir redet?

»Also was ist dein Punkt?« Katja verliert die Geduld. Schaut mich an. Ich atme tief durch, lockere meine Schultern, mein Nacken ist steif. »Deine Superkraft ist, zurück in die Vergangenheit zu reisen, um damals schon eine Gemeinschaft zu schaffen, verstehst du? Die alten Wunden zu schließen, indem du den Respekt, der zur Wendezeit gefehlt hast, rückwirkend bezeugst. Wie sagst du immer? Man muss die Dinge vom Ende her denken, oder?« Katja versteht noch nicht ganz. Ich versuche, meine Idee besser zu erklären. Für ihren Wirtschaftsplan hat sie es ja getan: Sie ist fünf Jahre in die Zukunft gereist und hat zurückgerechnet, was heute dafür getan werden muss, damit die Stadt in fünf Jahren klimaneutral funktioniert. Sie ist in die Vergangenheit gereist, von der Zukunft aus. »Reise noch weiter zurück«, sage ich: »Reise in das Leben der Leute vor dreißig, vierzig Jahren. Um zu verstehen. Das Robur-Denkmal kann ein erstes Zeichen dafür sein.« Katja ist sich nicht sicher. »Das klingt so schrecklich konstruiert«, sagt sie. Klar, bei den Feuerwehrleuten sei die Idee schon gut an angekommen, eine Eiche zu pflanzen, als Denkmal an ihren Robur. Aber wenn sie im Interview in der Limeszeitung von deutschen Eichen spricht? »Klingt das nicht lächerlich deutschtümelnd? Verlieren wir da nicht auch Leute? Unsere Leute?« Das Telefon klingelt. Katja seufzt. »Das sind sie schon.« Ich nicke ihr zu. »Die Zukunft, Katja, aber von der Vergangenheit aus!« Sie hebt eine Augenbraue, dreht sich um, geht ran.

55

Der Limeswald schließt sich um mich, hüllt mich in sein Dunkelgrünorange. Sie alle verschwinden, Katja und die Feuerwehrleute, Kurt und die anderen Borkenkäferjägerinnen, Falk Schloßer und Elli mit ihren Piratenschiffwünschen und Noah, sie alle gibt es nicht mehr, ich spüre es, wie sie aus meinem Kopf verschwinden, von der kühlen Waldluft sanft herausgeblasen werden. Kein Geflüster mehr in meinen Ohren, keine Blicke in meinem Nacken. Hier gibt es nur noch mich und den Wald.

Ich bin alleine los. Mindestens zu zweit, hat Kurt natürlich gemahnt, wie der ewige Lehrer, der er ist. Aber ich wollte niemanden mehr in meinem Kopf, keinen Menschen, der mich zwingt, seine Gedanken nachzuvollziehen, zu beantworten, ich war müde plötzlich, nach dem Anruf der Limeszeitung, müde: und bitte keine Kompromisse mehr. Ich laufe nur der Nase nach, rechts, links, vor, zurück, ich mache es intuitiv, sehe den kleinen Punkt auf meiner Handykarte in der App, das bin ich, wenn ich wollte, dann könnte ich für immer weiter laufen, auf diesem erdig-blättrigen Boden, der nach überreifem Bärlauch riecht und unter meinen Füßen leicht knistert, als würde er sie mir erlauben, meine Schritte auf ihm. Ich höre Vogelgezwitscher und muss an meinen Biolehrer denken, der uns beibringen wollte, wen wir da hören, er spielte uns die Gesänge vor und sagte uns die Namen der Vögel dazu, Amsel, Rotkehlchen, Meise, jetzt höre ich gib-gib-gib-gib-gib-mir-würziges-Bier!, aber was für ein Vogel war das nochmal? Ich komme nicht mehr drauf.

Da fällt er mir auf, vor mir der Baum, seine Rinde ist nicht ganz ebenmäßig, als wären ihm einige Schuppen ausgefallen, ich gehe näher ran, und ich sehe es, das Holzmehl, wie Schuppen in den Haaren. Ich überprüfe die anderen Bäume daneben, tatsächlich, sie alle schuppen und mehlen. Ich markiere den Punkt mit der App, die wir uns bei Kurt runtergeladen haben, jetzt sieht der Förster, dass er hier einen Fangbaum ablegen muss. Mein Nacken zieht sich zusammen. Jetzt wissen die wieder, wo ich bin.

Würden wir im Wald bleiben, Noah und ich, hätten wir all diese Probleme nicht. Hier ist doch ganz egal, was wir tragen, Hose, Kleid, hier ist doch egal, ob wir uns die Fingernägel lackieren, ob wir tanzen oder sitzen oder gehen, ob wir Brüste haben oder keine oder nur ein bisschen, was schert es den Wald. Ich kann Erik verstehen. Kann jede Nacht in seinem Baumhaus schlafen und über die Wipfel schauen und fliegen. Hier würden wir uns nicht streiten. Noah und ich. Hier geht es nicht darum, wie man gesehen wird, von den anderen. Hier wird man überhaupt nicht gesehen, also wird man auch nicht falsch gesehen. Mich sieht niemand. Nur dieser Vogel da, der wie verrückt singt, den ich aber nicht sehen kann. Ich blicke hoch, sehe nur Buchenblätter, tiefgrüne Buchenblätter, und darüber den blau-orangenen Himmel. Ich suche die Äste ab, sehe niemanden. Gib-gib-gib-gib-gib-mir-würziges-Bier! Buchfink?

War ich zu hart? Ich stelle ihn mir vor, in seinem Blümchenkleid, nachts, tanzend. Die Augen geschlossen, konzentriert auf die Oud, die Arme in den Himmel wachsend, seine Füße verwurzelt im Boden.

Mein Handy pingt, der Artikel über die Superkräfte ist jetzt online: Superhelden für Grenzlitz: Zwei Zeitreisende, eine Unsichtbare und ein Gedankenlenker steht da. Ich klicke darauf, vier Gesichter, jeweils ein kleiner Text dazu, der Artikel beginnt mit Michael Klammer, schwarze Hornbrille, dicke Wangen, weiße Haare rechts und links, oben Glatze, breites Lächern. Michael Klammer will in die Zukunft sehen. Wie gut, dass ich Katja abgeraten habe, na also. Es folgt Paul Witte, wer hat diese Reihenfolge bitte festgelegt? Wieso kommt Katja erst so spät? Braver-Schwiegersohn-Lächeln, Grübchen, Paul Witte will gerne verändern können, was in den Gedanken der Leute passiert, rechtzeitig eingreifen, bevor sie Verbrechen begehen, sie davon abhalten, Unfug anzustellen. Wäre das nicht Gedankenkontrolle?, fragt die Limeszeitung, und Witte antwortet: Aber im Guten! Damit könnte man doch einfach den Unsinn in den Köpfen der Menschen abstellen, und niemandem würde etwas verlorengehen. Keine Verbrechen mehr, kein Islamismus mehr. Wer kann denn etwas gegen solch eine friedliche Welt haben?

Kerstin Groth von den Pinklinken kommt als nächste, Katja haben sie wirklich an das Ende gestellt. Groth jedenfalls will unsichtbar sein, wer unsichtbar ist, kann überall mit dabei sein, hören, was die Menschen wirklich denken, und die Welt so besser verstehen. Okay, der große Lauschangriff und Gedankenkontrolle, hat denn die Groth keine Beraterin? Dann endlich Katja. Die wohl überraschendste Superkraft wünschte sich die Chefin der Zukunftsgrünen, steht da, denn die Frau, die stets in die Zukunft blickt, möchte nun in die Vergangenheit reisen, um die Lebenswerke der Grenzlitzer zu würdigen. Katja Stötzel überrascht mit ihren Plänen, auf dem Grenzlitzer Marktplatz ein Denkmal für den Robur zu errichten, das historische Löschfahrzeug des VEB Löschgerätewerks Grenzlitz und Grünlau. Die harte Arbeit unserer Eltern und Großeltern solle endlich gewürdigt werden, so Stötzel. Die Zukunftsgrüne denkt dabei an eine Quercus Robur: eine deutsche Eiche. »Die Eiche verbindet unsere Vergangenheit und unsere Zukunft. Sie erinnert an unsere Stärke, und sie zieht gleichzeitig mehr CO₂ aus der Luft als die meisten anderen Bäume.« Ich stecke das Handy weg. Lasse mich wieder in die Bäume fallen. Ja, es ist der Buchfink.

Als ich nach Hause komme, ist mein Körper angenehm schwer und leise. Nichts rauscht, nichts wispert, einfach nur still und müde schleppe ich mich die Treppen hinauf, ich freue mich auf mein Bett, auf die Laken, auf die Stille. Doch schon hier höre ich es, schon im ersten Stock, und mit jeder Stufe wird es lauter. Mein Herz rast sofort los, noch bevor mein Kopf verstehen kann, was das für Geräusche sind. Es klingt nach Alarm. Eine Frauenstimme, aber eine völlig eskalierte Frauenstimme, ein Kreischen, in die Ecke gedrängte Ohnmacht, irre, weiß glühende Wut. Ich gehe weiter, langsamer. Sie schreit auf Deutsch, aber ich kann kaum ein Wort verstehen. Sie zischt und brüllt, und es poltert, es poltert gar nicht gut, jetzt klirrt es, Scherben, sie brüllt nicht mehr. Es ist leise. Eine Männerstimme schiebt sich durch die Dunkelheit, bassige Männerstimme, betont unaufgeregt, er spielt den Vernünftigen, redet ganz ruhig. Sie antwortet etwas ruhiger, aber stinkwütend, sie stößt Worte aus. Ich beschleunige meinen Schritt, schnell vorbei an dieser Wohnung, bevor es wieder eskaliert, denn dann müsste ich klingeln und ich mag einfach nicht mehr. Mein Herz rast. Bitte nicht. Bitte nicht. Ich bin voll. Es passt nichts mehr rein.

Meine Hand zittert, ich brauche in paar Anläufe, ehe ich mit dem Schlüssel das Schloss treffe, dann schaffe ich es, drehe schnell um, gehe rein, macht die Tür zu, schließe ab, zweimal, lehne mich gegen die Tür, atme langsam aus, lasse mich sinken auf den Boden.

Ich muss an den Kleinen denken. An das Kindergebrüll von all den Morgen, das Türenknallen, das trotzige Geschrei, das Rumpeln. Man hört das Kind nicht, aber bestimmt schläft er nicht. Er liegt im Bett, wach, hellwach, die Augen geschlossen, damit sie sie nicht sehen, seine Wachheit, damit er nicht zum Zeugen wird, denn ein Zeuge ist schuld an allem, was er sieht. Ein Zeuge macht einen harmlosen Schlag gegen die Wange, einen harmlosen Schubser quer durch das Wohnzimmer zu Gewalt gegen seine Mutter. Mach nicht die Augen auf. Wenn sie es sehen, dann bist du dran. Schuld.

Sie wird wieder laut, sie brüllt wieder los, sie kreischt, Frauen werden so hässlich in ihrer Ohnmacht, dieses Kreischen, wie eine Schimpansin, da ist nichts Menschliches mehr, nur ein Tier, in die Ecke gedrängt. Der Boden vibriert, es kracht, als wäre ein Schrank umgefallen, alles wackelt. Aus dem Kreischen wird ein Schluchzen, ein hemmungsloses Schluchzen.

Die Polizei rufen? Ich sehe Paul Witte vor mir, Paul Witte vor der Tür, G’n Abend. Ich rufe Katja an, 23:16 Uhr. Es klingelt nicht mal. Hier ist die Mailbox von … Sie hat das Handy aus. Erik? Ich sehe Erik vor mir, in der Tür, mit seinen schmalen Schultern, im Kleid, vor diesem Mann, ich habe ihn nie gesehen, diesen Mann, ich habe ja nicht mal meine Nachbarin gesehen, aber ich habe ein Bild, breite Schultern, dicke Nase vom Schnaps, lichte Straßenköter-Haare, helle Jeansjacke. Und Eriks Furchen. Ratsch, ratsch. Ich versuche es trotzdem. Das Handy klingelt, aber er geht nicht ran. Wahrscheinlich ist er mit Sare.

Wieder erheben sich die Stimmen, wieder schreit sie los, wieder Gepolter, etwas wird über den Boden gezogen, ein Stuhl, ein Tisch, dann knallt es. Ich tippe auf Falk Schloßer. Zögere. Es klirrt. Schluchzen. Ich tippe drauf. Es klingelt einmal, zweimal, dann geht er ran, seine Stimme klingt alarmiert, »ja, Nana, was ist los?« Ich atme ein, aber da passt nichts mehr rein, ich bin voll, kurz bin ich irritiert, dann weiß ich wieder: ausatmen, ich atme aus, mache Platz. »Kannst du kommen, hier stimmt was nicht, bei den Nachbarn, der Typ rastet aus, und ich weiß nicht …« »Schick mir die Adresse. Ich fahr los.« Ich atme tief durch, schreibe ihm die Adresse, stehe auf, gehe in die Küche, mache den Wasserkocher an. Das Schluchzen hat inzwischen aufgehört, wurde wieder ersetzt durch bassiges Gemurmel, ich höre leises Klirren, jemand sammelt Scherben ein. Ich öffne den Schrank, er ist noch immer leer, richtig eingezogen bin ich nie, es gibt noch immer diese alte Schachtel Tee, Melisse, ich nehme einen Beutel, rieche daran, riecht nach nichts mit Pappe, ich gieße den Tee auf, setze mich auf an den Plastiktisch, die heiße Tasse in meinen Händen tut gut.

Das Klingeln durchreißt die Luft, sofort setzt mein Herz wieder ein, es rast, plötzlich habe ich das Foto von Falks Waffe im Kopf. Im Flur horche ich, Gemurmel, vielleicht haben sie sich beruhigt, dann habe ich Falk umsonst aus dem Bett geworfen, ich bin durchgedreht, vielleicht war gar nichts, bisschen Streit, immer muss ich mich einmischen. Ich drücke auf den Summer, fünfter Stock, sage ich durch die Sprechanlage. Da geht es wieder los, sie wird wieder laut, lauter, sie brüllt ihn an, er wird jetzt auch laut, er bellt zurück, und dann nimmt ihre Stimme eine neue Stimmlage an, nicht das hohe Kreischen, sondern ein tiefes Kreischen irgendwie, direkt aus ihrem Bauch, nicht mehr Schimpanse, sondern Löwin, ich höre eine Tür knallen, ich höre, wie sie ihn stoppen will, und dann wackelt es wieder, Möbel, die durch das Zimmer gezogen werden, oder geschoben, und jetzt höre ich die Kinderstimme, sie brüllt nicht wie sonst, sie weint, sie fleht, es knallt, etwas ist unten umgefallen. Da klingelt es, nicht bei mir, sondern unten. Bei ihnen.

Augenblicklich ist alles still. Dann höre ich die Bassstimme, sie redet beschwörend, ich höre Schritte, dann tönt es aus dem Treppenhaus, feste Stimme, Falk: »Schönen guten Abend, die Dame, brauchen Sie Hilfe?« Ich höre eine Frauenstimme leise reden, ich gehe ins Treppenhaus, gehe die Treppe halb runter, sodass ich Falk sehen kann, aber die Nachbarin mich nicht sehen kann. Er hat eine Hand an seinem Gürtel, die andere hängt locker runter. »Vielen Dank, alles gut, wir gehen jetzt schlafen, entschuldigen Sie den Lärm, alles gut.« »Kann ich mal mit ihrem Mann sprechen?« »Nein, nein«, »schönen guten Abend, kann ich helfen?« Das ist der Mann. »Ich weiß nicht«, sagt Falk, »das kommt drauf an, was du willst: Eine Nacht in der Zelle? Denn so benimmste dich hier, als würdeste unbedingt mal gern auf der Wache übernachten.« »Was ist ’n jetze dein Problem, du Arschloch?«, pöbelt der Mann los, die Frau schlägt schnell die Tür zu. »Lass!«, brüllt der Mann sie dahinter an. »Die rufen noch die Bullen!«, brüllt die Frau, ein Kampf findet hinter der Tür statt, die Tür bleibt zu.

Falk zückt sein Handy. »Ja, ’n Abend auch, Tobi, Falk hier, na Schloßer«, er lacht, »gut, gut, danke, uns geht’s gut, nee, pass auf: Nikolaistraße 17, könnt ihr da bitte mal Kollegen vorbeischicken, hier meint einer, seine Frau prügeln zu müssen, stark alkoholisiert, also passt ’n bisschen auf. Nee, deutscher Mitbürger, noh. Du sagst es, so isses. Gegen Kind und Frau, wie es aussieht. Nee, den Kleinen konnte ich nicht sehen, die Frau hat ein ordentliches Veilchen, soweit ich das beurteilen konnte. Noh. Alles klar, Tobi, danke dir.« Er legt auf.

Falk setzt sich auf die Stufen, ich gehe runter, setze mich dazu. Wir sagen nichts, sitzen da. Mein Knie fängt an zu zittern, ich lege meine Hand drauf, er sagt nichts. Von drinnen hören wir nur Gemurmel. Dann klingelt es, dreimal lange hintereinander. Wir hören den Summer, Stiefel auf der Treppe.

Falk steht auf, eine Polizistin und ein Polizist kommen um die Ecke. »’N Abend, Falk«, sagt der Polizist, nickt ihm ernst zu, seine Kollegin auch. Sie stellen sich vor der Wohnungstür auf, klingeln. Die Tür geht auf, der Mann steht da. Keine Jeansjacke, sondern weißes Hemd, keine breiten Schultern, sondern schmale, und größer, als ich dachte. Dafür hatte ich recht mit der Nase. Eine Nase wie ein Schwamm, rot. Glasige Augen. Er steht übergerade, versucht, nicht zu wanken, hält den Kopf möglichst hoch. Wankt trotzdem leicht. Hält sich am Türrahmen fest. »’N Abend, meine Herren«, sagt er. Die Polizistin schiebt sich nach vorne. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, ruft sie an dem Mann vorbei in die dunkle Wohnung. Meine Nachbarin erscheint. Geschwollenes Auge, links. Verheult. Dicke Lippe, rechts unten. Die blondierten langen Haare zu einem sauberen Pferdeschwanz. »Alles gut«, sagt sie, »wir hatten nur Streit, aber jetzt ist alles gut«. Die Beamten mustern sie, mustern ihn. »Der Sohn schläft?« »Natürlich«, sagt der Mann, »es ist halb zwölf durch, natürlich schläft unser Sohn«. Die Polizistin lugt in die Wohnung. »Es gab Meldung über Handgreiflichkeiten«, stellt sie fest. Meine Nachbarin schaut auf den Boden. »Frau Pollotzek«, sagt die Polizistin jetzt, schaut sie eindringlich an, »schauen Sie mich mal an.« Meine Nachbarin schaut sie an. »Ich weiß, dass Sie Ihren Mann schützen wollen, aber wenn Sie jetzt nichts sagen, wird es wieder passieren, glauben Sie mir. Und es geht auch um Ihren Sohn. Es passiert nicht viel, Sie müssen nur sagen, was geschehen ist, dann nehmen wir ihn mit. Eine Nacht in der Zelle zum Ausnüchtern, eine Anzeige. Sie können die Nacht ausschlafen. Morgen in Ruhe überlegen. Vielleicht zu einer Freundin ein paar Tage, oder zu einer Schwester?« Meine Nachbarin schaut auf den Boden. »Danke«, sagt sie, »danke, wirklich, aber das ist ein Missverständnis. Alles gut.« »Wenn Sie jetzt erlauben, wir würden gerne schlafen«, sagt der Mann, er macht das wirklich gut, er lallt kaum. Der Polizist schaut ihn ernst an. »Na dann, eine geruhsame Nacht«, sagt er. Die Tür geht zu.

Die Beamten drehen sich zu uns, zucken mit den Schultern. »Das Übliche. Kann man nichts machen.« Der Polizist schaut mich an. »Sie wohnen hier?« Ich nicke. »Rufen Sie uns, wenn Sie wieder etwas hören. Je öfter wir kommen, desto besser. Mehr können Sie nicht machen.« Falk schlägt dem Polizisten auf die Schulter, »danke, Kollege, gute Schicht wünsche ich«. Stiefel auf Treppenstufen, runter. Falk dreht sich zu mir, zieht eine Augenbraue hoch. »Krieg ich jetze ’nen Tee, oder was?«

Falk Schloßer im Neonlicht meiner kleinen Küche. Er guckt sich um, es steht nur ein Stuhl vor dem kleinen Tisch. Ich gehe ins Wohnzimmer, er folgt mir, »da haben se dir aber ’ne Absteige besorgt, diese Zukunftsgrünen.« Ich trage den zweiten Stuhl in die Küche: »Setz dich.« Öffne den Küchenschrank, nehme den Teekarton raus, »hab nur Melisse«, er hebt die Hände, »na dann Melisse«, kein dummer Spruch. Überhaupt: kein Grinsen. Falk Schloßer, müde und ernst.

Ich brühe den Tee auf, stelle ihm die Tasse hin, nehme meine von vorhin, setze mich, umklammere sie. Lauwarm. Wieder geht mein Knie los. Ich kann das Zittern nicht abstellen. Ich sehe Falk an, Falks Augen auf meinem Knie. »Du kennst das«, sagt er. Ich nicke. »Du?« Er nickt. Schaut zur Seite. Er nimmt einen Schluck Tee. »Spürt man«, sagt er. »Wer sowas erlebt hat und wer nicht. Ich versteh bloß nicht, wie du dann mit diesen Lullischnulli-Stuhlkreis-Leuten abhängen kannst.« Als ob der Typ sich auf einen Stuhl setze, bisschen über seine Kindheit labere, und dann aufhöre, seine Frau zu schlagen. »Du hast den doch gesehen, und sie. Die kommt nicht weg von dem. Und er? Der hört nicht auf. Die machen doch ewig so weiter.« Mein Knie geht wieder los. Falk Schloßers Hand auf meinem Knie, warm, gebräunt. Braun auf weiß. Menthol in meiner Küche. »Jetzt reg dich ab«, sagt er. »Ist ja vorbei.« Seine Fingernägel sind kurz geschnitten, zu kurz. Dicke Fingergelenke. Ich ziehe mein Knie weg. »Hast du deine Waffe dabei?« »Hä, was denkst denn du von mir?« Ich sage nichts, sehe ihn an. Er schaut zur Seite, nimmt einen Schluck. »Als wär ich so ’n Irrer, der mit der Waffe durch die Stadt rast, echt mal. Ich hab ’ne Waffenbesitzkarte! Dafür macht man eine Prüfung, Nana, da lernt man, was man damit darf und was man nicht darf. Und definitiv fährt man damit nicht in seiner Freizeit zu einem Betrunkenen nach Hause, der seine Frau schlägt.« »Sie schlägt auch«, sage ich. Die Schreie, das Türenknallen, das Rumpeln, wenn er nicht da ist. »Ihren Sohn. Sie schlägt ihren Sohn, wenn er nicht da ist.« Sie hat ihn auch geschlagen. Noah. Bei der Sache mit Susi und Strolch, als er auf mir saß, meine Finger aufbog, meine Fingernägel wegbog. Ich schrie wie am Spieß. Seine Erinnerung stimmt nicht, wir waren nicht alleine an dem Nachmittag, so war es nicht. Sie war da. Kam rein. Riss ihn von mir runter, am Handgelenk hielt sie ihn in der Luft, schlug ihn auf den Rücken. Es gab so ein hohles Geräusch.

Wir schweigen. Trinken. Unten ist es ruhig, überhaupt ist Grenzlitz totenstill. Das leise Surren meines Kühlschranks. Dann grinst Falk plötzlich, grinst und sagt: »Aber ganz ohne was bin ich ni’ gekommen, bin ja ni’ verrückt«, er zieht an seinem Hosenbund, es kommen schwarze Handschuhe hervor, er legt sie vor mich auf den Tisch, sie sind schwer, machen ein dumpfes Geräusch. Ich nehme sie hoch, hart und schwer, ich befühle sie, ist da Sand drinnen? »Quarzhandschuhe?«, er grinst noch breiter, »ah, sieh an, Nana, du kennst dich also aus?«

Tom. Tom, nachts in Berlin-Friedrichshain, aber jenseits der Frankfurter Allee, Richtung Lichtenberg, auf Nazi-Suche, Nazis klatschen. Toms Quarzhandschuhe. Flauer Magen, große Schritte, Kinn nach oben, gleichzeitig lässig, jetzt nicht ängstlich wirken. Wie erleichtert ich war, als wir nach zwei Stunden endlich aufgaben. Keine Nazis gefunden.

»Wir waren Nazis klatschen«, sage ich, nehme einen Schluck Melissentee. Falks Augenbrauen gehen hoch, er lässt sich nach hinten fallen. »So nennt ihr das, ja.« Jetzt brenne ich, jetzt will ich das Feuer schüren, das Feuer in seinen Augen, es glimmt schon. »War auch in Dresden«, sage ich, »Dresden nazifrei.« Jetzt brennen seine Augen, zwei blaue Fackeln, »was, bei den Arschlöchern, die da auf die Kollegen los sind mit ihren Kanthölzern?« Mein Magen kribbelt bei der Erinnerung. Dresden nazifrei, Europas größten Naziaufmarsch verhindern. Tom und ich waren da, Schulter an Schulter, blaue North-Face-Jacken, Kapuzen übergezogen, Halstücher vor den Mund. Vor uns gerade mal zwanzig Bullen, lächerliche zwanzig Robocops mit schwarzen Helmen, dahinter die Route der Nazis, Herzrasen, die ganze Gruppe Gänsehaut. »Berlin, seid ihr da?«, das Megafon rief nach uns, und wir brüllten, wir brüllten uns Mut zu. Sie klappten ihre Visiere runter, holten die Knüppel raus. Hinter ihnen die Naziroute. Da durch, nur da durch auf die Straße, und wir würden Geschichte schreiben.

»Ja«, sage ich, »ich war da.« Falks Augen brennen jetzt, er ist nicht wütend, er ist … was ist er? Begeistert? »Boah, wenn ich euch erwischt hätte«, er schüttelt den Kopf, »am liebsten hätte ich meine Handschuhe eingepackt und los, aber ich war schon für Kundus zugeteilt, es war kurz vor meinem Einsatz …« Falk fängt an zu grinsen, jetzt doch. »Muss ich jetze Angst haben? Dass du denen meine Adresse steckst und so, deinen alten Kumpels, und die dann bei mir vorm Haus stehen?« »Ach, und du deinen Leuten dann meine? Nee, lass mal, Falk«, jetzt winke ich ab. »Die Zeiten sind vorbei.« »Bist keine Antifaschistin mehr?« Ich atme tief durch. »Doch. Aber nicht mehr so. Nicht mehr auf die Weise.« »Aber du loderst schon noch, wenn du von Dresden erzählst!« Ich spüre es, meine Augen brennen, mein Bauch kribbelt, ich ziehe eine Augenbraue hoch. »War schon geil.« »Geil, ja? Dass ihr uns das Demonstrationsrecht weggeprügelt habt? Und mich hältste jetze für ’nen Fascho, oder was?« »Na, wenn du als Kradschütze durch Grenzlitz bretterst, was soll ich denn da denken?« »Nicht schlecht«, sagt Falk, »haste gegoogelt, wa?« Falk Schloßer im Neonlicht meiner Küche. »Wer die Wehrmacht toll findet, der ist ein Faschist. Ist bloß eine Feststellung.« Falk schüttelt den Kopf. War ’ne ganz normale Armee, haben alle darin gekämpft, sagt er. Sein Opa sei in der Wehrmacht gewesen, meiner doch sicher auch. Und man könne auch nicht so tun, als habe die Bundeswehr keine Geschichte, das sei einfach, er schüttelt wieder den Kopf. Wie wir uns das vorstellen, da in Berlin-Kreuzberg? Einfach nach 1945 auf Null stellen, eine neue Armee ohne Vergangenheit aufbauen, ohne Väter, Großväter? Jede Armee der Welt habe eine Tradition, »so eine Armee braucht einen Geist, Nana, eine Geschichte, aus der sie ihre Kraft schöpft. Ich bin Ex-Soldat, ich weiß, wovon ich rede.« Meine Hand knallt lauter auf den Tisch, als ich das wollte, ich habe sie nur fallen lassen. Kraft schöpfen aus der Geschichte der Wehrmacht? Und welche Geschichte genau soll das sein? »Verarsch mich nicht, Falk.« »Ich verarsche dich nicht. Du kannst es bloß nicht verstehen. Du hast nie gekämpft für das Land.« Es ist heiß geworden in der Küche. Unsere Tassen sind leer. Neonlicht. Stille. Falk schaut mich an, sucht etwas in meinen Augen, mustert mein Gesicht. »Warste denn dann auch mit so ’nem Antifa zusammen, oder was?« Ich grinse. »Boah, nee! Und was denn, immer noch?« Nee. »War doch nicht so ’n Hecht, was?« »Kann man so sagen.« Stille. »Und jetzt?« Ich blicke ihn an, seine Augen, seine Nase, seinen Mund. Er ist nah. Zum ersten Mal rieche ich ihn, nicht nur sein Aftershave, Moschus durch Menthol. Er zieht an mir, saugt an mir. Nur einmal. Nur einmal kurz.

»Ist spät«, sagt Falk. Er steht auf. Ich stehe auf. »Danke, dass du gekommen bist.« Er zögert, bleibt stehen. Ich wanke, zögere. Er auch, ich sehe es, er wird zu mir gezogen, durch die Luft zu mir. So stehen wir da. Eine Weile. Dann ein Ruck. Durch seinen Körper. »Gut, Nana.« Er geht Richtung Tür. Legt die Hand auf die Klinke. »Geruhsame Nacht.« Und weg ist er.

56

bauch: du hast ihn reingelassen

es war das menthol

bauch: wie tom

ja, derselbe geruch. das hat mich verwirrt

bauch: bitte lass mich ganz bleiben

ja

bauch: kugelrund

ok

bauch: fließend

57

Er ist weg, aber sein Körper ist noch hier. Das Menthol ist noch hier. Und mein Körper. Ich merke es jetzt erst. Ich stehe im Flur, das Kinn nach oben gereckt, meine Brust durchgedrückt, meine Beine durchgedrückt, beide Füße auf dem Boden, zu gleichen Teilen. Kampfhaltung. Ich gehe in die Küche. Seine Augen sind noch da. In meinem Nacken. Ich nehme den Stuhl, gehe ins Wohnzimmer, stelle ihn unter die Dachluke, klettere rauf, stecke meinen Kopf raus, die Straße kann ich nicht sehen. Aber ein Motorrad höre ich durch die Nacht dröhnen. Leiser werden.

Ich will hier raus. Will hoch in den Wald. Zu Erik. Ich schiele nach links, Zwiebeltürmchen, Dachziegel, von hier aus kann ich den Limeswald nicht sehen. Ich versuche, sie mir vorzustellen, die Baumwipfel vor Eriks Baumzelt. Ich kann es nicht mehr glauben. Dass Rotkäppchens Wald in dieser Stadt ist. Dass es Erik gibt, und dass es Falk gibt. Beide gleichzeitig. Das macht keinen Sinn.

Ich klettere wieder runter, leise, ich will nicht, dass die Nachbarn mich hören. Dass jemand weiß, dass ich noch wach bin. Dass jemand weiß, dass es mich gibt.

Gehe ins Bad. Ziehe mich aus, fröstele. Mache das kleine Licht an, das über dem Spiegel. Zwei Augen blicken mich an, fragend, müde. Meine Haut ist überraschend rosa, nicht blass, nicht blau. Stimmt, ich hätte erwartet, dass sie blau ist, ich hätte erwartet, dass mein Kinn größer und stärker ist und dass meine Haare an den Seiten abrasiert sind und mein Blick blau und stechend, aber mein Gesicht ist noch immer weich, mein Kinn ist weich, die Wangen rosig, die Augen offen und grün. Nicht wie damals. Meine Haare wellen sich über den Ohrspitzen, ich war lange nicht beim Friseur. In meinem Nacken keine Stoppeln mehr, sondern weiche Haare. Ich schließe die Augen, versuche, mich an das igelige Gefühl zu erinnern, als sie rasiert waren, ganz abrasiert. An das Kratzen auf dem Kissen.

Ich stelle die Dusche an, heiß, tapse mit meinen Eisfüßen in die Duschwanne, langsam tauen sie auf, ich stelle mich unter das Wasser, es läuft mir warm über die Schultern, spült mir das Blau ab. Ich blicke nach unten, eine blaue Pfütze, das blaue Wasser kräuselt sich, dreht sich über dem Abfluss. Ich schließe meine Augen, Tom. Tom und die anderen, dicht um mich gedrängt, viele durchtrainierte Körper in blauen Regenjacken, blaue Rücken vor meiner blauen Brust, blaue Schultern gegen meine blauen Schultern, von innen brüllt mein Herz gegen meine Rippen, vor mir die zwei Reihen Cops, breitbeinig, Stiefel, unverrückbar, unsere Körper zu einem Rammbock verdichtet. »Nach vorne! Nicht stehenbleiben, los, nach vorne!«

Tom und ich waren gerade im Herbst zuvor nach Berlin gezogen, gleich nach seiner Ausbildung raus aus Nordstadt und auf nach Berlin, gerade rechtzeitig zu den Vorbereitungen für Dresden. Es war der 13. Februar, europaweit haben die Rechten nach Dresden mobilisiert, um die Geschichte der Bombardierung Dresdens auf den Kopf zu stellen. »Bombenholocaust« nannten sie die Bombardierung der Stadt durch die Alliierten wenige Monate vor Kriegsende 1945, schon seit Jahren hatten Antifas dagegen gekämpft, dass die Rechten aus ganz Europa an jenem Tag durch Dresden marschieren, Tausende kamen zu Menschenketten in die Innenstadt, doch jedes Jahr wurden es mehr Rechte, 5000 waren nun angekündigt für ihren Fackelmarsch. Wie soll eine Menschenkette in der Innenstadt 5000 Nazis aufhalten? Wir waren entschlossen: Wir blockieren, wir lassen sie nicht laufen, no pasarán, »no pasarán!«, schrien wir zu Hunderten und liefen unserer blauen Berliner Fahne nach, rannten, schlugen Haken, ließen uns von der Polizei nicht einfangen, fächerten uns in die fünf Finger auf.

Fünf Finger sind eine Faust, das Aktionskonzept kam aus den Gipfelprotesten, G7 in Heiligendamm: Ein großer Demonstrationszug kann nicht durch eine Polizeikette stoßen, wie eine zu große Faust, aber wenn sich die Hand plötzlich auffächert, in fünf autonome Finger, ziehen sie die Polizeikette auseinander und wir können durchströmen. Fünf Finger, auch in Dresden gegen den Naziaufmarsch: Die Antifas aus Nordstadt und Hamburg waren grün, aus München und Nürnberg rot, aus Düsseldorf und Köln gelb, aus Frankfurt weiß, und wir Berlin, waren blau, ausgerechnet. Damals gab es sie noch gar nicht. Die Blauen.

Wir standen da, in unseren blauen Regenjacken, vor uns eine dünne Polizeikette, zwanzig Robocops, die Visiere auf. »Berlin, seid ihr da?« Das Megafon rief nach uns, und wir brüllten, wir brüllten uns Mut zu. Sie klappten ihre Visiere runter, holten die Knüppel raus. Hinter ihnen die Naziroute. Da durch, nur da durch auf die Straße, und wir würden Geschichte schreiben. Aber es klappte nicht einfach so, das stimmt nicht. Beim ersten Mal nicht. Da haben wir gezögert, hatten keinen Schwung, waren in der Bullenkette hängen geblieben, und wir hatten ordentlich kassiert. Die erste Reihe war plötzlich weg, es war, als wäre sie vor den Cops weggeschmolzen, und etwas Hartes knallte rhythmisch gegen meinen Oberschenkel, ich drehte mich weg, es knallte weiter, seitlich, es klatschte auf mein Fleisch, ich hörte Schreie und versuchte, die Füße auf den Boden zu bekommen, aber es war zu eng, Schultern und Rücken hoben mich in die Luft und ich erwischte nur Schienbeine mit meinen zappelnden Füßen, dann traf eine Flüssigkeit mein linkes Ohr und meinen Hals, ich machte die Augen zu, drehte mein Gesicht so weit weg, wie ich konnte, es kam wieder ein Schwall, Feuer, mein Ohr und mein Hals fingen Feuer, Nadeln in meiner Lunge, ich musste husten, Pfefferspray ergoss sich über uns, ich presste die Augenlider zusammen, »zurück!«, kam es von vorne, ich wurde nach hinten gezogen, so hatten wir es trainiert, nicht umdrehen und zurückrennen, sondern der Vorderfrau auf die Schulter fassen und zurückziehen, immer in der Formation bleiben, blauer Menschenrammbock.

Erst dann. Haben wir es nochmal versucht. Da waren wir grün und blau geprügelt und unsere Haut brannte. Ich brannte. »Berlin, seid ihr da?«, Ein Ruck ging durch unseren Körper, »A-HU!«, ich wollte sie niedermähen, diese Cops, diese Schweine mit ihren Knüppeln und ihrem Gift, das mir auf der Haut brannte, »Berlin, seid ihr da, frage ich?«, »A-HU!« »Berlin, kommt nach vorne!!!« Wir rannten los, und da konnte ich sie sehen. Die Augen hinter dem Visier vor mir, wie sie aufgerissen waren, ich sah die Panik darin. Ich wollte mehr. Panik. Ich wollte, dass sie vor Panik aus den Augenhöhlen gepresst werden, diese jämmerlichen scheiß Bullenaugen, und Tom wollte es auch, wir waren schon durch, wir hätten einfach weiter rennen können, zu unserem Blockadepunkt, aber das wollten wir nicht, wir wollten, dass sie heult, diese Fotze, »los!«, schrie ich Tom an, »jetzt!«, und erst dann holte Tom seinen Böller. Wir waren schon durch, und die Polizistin war zurückgewichen. Wir rannten auf sie zu, sie lief rückwärts, dann warf Tom den Böller und es knallte, sie fiel hin, Tom trat gegen sie, von hinten in den Rücken, ich trat gegen ihre Beine, ich beugte mich über sie: »Sowas kommt von sowas.« Tiefe Genugtuung.

Das Wasser durchkämmt meine Haare, massiert meine Kopfhaut, dampft. Ich sehe Tom, seinen trainierten Körper, seinen Sixpack, seinen breiten Hals, wie ein Baumstamm, Toms Hals, seine Tattoos, die rote Fahne auf der Brust, den blumig-schnörkeligen Antifa-Schriftzug auf der Innenseite des Unterarms, Tom, der seinen Rotz in meinen Schoß fließen lässt. Tom, blass an meiner Tür, nachts um drei, Tom auf meinem Schoß zusammensackend, schluchzend. Er war nochmal losgezogen, mit seinem Kumpel, Nazis klatschen. Diesmal hatten sie einen gefunden. Was, wenn der nicht mehr aufwacht? Der lag am Boden und hat sich nicht mehr bewegt! Tom, wie er schluchzt, wie er sich verschluckt, hustet, würgt, nach Luft schnappt. Tom, wie er sich aufrappelt, den Blick ändert, Tom, der seine Hose öffnet, Tom, der nicht mehr fühlt, nicht mehr hört, sondern zum Rammbock wird, mich nach hinten drückt, rein will, rein, Tom, der Rammbock, der seine Muskeln anspannt, weil er will, dass es wie Antifa aussieht, Tom, der nicht reagiert auf mein Zögern, meinen Rhythmus, rein, raus, Tom, die Maschine, bis es nicht mehr geht, bei ihm nicht mehr geht. Bis er merkt, er kann es nicht kontrollieren, er ist nun mal kein Rammbock, es geht nicht mehr, er hört auf, dreht sich zur Seite, murmelt: Ich bin ein bisschen erkältet gerade. Steht auf, geht in die Küche, holt sich ein Bier, geht ins Wohnzimmer, legt sich auf das Sofa. Ich auf meinem Bett, es brennt.

Ich trockne mich ab, gehe ins Wohnzimmer. Noah, verdammt.

58

noah, verdammt. du kannst das doch nicht einfach alles vergessen. wie dein zimmer aussah. ich meine, weißt du noch, wie dein zimmer aussah, bei papa? wie alt warst du da, 17, 18? alles war zutapeziert mit frauenhaut! brüste und pos und lippen, frauenkörper auf stühlen und auf autos, und immer, wenn ich reinkam, schauten sie mich aus ihren halb geöffneten augen an: »so macht man das, nana.« an deiner wand räkelten sie sich für dich, kurven, häute, halb geöffnete dicke lippen. du kannst doch jetzt nicht einfach so tun, als wärst du das nicht gewesen. als wärst du bloß der schüchterne nachttänzer gewesen, von allen unverstanden. du hast mir gezeigt, wie du denkst, dass eine frau zu sein hat, eine schöne frau, eine erwachsene frau, eine richtige frau, eine frau für dich. denkst du, das hat nicht gesessen? du warst nicht so unschuldig. und dann tom.

ich war in der siebten klasse, noah, und du hattest gerade abitur gemacht. ich weiß nicht, ob dir das klar ist, in der siebten klasse ist man, wie soll ich es dir erklären? ich fühlte mich besonders cool, weil ich mir mein erstes baseballcap gekauft hatte, ein blaues, das trug ich jeden tag, zum unterricht musste ich es abnehmen, danach setzte ich es sofort wieder auf und ging cool in die raucherecke. aus unserem jahrgang waren wir dort nur zu dritt, wir mussten aufpassen, nicht erwischt zu werden, ich genoss es, ich genoss, dass alle dachten, ich sei so wohlbehütet mit unserem anwaltspapa und unserem riesigen garten zuhause, aber eigentlich trug ich baseballcaps und rauchte heimlich zwischen den oberstufenschülerinnen in der ecke.

abends gingen wir in die eislaufdisco, keine chance, in die echte disco reinzukommen, wir hatten es versucht, melanie und ich, kajal um die augen, lippenstift, die haare zum dutt hochgesteckt, absatzschuhe, minirock, aber sie ließen uns nicht rein, dann halt eislaufdisco samstags, da gab es gute musik und discolicht und abends hingen da die coolen kids ab. in unsere erdbeer-slushis kippten wir uns wodka, woher melanie den hatte, wusste ich nicht genau, von einem freund, sagte sie, ich hatte uli im verdacht, bei dem hing sie immer ab. uli war sechsunddreißig und bekannt unter dreizehnjährigen in nordstadt, weil er mädchen bei sich fernsehen ließ, es gab dort wodka mit cola und wer etwas auf sich hielt und schon brüste hatte, hing dort ab, man musste aber eine einladung bekommen, von einem der mädchen. melanie lud mich zu ihm ein, aber ich traute mich nicht, hinzugehen, weil man dort bh tragen sollte, und ich hatte noch keinen bh, ich traute mich auch nicht, einen zu kaufen, weil ich mich mit den größen nicht auskannte, 70, 75, und dann dieses a, b, c? keine ahnung, melanie wollte ich nicht fragen, weil ich natürlich behauptet hatte, ich trage schon längst einen bh, wie ich übrigens auch behauptet hatte, ich hätte meine tage schon längst bekommen, wie sie.

in der eislaufdisco hatte ich dann was mit janek, mit zunge, zu der kelly family, sometimes, i wish i were an angel, janek aus meiner klasse, sein vater war bei der bundeswehr und er ließ sich die haare lang wachsen. aber am nächsten montag machte ich schluss mit ihm, weil mir seine zunge zu glipschig gewesen war. ich schrieb ihm einen zettel, »wir gehen nicht mehr zusammen«, ich faltete ihn zusammen, schrieb »janek« drauf und ließ die anderen ihm den zettel weiterreichen, in erdkunde. ich war zwölf.

sie war weg. damit meine ich, dass es diese zeit war, als sie wirklich weg war, nicht nur in ihrer wohnung in waldburg, von wo aus sie uns immer besuchen kam, sondern richtig weg, monatelang, ohne dass wir wussten, wo sie war. ich hatte handstandüberschlag. musstet ihr das auch, in der schule? ich hasste es, handstandüberschlag, auf einem bock. nichts davon konnte ich, den handstand nicht, den überschlag nicht, und dann auch noch auf einem bock? ich hielt das für gemeingefährlich. ich nahm anlauf, sprang auf das trampolin, schleuderte meine arme hoch, und dann sprang ich aufrecht über den bock wie so ein blödes reh.

es gab nicht einmal großes gelächter. das gelächter hatte ich längst hinter mir. sie rollten nur noch mit den augen. denkst du wirklich, du warst der einzige ohne freunde? die ganze klasse hasste mich, man macht sich nicht unbedingt beliebt, wenn man manisch für die schule lernt und überall auf 1 steht. außer in sport. in sport bekam ich nach meiner reh-performance eine 4, weil ich es versuchte, oder weil man in sport nichts schlechteres bekam, wenn man wenigstens mitmachte und nicht jede woche die periode hatte. danach gab es völkerball, was noch schlimmer war als handstandüberschlag, weil die teams gewählt wurden, ich also wieder auf der bank saß, bis alle vor mir gewählt wurden, und schon bei der vorletzten, die entweder johanna war oder christian, stöhnte mein team auf, weil sie sahen, dass ich also zu ihnen kommen würde: »scheiße, arianna.« ich konnte nicht werfen. ich krallte meine finger in diesen wirklich ekelhaften stoffball, der sich anfühlte, als würde man mit den zähnen auf einem staubigen waschlappen kauen, und der nach tausend jahren schulsport stank wie eine schweineachsel, und schleuderte ihn irgendwie auf die andere seite der linie, er machte entweder einen hohen bogen, oder er landete schnurstracks auf dem boden, ich konnte nichts davon kontrollieren. und sie warfen mich damit ab, weil ich stehen blieb. ich sah timo boller oder björn schneider mit diesem ball, ihre augen wütend auf mich gerichtet, und blieb vor entsetzen stehen: warum taten sie das? und, zack, musste ich raus. gott erbarmte sich mit der schulklingel.

zuhause sah ich, dass sie weg war. ich dachte mir nichts dabei, ich rief sie an, ich dachte, sie ist auf dem weg nach waldburg, oder zu irgendeiner reha, oder im krankenhaus für einen entzug, aber sie meldete sich nicht, sie meldete sich sieben monate lang nicht. dann tauchte sie in marokko wieder auf.

es war nur einige tage, nachdem sie verschwunden war, vielleicht auch wochen, da kam ich nach hause, und du warst unten im wohnzimmer auf dem sofa. das war ungewöhnlich. sonst warst du ja immer oben bei dir im zimmer, zwischen den nackten frauen, mit sven, ihr habt musik gehört und computer gespielt und mich nicht reingelassen, ihr suchtet lieber die gesellschaft dieser frauenkörper. aber ich kam auch alleine zurecht. ich machte mir nach der schule immer plätzli, weißt du noch, plätzli? die waren schon geil, mit pilz-sahne-füllung, man musste nur zwei aus der tiefkühltruhe nehmen und braten, bis sie braun waren, fertig war das mittagessen. wir hatten auch kartoffelpuffer, spaghetti miracoli und was noch? ich weiß nicht mehr genau, ich glaube, manchmal fuhrst du auch mit mir zu mcdonald’s, ich erinnere mich an heiße apfeltaschen und chicken mcnuggets mit süßer currysauce, aber als sven dann da war, sind wir nicht mehr hingefahren, und erst recht nicht, als tom kam, denn burger bei mcdonald’s waren natürlich eine direkte unterstützung des us-imperialismus und zeugten davon, dass man nichts kapiert hatte im leben.

normalerweise machte ich mir also plätzli oder sowas, und dann setzte ich mich an den schreibtisch und machte hausaufgaben, und dann erst an den computer unter der treppe, ich spielte lemminge, dann fernsehen, dann abendbrot machen, und dann aßen wir zu dritt, papa, du und ich. die waren schon okay, die abende, manchmal bist du sogar mit uns unten geblieben und hast mit uns karten gespielt oder mensch-ärgere-dich-nicht. aber mittags? nein, mittags warst du nie unten, außer an jenem tag, da warst du unten auf dem sofa, als ich nach hause kam, du wolltest mir etwas sagen. ich setzte mich neben dich, »was ist los?« ich wollte plätzli und hausaufgaben und lemminge und fernsehen, ich mochte es nicht, wenn mein tagesplan durcheinanderkam. »ich soll dir was sagen von tom«, hast du gesagt. ich weiß es noch, mein herz begann zu klopfen, mein bauch kribbelte. tom. seit ein paar wochen war er hin und wieder oben bei dir und sven, und ich hatte es schon gemerkt, dass er mich immer so angesehen hatte, wenn du und sven hoch seid, hat er mir sogar schon mal gesagt, ich solle doch mitkommen. »der mag dich«, hast du gesagt. »tom mag dich. magst du ihn auch?«

das war der jackpot, noah. tom war der schlüssel zu deinem zimmer. noch am selben abend war ich mit euch oben, die tür öffnete sich auch für mich, tom nahm mich mit rein zu dir. ich hörte mit euch eure musik und lag auf deinem sofa mit tom und hörte mir eure diskussionen an über die relativitätstheorie, über das universum, über schwarze löcher. du und sven, ihr saßt auf dem bett, wir tranken cola und aßen diese knusperflakes-schokolade und chips, ich mochte den bass aus deinen boxen und neben mir lag tom, er streichelte meinen bauch, er streichelte ihn immer höher, du hast nicht hingeschaut, warst ins gespräch vertieft mit sven, und ich ließ toms hand höher wandern, obwohl es mir so peinlich war, noah, ich wäre am liebsten im erdboden versunken, weil ich mich so schämte vor dir, dass ich nun brüste hatte, das war schlimm, es war so schlimm, dass ich brüste hatte vor dir in deinem zimmer, und tom holte sie sich einfach, und je öfter er sie sich holte, desto mehr wuchsen sie, ich sah da einen zusammenhang, auch dass ich meine periode bekam, nachdem er ihn da reingesteckt hatte, das war für mich sein werk, brüste, blutungen, alles toms werk.jahrelang holte sich tom meine brüste, selbst in berlin noch, selbst nach berlin bin ich noch mit ihm zusammengezogen, als ich dir endlich hinterherziehen konnte. ich gab sie ihm all die jahre, noah, weil du es so wolltest, weil deine frauen an deinen wänden es mir so befohlen haben, und weil meine brüste und tom der schlüssel waren, um hinter deine tür zu gelangen. und jetzt willst du so tun, als sei das alles nie gewesen? als seist du nie mein großer bruder gewesen? und jetzt willst du einfach brüste haben, einfach so? man kann brüste nicht einfach so haben, noah, man muss sie sich schon erkämpfen. da reicht es nicht, nachts heimlich im kleid herumzutanzen.

59

Die Sonne streicht mir über das Gesicht. Bin ich in Berlin? Ich drehe mich weiter ins Licht, wieso bin ich denn, ich mache die Augen auf, nein, das ist nicht die Sonne, die morgens durch die Kastanie vor meinem Fenster in mein Zimmer fällt, das sind nicht meine weißen Berliner Wände, das ist die Dachschräge aus dunklem Holz, wie in den vergangenen Wochen, aber jetzt fällt die Sonne durch das Dachfenster in einem Streifen über mein Bett, über meine Decke, über mein Gesicht. Juni. Sie hat es über mein Fenster geschafft.

Stille. Kein Techno-Wumms von unten, kein Geschrei, kein Türknallen, einfach nur Stille. Ich greife nach meinem Smartphone: 11:47. Reibe mir über das Gesicht. Ausgeschlafene Haut. Ich hatte vergessen, wie das ist. Weich, warm. Ich strecke mich. Ausgeschlafene Muskeln. Setze mich auf. Spüre meinen Bauch, meinen vorwurfsvollen Bauch. Erinnere mich. Falk Schloßer.

Ich nehme mein Handy, klicke auf meine E-Mails. Noah hat nicht geantwortet.

Bröselkaffee mit Zucker, ich klettere auf meinen Stuhl, öffne das Fenster, Grenzlitzer Zwiebeltürmchen in der Junisonne, fette, gelbe Junisonne, schamlos jetzt, ohne jede Selbstzweifel hängt sie siegessicher am Himmel. Heute ist Zuckerfest.

Der ganze Grenzlitzer Marktplatz ist ein Bankett. Sare und Yusra hatten Sorge, dass nicht genug Leute mitmachen würden, aber von allen Seiten kommen Menschen und bringen ihre Tische und Stühle, die Tafel reicht schon vom roten Turm am Brunnen mit den schwarzen Klötzen vorbei bis rüber zur Nikolaikirche, und sie wächst weiter, jetzt wird angebaut, beim roten Turm macht der Tisch eine Kurve, die Leute bringen auch Plastikwannen voll Teller, Besteck und Gläser, Tupperdosen mit Kuchen, Couscous, Fleisch, ein Grill wird aufgebaut. Es klirrt und scheppert, der Platz ist voll von Lachen und Rufen und Gemurmel, jemand hat eine Musikbox gebracht, ein Mann singt arabischen Rock, etwas heisere Stimme, es ist Mashrou’ Leila, die queere Band aus dem Libanon, ich kenne sie, Noah hat sie mir gezeigt, bevor.

Auch Katjas Tochter ist da, ich sehe sie zusammen bei Katjas Auto stehen, Katja gibt ihr eine Blumenvase und Emma trägt sie zum Tisch, vorsichtig, Sares Tochter Mariam mit Blumen in der Hand hinterher, »Emma! Emma!«, sie klammert ihre Hand um einen Strauß Blumen, »die noch!« Katja sieht besser aus heute, ihre Wangen leuchten rosa, ihre Haare sitzen wieder in diesem satten Bogen über ihren Kopf und glänzen blond in der Sonne, sie unterhält sich mit Sare und einem älteren Pärchen, die gerade einen großen Obstsalat aus dem Auto holen. Der Mann trägt einen grauen Schnauzer und sieht gemütlich aus, breite Schultern, bisschen Bauch, freundliche Wangen, die Frau genauso, sie trägt eine rote Bluse, unter der sich ihre großen Brüste gut gelaunt wölben, dunkelblaue Jeans um ihre runden Oberschenkel, unten sind sie hochgekrempelt, darunter: Entenschuhe. Abgeflachte Spitzen, ganz rund, ihre Schuhe sind so rund wie alles an den Körpern der beiden.

Ich begrüße Katja, die mich diesmal richtig umarmt, nicht bloß mit der harten Schulter, sondern einmal kurz mit beiden Armen, ihr Kinn auf meiner Schulter, sie riecht nach Zitrone, dann lässt sie mich wieder los. »Du hast letzte Nacht angerufen?« Ich schüttele den Kopf, »hat sich erledigt«. Sie stellt mir die beiden runden Menschen als Sabine und Joachim vor, beide seit fast fünfundvierzig Jahren bei der Feuerwehr, sie haben warme Hände, drücken fest zu, »sie hat uns beeindruckt, Ihre Katja da«, sagt Sabine und nickt zu Katja rüber, »die Idee mit dem Robur gefällt uns, und als sie uns hierher eingeladen hat, waren wir neugierig, man hört ja viel über das Islam, nu wollen wir uns mal anschauen, wie das wirklich so läuft, so ein Zuckerfest.« »Um das mal gleich zu beichten«, der Mann wendet sich an Sare: »Gefastet haben wir aber nicht!« Sare lächelt. »Ich glaube, das geht klar. Ich habe auch nicht gefastet. Sehr zum Leidwesen meiner Eltern.«

Das Ehepaar unterhält sich weiter mit Sare, ich helfe mit beim Aufbau. Es sitzen bereits viele Menschen, und es kommen noch immer welche, es sind so viele mehr, als ich erwartet hatte, bestimmt hundertfünfzig Leute sind jetzt schon da, einige Frauen mit Kopftüchern, die meisten ohne, es ist schwer, zu sagen, wie viele Muslime darunter sind und wie viele das Zuckerfest zum ersten Mal mitfeiern, aber es sind Menschen jeden Alters, Familien mit Kindern, auch ältere Menschen. Ich erblicke weiter hinten die Leute aus dem syrischen Geschäft am Bahnhof, sie sehen mich nicht, sie verteilen das Pide, das sie mitgebracht haben, auf den Tischen, dazu Harissa und Schüsseln voll Falafel, Couscous, gebratener Auberginen und Paprika.

Die Ersten essen bereits. Nicht weit von uns am Nebentisch steht ein Teller voller Makroud, der Honig schimmert auf dem frittierten Grießteig in der Sonne, und ein Windstoß weht den Duft von Datteln, Honig und Rosenblütenwasser hinüber, der süßen Füllung.

Ich setze mich neben Katja, vor uns Sare und Erik und das Ehepaar, daneben Yusra und Muluebran und noch ein Mann. Ich habe es noch immer nicht verstanden, sind Sare und Erik jetzt zusammen, hat sie sich von Muluebran getrennt? Muluebran sitzt ganz entspannt da, während Erik seine Hand auf Sares Schulter legt, scherzt mit Sare und Erik, als wäre das alles ganz normal. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, die Jeans ist zu eng, sie schneidet in meinen Bauch, das war wohl Janines Kuchen all die Wochen, und die Einhörner aus Zucker. Ich versuche, den Bauch oben herauszuziehen, über den Hosenbund, aber es gelingt mir nicht, inzwischen hat sich der Knopf schon in meinen Bauch hineingedrückt, ich spüre, wie der Bund in mein Fleisch schneidet. Vielleicht hätte ich heute das Kleid anziehen sollen.

Mariam setzt sich auf Muluebrans Schoß, der Mann neben Muluebran legt kurz seine Hand in Muluebrans Nacken, drückt einmal kurz zu, Muluebran entgegnet mit einem Kuss. Jetzt verstehe ich. Er ist nicht mit Sare zusammen, war es vermutlich nie. Vielleicht haben sie geheiratet, damit er einen Aufenthalt in Deutschland bekommt, und eine Arbeitsgenehmigung. Vielleicht auch, damit seine Eltern beruhigt sind, dass er eine Frau hat, wer weiß. Und sie einen Mann.

Janine setzt sich neben mich, schnauft, nimmt sich einen Teller voll Couscous und gebratenem Gemüse, die Merguez lässt sie liegen, ich bediene mich an ihnen, es sind gute Merguez, aus Lammfleisch und scharf gewürzt. Janine kaut gestresst, sieht blass aus. »Alles ok?« »Ach, wird schon«, sagt sie, kaut, gießt sich Apfelschorle ein. »Bloß diese Vollhonks von der IHK wollen mir das Leben schwer machen.« Sie trinkt ihre Schorle. Mit einem Mal spüre ich eine Müdigkeit, ich will es eigentlich gar nicht wissen, was jetzt schon wieder passiert ist. Aber sie ist aufgebracht, nichts kann sie jetzt davon abhalten, Luft abzulassen. Vorhin, erzählt Janine, sei sie bei der Industrie- und Handelskammer gewesen, um endlich alle Unterlagen für die Zulassung als Ausbildungsbetrieb einzureichen, zur Gastronomiefachkraft will sie ausbilden, auch zur Diätköchin, und der Typ von der IHK, derselbe, der ihr vor ein paar Jahren schon sagte, das werde eh nichts mit ihrem Glutenfrei- und Vegan-Tick, der habe ihr jetzt ins Gesicht gesagt: »Nur weil Sie ein bisschen Hipster-Kuchen backen, sind Sie noch lange keine Diätköchin!« Janine hat einen Abschluss als Gastronomiebetriebswirtin, sie hat einige Erfahrung in der glutenfreien, veganen, zuckerfreien und laktosefreien Küche, »soll der mir mal eine zeigen, die besser weiß, wie man allergenfrei bäckt, und zwar so, dass Leute das gerne essen, dass sie ihre Augen aufreißen, weil es so gut schmeckt!« Eine Ausbilderin müsse persönlich und fachlich geeignet sein, habe der ihr vorgebetet, dann habe der sie so von unten angeguckt, so Augenbraue hoch, und ihr ins Gesicht gesagt: »Na, wer gerade mal sechs Jahre ein Café hat und vorher vor einem Job abgehauen ist nach drüben, die ist mir noch nicht persönlich geeignet, das wollen wir doch erst mal sehen!«

Sie zieht eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Schürze, zündet sich eine Zigarette an. Ihre Kampfeshaltung macht mich müde, ich bin so müde jetzt. Warum kämpft Janine eigentlich so? Wem versucht sie etwas zu beweisen, immer noch ihrem Vater? Oder muss man hier in Grenzlitz so kämpfen, ständig? Es ist heiß, ein heißer Wind zieht uns zwischen den Waden hindurch, mir ist zu warm in den dicken Jeans, ich wische mir den Schweiß von der Stirn, spüre, wie mein T-Shirt an meinem Rücken klebt. Vor dem roten Turm zupft der heiße Wind an den Palmenblättern. Der Platz ist erfüllt von Gelächter und Gemurmel, voller Menschen, die reden und essen, und mit einem Mal kommt es mir so komisch vor. So gekünstelt. Wem spielen die eigentlich alle dieses Theater vor? Zu Weihnachten treffen die sich doch auch nicht alle hier, oder Ostern, oder Pfingsten, oder zum 9. November, aber jetzt, zum Fastenbrechen? Die meisten hier wissen doch gar nicht, worum es geht. Ich weiß ja nicht mal, worum es geht. Ramadan ist irgendwie immer wann anders im Jahr, das weiß ich, ein Monat, der mit der Entstehung des Koran zu tun hat. Und warum fasten? Körper und Geist reinigen? Das Fastenbrechen aber ist doch völlig sinnlos, wenn man nicht gefastet hat. Ich blicke mich um, sie essen alle, sie stopfen alle das Essen in sich rein.

Janine lehnt sich zurück, zieht an der Zigarette, dass die Glut prasselt, atmet tief ein, stößt den Rauch dann flach zwischen den Lippen aus, fffhh. Der habe doch von Anfang an nicht gewollt, dass so eine wie sie hier ein erfolgreiches Café aufmacht und dann noch die Leute aus den Städten herzieht, die genau solche Cafés suchen, in denen man sich wohlfühlen kann, der wolle doch bloß Filterkaffee mit Sahne und Bienenstich mit gequirlter Kuh, und ausgerechnet von so einem Vollhoschi hänge jetzt ab, ob sie ausbilden darf oder nicht. Janine guckt über den Platz, zieht nochmal, zückt ihren Taschen-Aschenbecher aus der Schürze, drückt die Zigarette aus, schnapp, steckt ihn weg. »Wär doch gelacht«, sagt sie. Sie bereite sich jetzt erstmal auf die Prüfungen vor, und dann, sie hält inne, schaut irritiert auf.

Etwas stimmt nicht, ich folge Janines Blick über den Platz, wehende Palme, der Brunnen noch immer abgestellt, wir sind mehr geworden, bestimmt zweihundert Menschen hier, aber das Gemurmel ebbt ab, es wird still. Ein ganzer Marktplatz voller Menschen ist still geworden, man hört den Wind, die Blicke gehen nach links, eine Gruppe Männer auf den Platz kommt, schweigend. Ganz vorne: Paul Witte.

Seit der Veranstaltung in der Alten Tuchfabrik habe ich ihn nicht mehr live gesehen, nur auf den Plakaten. Irgendwie hatte ich vergessen, dass er wirklich hier lebt, zu dieser Stadt gehört, jederzeit auf den Marktplatz kommen kann. Hier steht er nun in echt, blaue Jeans, weißes Hemd, akkurater Seitenscheitel, rechts die Haare bis über das Ohr rasiert, sauberes Grinsen, Grübchen, er trägt ein Kuchenblech vor sich her, hinter ihm folgen zwanzig, dreißig Leute. Jetzt fächern sie sich auf, neben ihm eine Frau trägt ebenfalls ein Blech Kuchen. »G’n Abend, die Herrschaften!«, ruft Witte über den Platz. »Wie sagt man bei Ihnen? Schönes … Zuckerfest? Wir bringen Bienenstich, eine Spezialität meiner Frau, bitte greifen Sie zu!« Er bringt den Kuchen nicht zu den Tischen, er bleibt stehen und hebt das Blech einladend an. Noch ehe jemand etwas sagen kann, rennen die Kinder los, auch Emma und Mariam, ein Pulk Kinder steht vor Witte und seiner Frau, die kleinen Hände greifen nach dem Bienenstich, die Erwachsenen bleiben unentschlossen sitzen. Er wird den Kuchen jawohl kaum vergiftet haben.

Emma und Mariam kommen zurück, setzen sich auf ihre Plätze, beißen in ihre Kuchenstücke, kleine blaue Fähnchen stechen ihnen dabei fast in die Wangen. Sare nimmt eine Fahne heraus, schaut sie sich an, stöhnt auf. Das Stöhnen vervielfacht sich, überall am Tisch höre ich es jetzt, das Aufstöhnen, das Gemurmel wird lauter, Wut mischt sich hinein, einzelne stehen auf, vor mir Mo und Muluebran auch. »Nein, setzt euch, lasst euch nicht provozieren!«, raunt Katja, hält Mo am Arm, »Mo, bitte!«, sagt auch Yusra neben ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter. Ich nehme mir das Fähnchen, das Emma in der Hand hält, ein kleines, blaues Fähnchen, darauf steht: Afghanistan vermisst euch. Ich nehme das von Mariam: Eritrea vermisst euch.

Neben Paul Witte steht jetzt Jürgen Troost mit seinem verdammten Vokuhila und dem Schnauzer, steht da mit verschränkten Armen und grinst, dahinter Typen mit Sonnenbrillen, schwarze T-Shirts, sie bauen sich auf. Und da ist Falk. Sonnenbrille, breitbeinig, schwarzes Shirt, weiße Sneaker.

»Verpisst euch, ihr seid nicht eingeladen!« Sare ist aufgestanden, sie stemmt beide Fäuste in ihre Hüfte, »verpisst euch mit eurem Kuchen!« Da grinsen sie noch breiter, Paul Witte grinst und der Vokuhila und Falk Schloßer grinsen, es wird laut bei uns am Tisch, Mo und Erik stehen auf, gehen auf die Blauen zu, und ich spüre, wie die anderen vollgepumpt werden mit Adrenalin, wenn ich sie anschaue, dann sehe ich es, wie ihre Halsschlagadern pulsieren, ihre Stirne pulsieren, wie ihre Schultern nicht mehr hängen, sondern sich nach hinten ziehen, das Kinn vorgezogen wird, wie sich die ersten so aufstellen, vor den Blauen, wie Schäferhunde, die Hälse gereckt, die Ohren aufgestellt, in Kampfhaltung, ich weiß genau, wie es sich anfühlt. Wie gut es sich anfühlt, diese Rage einfach regieren zu lassen im Körper, diese Stärke kommen zu lassen, einfach zu reagieren auf den Puls. Aber von meinem Platz aus sieht es einfach nur lächerlich aus, eine Reihe aufgeplusterter Schäferhunde vor einer anderen Reihe aufgeplusterter Schäferhunde, die sich jetzt von Hass erfüllt anstarren. Ich bin sitzen geblieben. Es war gar keine Entscheidung, meine Beine sind einfach leer, meine Arme auch, alles so schwer, alles hängt, ich bin müde, mit einem Mal schrecklich müde, mein Kopf wird schwer, ich stütze ihn auf meinen Handballen, während hinter mir die Schäferhunde sich anbellen.

Und dann mischen sich noch andere Stimmen in das Geschrei, sie kommen von weiter weg, es ist ein Chor, wie im Fußballstadion wird gerufen, »antifascista!«, hören wir es aus der Seitenstraße kommen. »Alerta, alerta, antifascista!« Jetzt kann ich sie sehen, es ein ganzes Grüppchen junger Leute, vielleicht zwanzig, dreißig, mit schwarzen Kapuzen und Sonnenbrillen, sie biegen auf den Platz, die Fäuste in die Höhe, vor sich tragen sie ein Transparent: Grenzlitz bleibt bunt!

Ich will nicht mehr. Ich bin so satt auf einmal. »Alerta, alerta antifascista!«, rufen sie jetzt auf dem Platz, es klingt wenig beeindruckend, dafür sind es zu wenige, dafür sind sie zu jung, rufen zu verunsichert, wie trotzige Kinder.

Mit einem Mal habe ich das Lied im Kopf, ’n Käfer auf dem Blatt, was ist das schon, wie ging das nochmal, von diesem Sänger? Dirk Zöllner? Die Stadt ist so satt, den Blick streift man schnell ab? Nach Hause würde ich gerne, einfach auf meine Matratze in Berlin. Ich muss an Falk denken, was er mir sagte, dort auf seinem Sofa, nachdem er mir von seinem Vater erzählt hat. »Ich mag Cabanossi-Salat«, hat er plötzlich gesagt, ich musste lachen, »was?« Er lächelte. »Ja, ich mag es, wenn meine Freundin uns früh morgens Cabanossi-Salat macht und in die Aluminiumboxen packt, die ich für unseren Ausflug gekauft hab. Kaffee macht und in die Thermosflasche füllt, die ich besorgt habe. Wenn sie in der Küche steht und das Essen macht, während ich das Zeug ins Auto lade, die Axt fürs Lagerfeuer, unser Zelt, den Kocher, die ganze Ausrüstung. Ich liebe Cabanossi-Salat. So ist das nun mal. Ist das denn verboten? Die Frau macht das Essen, ich besorge die Ausrüstung, Herrgott nochmal! Das mag ich! Verklagt mich doch, ich meine, das macht mich glücklich, wenn meine Partnerin und ich in die Natur fahren, einfach in Ruhe, ohne darüber streiten zu müssen, wer nun das Essen macht und wer das Auto fährt. Einfach mal sein.« Einfach mal sein. Da steht Kurt vor mir, er geht an mir vorbei, bleibt kurz vor mir stehen, schaut mich an, »müde, ja?«, das fragt sein Blick. Dann schaut er den Tisch entlang, es sind noch andere hiergeblieben, sie stehen vor ihren Stühlen und schauen, was auf dem Platz passiert. Kurz reißt die Arme hoch, winkt und ruft: »Eine Kette! Nehmt euch an den Händen, wir bilden eine Kette!« Zögerlich kommen sie zusammen, die Leute, Kurt und Katja leiten sie an, Yusra und Sare sind jetzt auch da, sie schieben eine Kette zwischen die Antifas und die Blauen. Wenn ich jetzt noch länger sitze, dann kann ich nicht hierbleiben. Wie kann ich hierbleiben, wenn es mir egal ist, wenn ein Fastenbrechen von den Blauen angegriffen wird?

Paul Witte steht längst nicht mehr vorne, er ist in die hinteren Reihen zurückgewichen, so eine Prügelei kurz vor der Wahl kommt vermutlich doch nicht so gut. Er hat den Vokuhila vorgelassen, und Falk, Falk Schloßer, man kann es richtig sehen, wie er seine Brust und Schultern aufpumpt vor Erik. Falks Hals pulsiert. Ich gebe mir einen Ruck. Stehe auf. gehe nach vorne. »Ob Ost! Ob West!«, brüllt jetzt eine schwarze Kapuze vorne, »nieder mit der Nazi-Pest!«, antwortet der Chor. Einer der Blauen neben Falk geht einen Schritt vor, die Kette wankt kurz. »Alerta, alerta antifascista!«, rufen sie wieder los. Ich betrachte die Antifas. Schmal und dünn, die Kapuzis schlottern um ihre Schultern. Die haben nie trainiert. Oder gekämpft. Ich gehe zu Erik, stehe jetzt vor Falk, der zieht eine Augenbraue hoch, verzieht einen Mundwinkel zu einem leichten Grinsen. Hat auf mich gewartet. »Na, Tarzan?«, sagt er zu Erik, hast du eine Taliban*in gefunden?« Erik blickt auf den Boden, die Zähne aufeinandergebissenen. Falk geht einen Schritt vor, da kommt der Ruck, Erik ruckt nach vorne, sein Oberkörper prallt gegen Falks Kopf, der einen Schritt zurückgeworfen wird, kurz irritiert ist, sich sammelt, und Erik mit seiner rechten Faust einen Kinnhaken verpasst. Erik fällt nach hinten, die Kette reißt auf, von hinten und vorne drängen Leute vor, überall Körper, nach vorne, zurück, ich drehe mich, werde geschubst, bleibe mit dem Knie an etwas hängen, kann mich nicht halten, ich falle, falle der Länge nach über einen Körper, liege darauf wie ein Sack Kartoffeln, versuche aufzustehen, aber jemand klettert über mich. Ich spüre ein Knie in meinem Rücken, stöhne auf, sacke auf dem Körper zusammen, ich versuche es wieder, stütze mich mit beiden Armen am Boden ab, drücke mich hoch, stehe, bücke mich, fasse den Arm des Körpers unter mir, ziehe, es ist Erik.

Er ist blass, starrt mich aus aufgerissenen Augen an, sein Kinn ist aufgeplatzt, er hält sich den Nacken. »Komm!«, sage ich und ziehe ihn nach hinten durch, setze ihn auf einen Stuhl, setze mich daneben. Ich spüre meinen Puls, am Hals, in meinen Schläfen. Das Prickeln auf meiner Haut. Besser als die Leere von vorhin.

Da wird das Tieforange auf dem Marktplatz von Blaulicht durchbrochen, »Achtung, Achtung!«, tönt es durch einen Lautsprecher, »hier spricht die Polizei, ich erkläre diese Veranstaltung hiermit für beendet.«

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ich wusste echt nicht, was bei dir alles abging, als ich dir diesen brief geschrieben habe

schon ok. du hast ja nur geantwortet

trotzdem. wieso hast du es mir nicht erzählt?

tu ich ja jetzt

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nana, alter, kannst du ein arschloch sein. aber ich danke dir. das waren die ersten ehrlichen worte, die du an mich richtest, seit wir kinder waren. damit kann ich etwas anfangen. immerhin bin ich nicht das einzige arschloch hier.

ich wollte tom nicht in meinem leben, den hat sven angeschleppt. ich habe von anfang an gerochen, das mit dem was nicht stimmt. er hat sich bei uns eingeschlichen, und sven fand den cool, mit seiner antifa und so, für ihn war es toll, dass jemand was gegen die langeweile tat in diesem grau, dass er ein soziales zentrum aufbaute, dass er was reißen wollte in nordstadt, als die nazis plötzlich loslegten mit ihren demos. ehrlich, mir waren die nazis egal, ich wollte nur meine musik, mein tanzen, ich wollte abheben und fliegen, ich wollte weg, für mich war das eine nordstädter suppe, oma, die nazis, der graue beton. aber mit tom stimmte was nicht, das habe ich sofort gespürt. er hat viel kaputt gemacht, auch in der freundschaft zwischen mir und sven.

ich habe es dir noch nie erzählt, aber sven und ich, wir hatten was miteinander. seit wir sechzehn waren. ich weiß nicht, wie es für ihn war, wir haben nie darüber gesprochen. ich war verliebt, wir sahen uns jeden tag, wir waren … eigentlich waren wir ein paar, bloß dass wir es nie zeigten, nach außen. aber in meinem zimmer, da war unsere welt. wir hörten musik, redeten, wir malten viel zusammen, begannen, skulpturen zu bauen, erst die nymphen, dann die porno-geschichten, wir küssten uns. wir … du willst ja immer nicht, dass ich dir von sowas erzähle. wir liebten uns eben und haben viel ausprobiert. weißt du, mit sven in meinem zimmer, da war unsere eigene welt. wir hörten musik, redeten, wir malten viel zusammen, begannen, skulpturen zu bauen, viele frauen, nackte frauenkörper, wir waren fasziniert von diesen körpern, ich konnte nicht genug davon bekommen, das ich schwer zu erklären, aber ich suchte darin eine nähe, die ich lange schon vermisst hatte, eine körperliche nähe, und wir zeichneten und formten uns unsere körper, da war eine große sehnsucht am werk, musik und kunst und körper.

aber als tom dazu kam, war plötzlich schluss mit dieser welt. wir waren nicht mehr zu zweit, ständig hing tom mit uns ab, immer kam er mit. in mein zimmer. da hat sich sven nichts mehr getraut. hörte einfach auf mit der kunst. bis heute übrigens. er hat dann jura studiert, ist rechtsanwalt geworden. keine ahnung, was los war, wir haben nie darüber gesprochen. wir haben über alles mögliche gesprochen, über schwarze löcher und die relativitätstheorie, über techno und filme, aber darüber nie. du siehst den großen macker in mir, wegen der poster mit den nackten frauen und der ballerspiele, aber eigentlich waren wir absolute nerds, sven und ich. bis tom kam. der hat das ganze politzeugs angeschleppt, da waren wir dann plötzlich cool irgendwie, mit unserem sozialen zentrum und so. und dann kam ich ja auch bald mit chrissy zusammen.

und dir hat das alles auch erstmal gutgetan, du warst total happy, dass es die antifa gab und die genossinnen! im zentrum blühtest du auf. während ich auch dort fremd war, weil ich nicht mitmachen wollte bei eurem kickboxen, und weil ich keine schwarzen kapuzis tragen wollte, fühltest du dich pudelwohl, endlich warst du teil einer gruppe, und an toms seite auch ganz schön angesehen. ist nicht so, dass du nichts davon hattest. aber ich habe schon mitbekommen, dass da was schräg lief bei euch. weiß nicht, ob ich das damals so klar hätte sagen können, weiß nicht, ob ich was hätte machen können. ich war mit mir beschäftigt, nana, und das muss doch auch mal okay sein, ich meine: ich war siebzehn, der einzige, von dem ich mich verstanden fühlte, war mein freund, der mich plötzlich von sich wegschob, ich hatte niemandem davon erzählt, ich fühlte mich fremd mit all diesen antifas da, mit diesen trainierten muskeln, ich hielt mich an meinen nackten frauen fest, an meinen skulpturen, und ich wusste einfach nicht, was mit mir los war. nicht nur du hattest niemanden zum reden.

du weißt, dass chrissy und ich kinder wollten, oder? wir haben es lange versucht, aber es klappte nicht. wir waren bei der ärztin, und die sagte, bei chrissy sei alles okay. dann haben sie mich untersucht, und bingo. meine spermien sind einfach zu langsam. sie bewegen sich noch, aber nur ganz langsam. wir hätten es ja machen können. in vitro. die kleinen lahmen dinger einfach direkt an ihr ziel bringen. chrissy wollte. aber ich, nana, ich wusste nicht so recht. es kam mir alles nicht richtig vor. ich war nicht ich selbst mit chrissy. kann man fünfzehn jahre lang nicht man selbst sein? vermutlich stimmt das auch nicht. vermutlich war ich doch irgendwie ich, aber ich fühle es heute, dass ein großer, ein wichtiger teil von mir nicht leben durfte. ich habe mitgespielt. ich fühlte mich die meiste zeit, als würde ich sie betrügen. und das hat sie nicht verdient.

ich weiß nicht, wohin das hier führt. du sprichst von brüsten, und dass man sich die brüste erkämpfen muss, ich meine, was denkst du denn, mit wem du hier sprichst? als wüsste ich das nicht! dass ich mir brüste erkämpfen muss. ich weiß gar nicht, ob es wirklich das ist, was ich will. was ist denn weiblich? ist es weiblich, dass ich nachts tanze? du tust es so ab, junge, du tanzt halt nachts in kleidern, krieg dich wieder ein. das tut mir weh. es ist so viel mehr als das. ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. findest du es nicht krass, dass ich fünfzehn jahre lang heimlich nachts in kleidern tanze und es vor aller welt geheim halte? ich habe mich so geschämt, nana. für mein tanzen. für meinen körper in diesen kleidern.

denn in einem punkt liegst du ganz falsch. du denkst, euch frauen wird der körper geklaut, und männer sind die, die sich alles nehmen, denen nichts weggenommen wird. als wären wir herren über unsere körper! so ist es nicht. jedenfalls nicht für mich. was denkst du, warum so viele männer pornos gucken? woher dieser krasse zwang, sich den weiblichen körper anzuschauen, wieder und wieder, und immer nur auf diese weise? rein, raus, das ist die einzige körperlichkeit, die männern erlaubt ist. so wurde es uns beigebracht, sven und tom und mir. sobald ein junge einen steifen bekommt, wird ihm jede zärtliche berührung entzogen, was bleibt, ist porno. was für eine macht soll das bitte sein?

ich konnte dich nicht schützen, nana. hör auf, dir einen großen bruder herbeizufantasieren, den es nie gab. ich war selbst ohnmächtig. du kannst nicht sagen: ihr scheiß starken männer holt euch einfach alles, und wenn dein bruder schwäche zeigt, gibst du ihm die schuld an allem, was bei dir schieflief? übernimm mal verantwortung, nana! werd’ erwachsen.

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ich blühte auf, alter? hör dich mal reden! ich war zwölf, du verhökerst mich an deinen achtzehnjährigen kumpel, der sex mit mir hat, bevor ich überhaupt meine periode habe, und das nennst du aufblühen? in welchem jahrhundert lebst du?

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Janine reagiert als erste. Sie steigt auf einen der Tische, streicht sich ihr Kleid glatt, und ruft: Alle herhören! Hey, seid mal still, hört mir zu! Und wirklich bekommt sie das Rufen und Schreien kurz unterbrochen, die Leute drehen sich zu ihr um, halten inne beim Diskutieren mit der Polizei, sehen zu Janine. Wir ziehen um, ruft sie: Bringt das Essen rüber, wir treffen uns drüben im Café! Sie deutete über den Platz, in Richtung Kesselstraße. Wir feiern dort weiter, ich öffne für euch!

Ein Polizist geht zu ihr, zieht sie vom Tisch, »so, jetzt kommen se da mal schön runter, junge Dame«, er zückt sein Handy, »Personalausweis, bitte«. Erik und ich stehen auf, gehen zu Janine. Die lächelt, »hab ich nicht dabei, Herr Wachtmeister«, »ist Aufruf zu einer nicht angemeldeten Versammlung, Personalausweis«. Aber Janine blieb ruhig, »nu gloar, Junge«, lächelt sie, »lass mal gut sein«. Ich kenne diesen Blick. Der Polizist hat Festnahme entschieden, er steckt jetzt sein Handy weg, gleich wird er auf sie zugehen und ihren Arm nehmen, er wird ihn nach hinten drehen und sagen: »Nun kommen se mal mit«, und das hätte er vermutlich auch getan, hätte nicht sein Kollege in dem Moment gerufen, mit dem Knie auf einem jungen Antifa-Burschen hockend: Seibert, rüber hier, Festnahme!

Katja und Kurt stehen vorne und diskutieren mit dem Einsatzleiter, Erik hat genug, er geht bereits Richtung Kesselstraße. Ich unterdrücke den Impuls, einfach nach Hause zu gehen, einfach auf meine Matratze, ich zwinge mich, ich folge Erik, nehme die Schüssel Makroud mit. Viele folgen uns, bringen Teller und Kuchen mit, Couscous und Fleisch, Gemüse und Brot. Vor der Tür bildet sich schon eine Traube, immer mehr Menschen kommen hierher, Sabine und Joachim haben jetzt ihre Nachbarn gebracht, auch Kolleginnen von der Feuerwehr, alle breitschultrig, wir haben gehört, was passiert ist, und so geht das doch ni’, sie bringen einige Flaschen mit, Holundersaft, selbst gemacht. »Wir wollten etwas mitbringen, aber Wein oder Bier geht ja nicht, oder …?«

Immer wieder kommt Janine rein mit den Armen voller Flaschen, Brot, auch ein Päckchen frischer Wurst ist dabei, vom guten Fleischer am Markt. Janine macht eine Ausnahme mit dem Fleisch in ihrem veganen Café, und das machen wohl auch Mo und Yusra, die bemüht sind, die Wurst unter den Nichtmuslimen hier zu verteilen, denn es sind Kamenzer Würstchen. Eine sächsische Spezialität, 50 Prozent Schweinefleisch.

Drei Leute haben sie mitgenommen von den Antifas, erzählt Katja, zwei wegen Widerstands, einen wegen Landfriedensbruchs, einen Blauen haben sie auch festgenommen, wer es ist, wollte man ihr nicht sagen. Vom Platz seien jedenfalls alle runter. Niemand ernsthaft verletzt.

Katjas Handy pingt. Lass doch, will ich sagen, ich will jetzt echt nichts mehr hören, aber sie hat ihre Hand schon in der Tasche, zieht das Ding raus, tippt drauf, wischt, weitet die Augen. Ich schließe meine. Nein, bitte. Können wir nicht einfach essen. Jetzt pingt auch mein Handy, es ist Falk, Telegram. Ein Gif, es zeigt Mo. Mo, auf dem Marktplatz. Das Foto zeigt Mo, aber es zeigt nicht Mo. Es zeigt: einen sehr wütenden Menschen, lodernde, fast schwarze Augen, die Zähne gefletscht, das Gesicht zerrissen, rasende Wut, ein erhobener Arm, darin etwas, das aussieht wie ein etwas unförmiger Metallknüppel. Erst auf den zweiten Blick wird der Knüppel zu einem in Aluminium gewickelten Baguette, mit dem Mo offenbar nach den Blauen geworfen hat. Auf den ersten Blick zeigt dieses Foto: Einen wütenden Araber mit Knüppel, kurz vor dem Zuschlagen. Darauf steht Eid Mubarak. Frohes Zuckerfest.

»Müde siehst du aus«, Kurt setzt sich zu mir. Das hat er noch nie getan, wir haben immer Abstand gehalten, wir beiden, immer eine Katjalänge Abstand. Jetzt reicht er mir einen Cappuccino. Ich nehme ihn dankbar, es ist ein Bärchen drauf. »Es geht immer weiter«, sage ich, »immer Ausnahmezustand, nach dem anderen, immer geht es weiter«. Kurt nickt, nimmt sich einen Makroud. »Du hast lange durchgehalten«, sagt er. »Ist nicht wie bei euren Antifa-Aktionen, Dresden nazifrei, wo ihr wie Ufos für einen Tag in eine Stadt schwebt, kurz Ärger macht und wieder abhaut in euer Leben. Hier muss man sich seine Energie einteilen, Nana.«

Aus den Boxen dringt Fairuz, Janine hat Musik angemacht. Ich nehme einen Makroud, schließlich ist Zuckerfest. Orangenblütenwasser, Datteln, Honig. Lehne mich zurück. Goldene Decke.

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Guten Morgen Nana, alles okay? Du sahst irgendwie … verschreckt aus gestern auf dem Marktplatz, Sonnenbrillen-Emoji

und du wie ein kleines kind, das sich auf dem schulhof prügelt

Prügel? Ich hab keine Prügel gesehen Lach-mich-kaputt-Smiley War doch alles ganz harmlos Engel-Smiley

Redest du jetzt nicht mehr mit mir?

Ach komm schon, Nana, echt jetzt, wegen ein bisschen Kuchen und einmal Schubsen? Was macht’n ihr Linksterroristen, wenn wir mal ’ne Kundgebung machen? Da fliegt aber ein bisschen mehr als Kuchen!

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und dann habe ich mich entschuldigt?

na ja, so halb

und dann

der blaue balken

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okay, das mit dem aufblühen war scheiße. können wir nicht mal reden, nana? was treibst du denn in grenzlitz?

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Plötzlich läuft die Zeit so anders. So langsam. Wie unter Wasser. Der Himmel ist wieder orangerot, und Janines Café wird zu einem Wasserbecken. Vor uns, an der Wand: ein blauer Balken. Er verschwimmt, jedes Mal, wenn ich hinsehe, verschwimmt er, ich kann ihn nicht ansehen. Ich habe auf die Wand geblickt, wie alle hier, ich habe gesehen, wie ein langer blauer Balken entsteht, und ein schwarzer Balken, und ein grüner Balken, aber dann konnte ich nicht mehr hinsehen, ich kann mir nicht ansehen, wie lang sie werden, welche Zahlen danebenstehen.

Ich wende meinen Blick ab und schaue Katja an, ich betrachte ihre Haare, ihre kräftigen blonden Haare, die schöne gebogene Tolle auf ihrem Kopf, die perfekte Rundung, von vorne nach hinten, darunter rasiert, im Nacken feine blonde Stoppeln, ich genieße den Anblick der ungeschlagenen Kämpferin, bevor ihre Haare im blauen Wasser davonschwimmen, bevor sie sich um sie herum wickeln, vor ihre Augen, um ihren Hals, ich sehe, wie sie ihre Hand hebt, wie sie sich die Haare zurückstreicht, wie die Hand im Nacken stehen bleibt, ihn festigt, wie ihr Kopf nach hinten kippt und nur noch ihre Hand ihn hält, wie ihre Augen sich schließen, ich kann es sehen, wie es von ihr herunterfließt, blaue Rinnsale, die ihr die Schläfen entlanglaufen und dann den Hals hinunter, wie sich unter ihr eine blaue Pfütze bildet.

Ich betrachte Erik, der neben ihr steht, sein Körper eingefroren, sein Gesicht eingefroren, er blickt regungslos auf die Wand, ich betrachte die Furche auf seiner rechten Wange, blau ist sie, eine blaue Furche, ratsch. Ich betrachte die Hand, die sich jetzt in Bewegung setzt, Eriks Hand an Eriks Stirn. Ich betrachte Janine, die hinter ihrem Tresen steht, immer ein Tresen zwischen sich und den anderen, immer eine Schürze vor ihrem Bauch, jetzt auch ihre beiden Arme, sie lehnt hinter ihrem Tresen an der Wand, beide Arme vor ihrem Bauch verschränkt, der pinke Mund geschlossen, stumm studiert sie die Balken an der Wand. Ich folge ihrem Blick. Vier Balken. Ich sehe, dass der blaue Balken der längste ist. Ich zwinge mich, auf die Zahlen zu schauen, die danebenstehen.

Neben dem schwarzen Balken steht: 30,1 Prozent.

Neben dem grünen Balken steht: 29,2 Prozent.

Neben dem pinken Balken steht: 4,3 Prozent.

Neben dem blauen Balken steht: 36,4 Prozent.

Kurt blickt stumm auf die Wand, Sara, Muluebran und Mo blicken auf die Wand, all die anderen blicken auf die Wand, nur aus der Küche hört man jetzt Geschirr klappern, Janine räumt die Spülmaschine ein. Oder aus. Oder ein, und dann wieder aus. Ich gehe zu Katja, lege meine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckt, schüttelt sie ab. Nicht berühren. Erik räuspert sich, murmelt: »Eine blaue Stadt.« Ich versuche, zu rechnen. Ich rechne: 29,2 plus 4,3, grün und pink, was hätte das zusammen ergeben? Ich räuspere mich. Räuspere den Ärger aus dem Hals, der ihn gerade hinuntergleiten will wie ein dicker pinker Kloß. Kerstin Groth. Wäre die pinklinke Kerstin Groth nicht angetreten, wäre grün vermutlich stärker als schwarz. Dann könnte Katja in der zweiten Runde antreten, gegen Paul Witte. So aber muss sie gegen Michael Klammer von den stärkeren Konservativen zurückziehen. Oder?

Katja geht raus, ich folge ihr. »Du kannst in Verhandlungen gehen«, sage ich. »Erst mit der pinken Groth, dann mit dem Klammer.« Katja schüttelt den Kopf. »Der Klammer zieht nicht zurück. Nicht bei dem Ergebnis. Der geht in die zweite Runde, der lässt sich seine letzte Amtszeit nicht entgehen.« Katjas Handy klingelt, sie hält mir den Bildschirm hin: Michael Klammer. Sie fährt sich mit der Hand durch ihre Haare, hebt ab: »Michael! Herzlichen Glückwunsch zu diesem tollen Ergebnis!«, ruft sie in das Handy, geht ein paar Schritte die Kesselstraße hinab, bis wir sie nicht mehr hören können.

Draußen vor Janines Café blaue Gesichter, leises Gemurmel, aus dem ich Fetzen erkenne: … nicht mal ein eigenes Programm! Die Pinke wollte doch bloß leerstehende Gebäude kulturell nutzen, als ob wir das nicht schon längst … Aber dass echt so viele … Das ist mehr als jeder Dritte hier! Ich gehe rein, betrachte nochmal die Balken, 36,4 Prozent. Ich betrachte die Gesichter, die die Limeszeitung in die Balken hineingelegt hat: Das gutmütig-beruhigende Lächeln von Michael Klammer. Das schelmische Grinsen von Paul Witte. Das strahlende Lachen von Katja. Das unsichere Lächeln von Kerstin Groth.

Wird Grenzlitz die erste blau regierte Stadt? Und was dann? Ich spüre Furchen auf meiner Wange. Eine Hand legt sich auf meine Schulter, ich drehe ich um, es ist Katja. Ihr Gesicht hat sich beruhigt, ihre Schultern sind wieder an ihrem Platz. »Michael Klammer hat deutlich gemacht, dass er bei diesem Ergebnis seine Kandidatur nicht zurückziehen wird«, sagt sie. »Ich werde morgen verkünden, dass wir ihn unterstützen werden. Kerstin Groth hat auch angerufen. Sie wirkte etwas erschrocken. Mit so einem starken blauen Ergebnis hat sie nicht gerechnet. Sie wird ebenfalls zurückziehen. Wir Zukunftsgrüne, die Pinken, die Initiative Zukunft für Grenzlitz, und die Roten: Wir alle werden jetzt dazu aufrufen, demokratisch zu wählen. Morgen geht es los.«

Sie nimmt die Sektflaschen vom Tresen, geht mit starken Schritten hinaus, ich höre sie rufen: Alle herhören! Ich folge ihr hinaus, wo sich inzwischen alle versammelt haben, eine grüne Menschentraube steht um Katja herum, bildet einen Halbkreis vor Janines Café. »Alle herhören!«, ruft Katja und schlägt leicht mit einer Sektflasche gegen die andere, »genug Trübsal geblasen jetze! Wie hat Kurt hier«, sie legt den Arm um Kurt und zieht ihn an sich, »wie hat Kurt uns hier von Anfang an gewarnt hat: Der grüne Weg durch schwarzes Land ist lang. Nun ist er eben noch ein Stückchen länger«, sagt sie, ich kann nicht fassen, wie fest ihre Stimme ist, Fraktionsstärke im Stadtrat mehr als vervierfacht, sagt sie, dreißig Prozent Zukunftsgrüne, sagt sie, noch vor fünf Jahren unter fünf Prozent, von Zukunft spricht sie, von Plänen, mit Michael telefoniert, bereit, über das Fernwärmeprojekt Grenzlitz zu beraten, in fünf Jahren klimaneutral, langsamer Applaus dringt durch das blaue Wasser, das sich in der Kesselstraße sammelt, ein Sektkorken fliegt Richtung dunkelroter Himmel, eine blaue Zukunft verhindern, sagt Katja, »heute: auf die grüne Zukunft dieser Stadt!« Ihre Haare umschwimmen ihren Kopf wie eine Nymphe, mit der einen Hand schenkt sie Sekt aus, mit der anderen hält sie sich an Kurt fest, um nicht fortgerissen zu werden von der Strömung, sie klammert ihre Finger in Kurts braune Cordjacke, in dreißig Jahre grünen Kampf in Grenzlitz.

Ich nehme ein Glas Sekt, ich lehne mit Erik vor Janines Café an der Wand und wir trinken, wir fließen mit dem Sekt durch die Kesselstraße. Erik ist kleiner jetzt, er hat die Knie gebeugt, sein Kopf ist neben meinem, über sein grünes Kleid hat er einen schwarzen Kapuzi gezogen, er trinkt den Sekt und schaut Katja zu, wie sie Schultern klopft und Lächeln verteilt an die Zukunftsgrünen. »Wann ist eigentlich die Anhörung für den Bahnhof unten bei dir in Flussburg?« »Ende September.« Erik kippt den Rest des Sekts aus seinem Glas in den Mund, schluckt alles auf einmal. »Mit dem neuen Stadtrat dann.« Und dem neuen Bürgermeister, sagt er nicht. Klammer oder Witte, sagt er nicht. Hält mir das leere Glas hin. Ich fülle es auf. Fülle auch mein Glas auf.

Gerade noch stehe ich mit Erik vor Janines Café, neben mir an die Mauer gelehnt, in der Kesselstraße, gerade noch verteilt Katja Schulterklopfen, dann, plötzlich, sind sie alle weg, nur noch Erik und Katja, Janine und ich. Dann, plötzlich, haben die Worte »ich gehe nach Hause« meinen Mund verlassen, warum denn, warum, ich wollte eigentlich noch bleiben, aber sie sind gesagt und meine Füße tragen mich Richtung Marktplatz. Zwei Meter Paul Witte. Plötzlich steht er vor mir. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Obwohl er da gestanden haben muss, die ganze Zeit. Ich bin um die Ecke gekommen, mit meinem Rad. Das habe ich geschoben, von Katja die paar Meter Kesselstraße hoch und beim roten Turm um die Ecke auf den Marktplatz, und dann sehe ich da diese Traube murmelnder Männer, vor der Kneipe Zum Markt, eben noch bin ich in der Kesselstraße und dann schon Marktplatz und schon in dieser Traube Männer mit ihren Bierhumpen in der Hand, rote Backen und glänzende Augen und Schulterklopfen, und er steht da. Paul Witte, vielleicht bald Oberbürgermeister von Grenzlitz. Zwei Meter groß, breite Schultern, blonde, abrasierte Haare, aber nicht ganz, so mit Seitenscheitel, »Jungs, lasst das junge Frollein mal durch mit ihrem Rad«, bassige Stimme, dann diese Schneise vor mir auf dem Bürgersteig in Grenzlitz, lauter lachende Münder, zwanzig, dreißig Blaue um mich herum, darunter Falk Schloßer, ganz sicher, ich kann es riechen, Falks Menthol. Und dann diese zwei Meter vor mir, zwei Meter blonder Mann, plötzlich Wittes weiß behemdete Brust vor meinem Gesicht, hochgekrempelte Ärmel, ich blicke hoch, da ist es, dieses jungenhafte Grinsen unter den kurzen Haaren, unter dem Seitenscheitel, mit den blauen Augen und den Grübchen und diesen dünnen Lippen, er steht vor mir auf dem Weg, plötzlich strecke ich Paul Witte die Hand entgegen, die Bewegung erfolgt vor der Entscheidung, Herzlichen Glückwunsch zu diesem starken Wahlergebnis, kommt über meine Lippen, in meinem Kopf ein blasses Bild von Paul Witte hinter einem dicken Tisch im Rathaus, grinsender Paul Witte, und ich, wie ich darauf verweise, dass ich ihm früh meine Hand gegeben habe, dass ich ihn immer respektiert habe, Paul Witte mit blauer Macht und ich, wie ich versuche, Sare zu helfen, Sare oder Muluebran oder vielleicht auch nur mir selbst, kann nicht schlecht sein, denke ich mir, kann nicht schlecht sein, wenn der sich mal an mich erinnert, vielleicht kann das helfen, dass ich Paul Witte die Hand gegeben habe. Ich strecke meine Hand dieser breiten weißen Hemdbrust entgegen, Witte ist nicht darauf gefasst, sein Grinsen entgleist kurz, in seiner rechten Hand hat er den Bierhumpen, er streckt mir das Glas entgegen, äh, macht er, lacht, nimmt den Henkel umständlich mit der anderen Hand, verschüttet etwas Bier, gibt mir seine rechte Hand, fest, »äh danke«, kurz halte ich seine Hand in meiner, hält er meine in seiner, und jetzt, mit meiner Hand in seiner, will ich es, ich will, dass Paul Witte Bürgermeister wird, soll er doch, soll er, dann ist das geklärt, dann wird hier mal richtig.

Er ist schon weg, ich bin schon weiter, ich bin unter den Linden in der Nikolaistraße, Witte nur noch eine blaue Erinnerung in meiner Hand, plötzlich diese Stille, kein Gemurmel mehr, nur ein leises Rauschen der Blätter, ein Flüstern des Grenzlitzer Pflasters unter mir, es flüstert, und plötzlich wird es lauter, das Flüstern, das rote Grenzlitzer Kopfsteinpflaster kommt mir näher und knirscht unter meiner Schläfe, neben mir fällt das Rad scheppernd auf den Boden. Nur mal kurz ausruhen. Das Flüstern krabbelt unter meine Haut, es sind Borkenkäfer, sie krabbeln über das Pflaster auf mich zu, sie machen nicht Halt, krabbeln durch meine Nasenlöcher, sie knabbern sich unter meine Haut, blaue Knubbel auf der Haut, es kribbelt in meinen Händen und Füßen, hinter meinen Augenlidern kribbelt es, sie sind überall, in meinen Armen und Beinen, sie krabbeln Richtung Herz, ich schließe meine Augen, lasse die Käfer machen, durch meinen Bauch hoch krabbeln, meinen Hals hinab, das Pflaster flüstert jetzt nicht mehr, ich höre es nur noch Krabbeln, es riecht nach Erde, Erde knirscht zwischen meinen Zähnen, Nana, knirscht es, dann eine Hand, eine Hand umfasst meine Hand, »Nana«, die Stimme ist jetzt lauter und nicht mehr in meinem Kopf, sondern draußen, eine Kraft zieht an meinem Arm, ich spüre meine Beine wieder, meinen Körper, ich stütze mich auf dem Pflaster ab, »Nana, komm hoch!«, ich reiße meine Augen auf, lasse mich hochziehen, sehe: Muluebran.

»Gott sei Dank«, sagt er, »ich dachte schon, du wärst bewusstlos«. Ich drehe mich um, Eriks Rad liegt auf den roten Pflastersteinen, von weitem höre ich ein leises Rauschen, ein Auto, ich blicke die Straße runter, Scheinwerfer kommen um die Ecke, strahlen jetzt weiß die Straße hoch, blenden mich, ich beuge mich runter zu meinem Rad, höre einen aufheulenden Motor, quietschende Reifen, das Rauschen wird lauter, wird ein Dröhnen, plötzlich ist alles weiß, plötzlich ist der Scheinwerfer da und ich in ihm, Muluebrans Hand reißt an meinem Arm, reißt mich auf den Bürgersteig, ich höre es scheppern, knacken, knirschen, alles auf einmal, Muluebran drückt mich gegen seine Brust, quietschende Reifen, ich drehe mich um, das Auto hält zwanzig Meter die Straße rauf, Motor läuft, niemand steigt aus. Der Motor heult auf, heult nochmal auf und nochmal, bleibt aber stehen, dann wieder quietschende Reifen, das Auto rast die Nikolaistraße hoch, vorbei an meinem Haus, vorbei an all den geschlossenen Türen und dunklen Fenstern, rast über das Kopfsteinpflaster und biegt rechts ab, Richtung Limeswald.

Ich sitze auf dem Bordstein, Muluebran neben mir, vor uns das verbeulte Rad. Wir atmen. Mehr nicht. Wir atmen, flach in unsere Brüste hinein, weiter kommen wir nicht, unsere Bäuche sind dicht.

Das Grenzlitzer Pflaster flüstert uns zu, ein leichter Wind weht durch die Straße, die Lindenblätter rascheln trocken, zu trocken, die Turmuhr schlägt 22:53.

Um die Ecke kommt eine kleine Gruppe schwarzer Kapuzenpullis, es sind sechs, sieben dünne Gestalten, schmale Schultern unter schwarzem Stoff, lange Haare, schlurfende Schritte, in schwarzen und roten Chucks, Gitarrenriffs erfüllen die Nacht, einer trägt eine Box auf seiner Schulter, deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, dröhnt es durch die Gassen, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit, mein Kopf wird zu schwer, ich kann ihn nicht mehr halten, er fällt nach rechts, auf Muluebrans Schulter. »Bleibst du?«, frage ich. Er nickt. »Ja. Ich bin Baggerfahrer! Ich baggere mich weiter durch diese Stadt.« Ich blicke auf das Pflaster, auf all die runden, roten Erhebungen, die alten Steine, Jahrhunderte alt, ich blicke auf die Fußabdrücke der Hussiten, der Wäschefrauen, der Tuchmacher und Färberinnen, der Räte und Bürgermeister, der Revolutionärinnen und Soldaten, auf die Fußabdrücke von Falk Schloßer und Paul Witte, von Katja und Erik und Janine, von Elli und Emma und Mariam. »Und du?«, fragt Muluebran. Die Kapuzenpullis sind weitergezogen, sie sind schon an der nächsten Ecke, biegen ab, ein leiser Wind trägt ihren Gesang zu uns, der sich noch einmal gegen das Grenzlitzer Flüstern erhebt: Oooh-ooh-oh: Arschloch!

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wieso hast du ihm denn jetzt die hand geschüttelt?

habe ich doch gesagt

nein, du sagst erst: weil es später allen, die von den blauen bedroht sind, helfen könnte, wenn du diese witte-connection hast. und dann: weil du den doch kurz irgendwie geil fandst

noah?

ja?

kein mann mehr sein

ja

was heißt das?

für dich?

für dich.

fließen dürfen

kommst du her?

nach grenzlitz?!

ja

ich muss dir was zeigen

was denn?

eine goldene decke. einhörner aus zucker auf rhabarberkuchen. und rotkäppchens wald. ich zeige dir rotkäppchens wald, und wie man fliegen kann, über die baumwipfel fliegen. und dann zeigst du mir endlich dein kleid, noah.

und wenn ich komme, denkst du, es ist sicher für mich, im kleid in grenzlitz?