Am nächsten Morgen machte mir Dad ein riesiges Frühstück mit Pfannkuchen, Eiern, Schinken und einer großzügigen Portion Ahornsirup. Es gelang mir nicht, alles aufzuessen.
»Du schaffst doch normalerweise viel mehr«, protestierte er.
»Dad, ich esse nicht mehr so viel wie früher. Vielleicht weißt du das nicht, aber wenn wir Frauen dreißig werden, beschließt unser Stoffwechsel, seine Pflicht in den letzten neunundzwanzig Jahren getan zu haben, legt die Beine auf den Tisch und ruht sich aus.«
Er lachte leise. »Na und? Männer mögen Kurven.«
Ich verdrehte die Augen. »Mir geht es nicht darum, was Männer mögen, Dad. Ich muss mit mir zufrieden sein.«
Dad zwinkerte mir zu. »Braves Mädchen.«
Kopfschüttelnd schob ich meinen Teller zur Seite, schenkte Dad ein Lächeln und sprach vorsichtig an, was mir bereits seit dem Aufwachen durch den Kopf ging. Na gut, eigentlich fiel ich direkt mit der Tür ins Haus. »Wie fühlst du dich nach dieser Trennung, Dad?«
Er hielt inne, die Gabel auf halbem Weg zum Mund, und warf mir einen finsteren Blick zu.
Ich lächelte verlegen. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Dafür gibt es keinen Grund.« Seine Stimme klang so schroff wie immer, wenn er über etwas nicht sprechen wollte.
»Dad?«
»Wie sieht es denn bei dir aus? Triffst du dich mit jemandem? Was ist mit diesem Sheriff?«
Ich zuckte zusammen. Warum erzählte ich auch meinem Dad immer alles? »Das ist schon Jahre her; das weißt du doch.«
»Er schien ein netter Mann zu sein. Ich habe nie begriffen, warum daraus nichts geworden ist.«
Das war eine Lüge – er wusste es genau. Und es war gemein von ihm, dass er es erwähnt hatte. Also gab ich ihm auch eine fiese Antwort. »Der Sex war zu gut. Das konnte ich auf Dauer nicht ertragen.«
Dad schaute mich tadelnd an. »Dahlia.«
Entnervt zuckte ich mit den Schultern. »Warum sollte ich dir etwas über mein Privatleben erzählen, wenn du nicht mit mir über Mom sprechen willst?«
»Hast du denn ein Privatleben?«
»Dad!«
»Und?« Er ließ seine Gabel fallen und sah mir direkt in die Augen, was mich eigentlich davor hätte warnen sollen, was nun kam. »Mike lässt sich scheiden. Es geht nur noch um die Formalitäten.«
Schmerz und Sehnsucht ergriffen Besitz von mir, und ich sah rasch zur Seite.
»Ihr wart beide lange Zeit unglücklich. Du solltest dich mit ihm treffen, damit ihr euch aussprechen könnt.«
Mein Dad, der Kuppler. »Dad …«
»Er ist ein guter Mensch, Bluebell. Ich mag ihn. Mir würde es sehr gefallen, wenn du jemanden wie ihn an deiner Seite hättest.«
Michael war mit Sicherheit ein guter Mensch. Aber er war nicht mein Mann. »Er ist nicht für mich bestimmt.«
»Ich möchte, dass du glücklich bist.«
Ich starrte auf meinen Teller und lächelte. »Ich bin glücklich, Dad.«
»Und wenn ich dich nicht schon dein ganzes Leben lang kennen würde, würde ich dir das vielleicht sogar glauben.«
Fest entschlossen, das Thema zu beenden, stand ich auf und ging zur Kaffeemaschine hinüber. »Wann fängt deine Schicht heute an?«
»Um zwei Uhr nachmittags. Und sie geht bis zwei Uhr morgens. Was hast du vor?«
Ich war erleichtert, dass er sich auf den Themawechsel eingelassen hatte, und lehnte mich lächelnd gegen die Arbeitsplatte. »Ich werde wohl einen Stadtbummel machen, das hat mir gefehlt.«
»Kommst du vielleicht bei Bova’s vorbei?«
Ich lachte leise. Bova’s war die Lieblingsbäckerei meines Dads. »Der Laden ist ja nicht weit vom Quincy Markt entfernt, den kleinen Umweg mache ich gerne. Möchtest du etwas Bestimmtes haben?«
»Such du mir etwas aus.« Bei der Aussicht darauf lächelte er jungenhaft.
Lachend schüttelte ich den Kopf. »Dir ist hoffentlich klar, dass du die Leckereien von Bova’s anschließend im Fitnessstudio abtrainieren musst.«
»Das ist es mir wert.« Er stand auf. »Möchtest du einen kleinen Spaziergang mit mir machen, bevor ich zur Arbeit muss?«
Nichts lieber als das. »Sehr gerne.«
Also schlenderten wir durch Everett, und bei jedem Schritt holten mich Erinnerungen ein. Wir sprachen über die Vergangenheit, über alles und nichts, nur Mom und Michael erwähnten wir nicht. Ich glaubte, Dad würde es dabei belassen, doch ich hätte es besser wissen müssen. Solange ich ihn nicht mit Mom in Ruhe ließ, würde er auch das Thema Michael nicht unter den Tisch fallen lassen.
Bailey hatte an diesem Morgen versucht, mich zu erreichen, und ich rief sie sofort zurück, nachdem Dad zur Arbeit gegangen war. Meine Freundin machte sich verständlicherweise Sorgen um mich, und es dauerte fast zwei Stunden, bis ich sie über alles informiert hatte, was sich mit meinen Brüdern und meiner Schwester ereignet hatte. Woraufhin sie fünfzehn Minuten lang lautstark ihren Unmut über Dermots Äußerungen zum Ausdruck brachte.
Während ich versuchte, sie zu beruhigen, erklang im Hintergrund eine tiefe, elegante Stimme. »Was um alles in der Welt ist denn passiert?«
Es war Vaughn.
Bailey hörte auf zu schreien. »Was machst du hier?«
»Ich wollte dich sehen«, erwiderte er trocken. »Aber anscheinend war das keine gute Idee.«
»Ha.« Sie schniefte geringschätzig. »Ich telefoniere mit Dahlia.«
»Und das ist der Grund dafür, dass du alle Schimpfwörter dieser Welt verwendest? Das ist ja eine merkwürdige Freundschaft.«
Seine sarkastische Bemerkung brachte mich zum Lachen.
»Du siehst wirklich gut aus, wenn du deinen Mund nicht aufmachst«, entgegnete meine beste Freundin.
»Ich weiß ganz sicher, dass dir lieber ist, wenn sich meine Lippen öffnen und bewegen.«
»Deine beste Freundin kann das alles hören!«, rief ich ins Telefon.
Bailey lachte leise. »Dahlia hört dich.«
Sein Tonfall veränderte sich. »Geht es ihr gut?«
Er klang besorgt, und das fand ich nett.
»Ihr geht es gut. Allerdings nimmt sich Vanessa gegen ihren Bruder Dermot wie ein Engel aus.«
»Das stimmt nicht«, widersprach ich. Trotz seiner Reaktion auf meine Rückkehr hatte ich das Bedürfnis, Dermot zu verteidigen. Vanessa war ein dämonischer Höllenhund im Körper einer Frau.
»Soll ich ihn um die Ecke bringen lassen?« Vaughn hörte sich beängstigend ernst an.
»Warten wir ab, wie der Besuch weiter verläuft«, erwiderte Bailey. »Ich gebe dir dann Bescheid.«
Ich verdrehte die Augen. »Wir sollten unser Gespräch lieber beenden.«
»Das ist nicht nötig.«
»Doch. Ich habe dich schon zwei Stunden beansprucht, und es hört sich so an, als würde dein Prinz gerne seine Lippen zum Einsatz bringen.«
Bailey lachte in sich hinein. »Ich wünschte, er hätte das jetzt hören können. Wenn ich es mir recht überlege, mag er Frauen mit einem frechen Mundwerk. Möglicherweise verliebt er sich in dich.«
»Unmöglich«, entgegnete ich. »Ich rufe dich später noch einmal an.«
»Ich bitte darum.«
Wir legten auf, und mir wurde bewusst, dass ich allein im Haus war.
Plötzlich kam es mir so vor, als würden die Wände auf mich zukommen, und ich verließ das Haus, so schnell ich konnte. Nachdem ich bei Bova’s eine Schachtel mit Gebäck gekauft hatte, verbrachte ich noch mehrere Stunden in der Stadt. Erst um zehn Uhr fuhr ich mit dem Bus nach Hause und ging sofort ins Bett.
Ohne Dad war das Haus kalt und einsam.
Da ich so lange herumgelaufen war, schlief ich zum Glück rasch ein.
Am nächsten Morgen stand mein Dad überraschenderweise bereits um neun Uhr auf, obwohl er erst gegen drei Uhr nach Hause gekommen war. Mir war bewusst, dass er so viel Zeit wie möglich mit mir verbringen wollte, bevor ich wieder nach Hartwell zurückfuhr. Wann genau das sein würde, stand noch nicht fest.
Wahrscheinlich würde ich erst aufbrechen, wenn ich mir sicher war, dass es Dad gut ging.
Ich hatte jedoch noch nicht begriffen, dass Dad ebenso entschlossen war, mich erst nach Hartwell abreisen zu lassen, wenn er das Gefühl hatte, dass mit mir alles in Ordnung war. Er meinte es wirklich gut, aber an seiner Umsetzung haperte es.
An diesem Tag gingen wir zu Angie’s Diner, und Winnie, die sechzigjährige Inhaberin des Lokals, und Angies Tochter begrüßten mich so herzlich, als wäre ich nie weg gewesen. Das freute mich sehr. Ich hatte nicht nur Angst vor der Reaktion meiner Familienmitglieder gehabt, sondern auch davor, wie sich alle anderen verhalten würden. Dad und ich blieben eine Weile dort und unterhielten uns über alles Mögliche. Er brachte mich mit Geschichten über Leo und Levi zum Lachen, und trotz meiner Nervosität freute ich mich darauf, die beiden am kommenden Tag zum Abendessen zu treffen.
Alles lief sehr entspannt ab, und ich wähnte mich fälschlicherweise in Sicherheit.
Um sieben Uhr ging dann alles den Bach hinunter.
»Zieh dir etwas Hübsches an. Es gibt Steak«, hatte Dad am Nachmittag verkündet.
Ich hatte mir nichts dabei gedacht und auch keinen Verdacht geschöpft, als er mich gebeten hatte, den Esstisch zu decken, obwohl nur er und ich dort sitzen würden. Bei uns war es Tradition, sich nett anzuziehen und im Esszimmer zu decken, wenn es Steak gab. Damit würdigten wir Dads Lieblingsessen und zeigten unsere Dankbarkeit dafür, dass wir es uns leisten konnten.
Als es um sieben Uhr an der Tür klingelte, wusste ich, dass ich äußerst naiv gewesen war.
»Ich mache auf«, rief Dad, bevor ich ihn darum bitten konnte.
Mein Magen krampfte sich vor Unbehagen zusammen. Wahrscheinlich wusste mein Körper eher Bescheid als mein Verstand.
Aus dem Wohnzimmer drangen Männerstimmen, und als sie näher kamen, erkannte ich die Stimme, die nicht meinem Dad gehörte.
Diese Stimme würde ich überall erkennen.
Dad kam durch die Küchentür und sah mich ein wenig vorsichtig, aber unbeirrt an. Ich machte mich auf einiges gefasst.
Hinter ihm kam Michael herein und blieb wie vom Donner gerührt stehen.
Mist.
Mein Dad hatte ihn zum Abendessen eingeladen, ohne ihm zu sagen, dass ich hier war.
Die ganze Welt schien zu verschwinden, und ich hatte das Gefühl, als wäre ich nach einem langen Schlaf abrupt aufgeweckt worden. Mein Herz klopfte heftig, meine Fingerspitzen kribbelten, und das Blut schoss mir mit gewaltiger, unaufhaltsamer Energie durch den Körper. Michael war hier. Er stand vor mir. Lebendig, kraftvoll, maskulin und …
Seine braunen Augen schauten in meine, und ich sah, wie ein Muskel an seiner Wange zuckte, während er versuchte, herauszufinden, was hier vor sich ging. Den Bart, den er bei unserer letzten Begegnung getragen hatte, hatte er abrasiert, und nun bedeckten sexy Stoppeln die untere Hälfte seiner Wangen und sein Kinn.
Mich überkam ein starkes Verlangen, zu ihm hinüberzugehen und sein Gesicht mit beiden Händen zu umfassen, um diese Bartstoppeln auf meiner Haut zu spüren.
Glücklicherweise gelang es mir, mich zurückzuhalten.
»Was ist hier los, Cian?«, fragte Michael und starrte mich weiter an.
Ich fragte mich, ob es ihm einfach nicht gelang, den Blick von mir abzuwenden. Bei mir war das eindeutig der Fall. Meine Güte, er hatte mir so sehr gefehlt.
Das Verlangen, das sich in meiner Brust ausbreitete, schien sich mit spitzen Fingernägeln durch meine Haut bis in meine Knochen hineinzubohren. Und dessen Gewicht war unerträglich schwer.
»Hör mal …« Mein Dad trat mit entschlossener Miene zwischen uns. Als er sich an Michael wandte, sah ich jedoch eine leichte Unsicherheit in seinen blauen Augen aufflackern. »Mike, ich habe Dahlia nicht verraten, dass du kommst. Ich wollte einfach gemeinsam mit euch zu Abend essen. Es geht nicht darum, dass wir alles bis ins Detail ausdiskutieren. Lasst uns einfach gemeinsam ein Steak genießen und miteinander reden.«
Michael warf ihm einen ungläubigen Blick zu.
Oh, Dad, das war ein schlechter Schachzug.
Und ich befürchtete, dass ich schon bald wieder in Tränen ausbrechen würde.
»Komm schon.« Dad legte einen Arm um Michaels Schultern und führte ihn aus der Küche hinaus zum Esstisch.
Meine Beine zitterten. Ich atmete tief aus und streckte die Hand nach einem Küchenstuhl aus, um mich festzuhalten.
Dad kam zurück und versuchte zu verbergen, dass er sich Sorgen machte, doch ich kannte ihn zu gut und schüttelte den Kopf. »Dad.«
»Bring ihm ein Bier. Ich lege noch ein weiteres Gedeck auf.« Er holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, hielt plötzlich inne und warf mir einen Blick zu. »Verflixt, ich habe nicht nachgedacht.«
Zuerst verstand ich nicht, was er meinte, und runzelte die Stirn, doch dann dämmerte es mir. »Dad.« Ich senkte die Stimme. »Ich trinke seit neun Jahren keinen Alkohol und habe damit keine Probleme mehr. Einer meiner engsten Freunde besitzt eine Bar, in der wir uns regelmäßig treffen.« Ich lächelte. »Es macht mir nichts aus, jemandem ein Bier zu bringen.«
Er kam zu mir herüber, küsste mich auf die Stirn und drückte mir ein Budweiser in die Hand.
Sobald ich meine Finger um die eisgekühlte Flasche legte, begann ich zu zittern.
»Vielleicht sollte ich es ihm besser doch nicht bringen«, flüsterte ich.
»Bring es hinter dich, Bluebell. So, als würdest du dir ein Pflaster abreißen.«
Zögernd nickte ich und straffte die Schultern. Ich kam mir vor, als müsste ich mich darauf vorbereiten, in den Krieg zu ziehen.
Ich hatte ja keine Ahnung.
Mit festem Schritt verließ ich die Küche, doch als ich mich nach links wandte und auf das Esszimmer zusteuerte, wuchs meine Angst und ließ mich zögern.
Michael saß nicht am Tisch, sondern drehte mir den Rücken zu; er betrachtete die gerahmten Fotos an der Wand. Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn gründlich zu mustern. Sein taillierter brauner Lederblouson betonte seine breiten Schultern. Dass er sie nicht ausgezogen hatte, war kein gutes Zeichen.
»Weißt du eigentlich, dass du auf keinem dieser Bilder zu sehen bist?« Seine brüske Frage ließ mich zusammenzucken.
Ohne eine Antwort ging ich auf ihn zu. Ich wollte näher bei ihm sein. Nur ein wenig näher. Er sah mich aus dem Augenwinkel, drehte den Kopf und beobachtete, wie ich auf ihn zukam. Als ich die Kälte in seinen Augen las, blieb ich stehen und streckte ihm zögernd die Bierflasche entgegen.
Er warf nur einen verächtlichen Blick darauf.
Ich ließ den Arm sinken und wappnete mich für das, was nun kommen würde.
»Und?«, fragte er.
Offensichtlich sprach er immer noch über die Fotos, also schaute ich an die Wand. Ich wollte mich nicht damit befassen, dass meine Mutter mich aus dieser Sammlung im Esszimmer verbannt hatte. Der tief sitzende Schmerz, den ich dabei empfand, bohrte sich wie ein Splitter unter meine Haut. An manchen Tagen tat es stundenlang weh und wurde immer schlimmer, je stärker ich versuchte, dagegen anzukämpfen. Wenn ich nicht darüber nachdachte, blieb der Schmerz unter mehreren verhärteten Hautschichten verborgen.
»Ja, das weiß ich«, erwiderte ich schließlich und starrte auf die Bilder, ohne sie wirklich zu sehen. »Meine Mom hat mich sozusagen ausradiert.«
»Kannst du ihr das etwa übel nehmen?«, entgegnete er.
Verdammt.
Ich wollte ihm auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass ich Verständnis dafür aufbrachte.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und er riss den Blick von mir los. »Meine Güte«, murmelte er leise.
»Alles in Ordnung?« Dad kam mit einem Teller und Besteck für Michael ins Esszimmer. Er hatte ziemlich lange dafür gebraucht.
»Ich gehe wieder, Cian«, erklärte Michael, und seiner Stimme war deutlich Zorn anzuhören. »Wenn ich bleibe, könnte ich einige unschöne Sachen sagen, die ich nicht mehr zurücknehmen kann.«
Dad seufzte tief. »Mike …«
»Nein«, unterbrach Michael ihn. »Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich mich mit euch beiden an den Tisch setze, Steak esse und so tue, als sei nichts gewesen.« Er wandte sich wieder mir zu und hielt mich mit seinem düsteren Blick gefangen. »Du bist nicht einfach abgehauen, Dahlia, du bist davongelaufen, ohne mir zu verraten, wo du dich aufhältst. Neun verdammte Jahre lang!«
Ich zuckte zusammen, da er erbost die Stimme hob. Und das mit Recht. Allerdings hatte ich geglaubt – oder gehofft –, dass seine Ehe ein Zeichen war. Dafür, dass er darüber hinweg war und nicht mehr darunter litt. Auch wenn mir diese Vorstellung das Herz zerrissen hatte, war sie besser als die aufbrandende Wut in seinen Worten. Michael war nie ein zorniger Mensch gewesen, trotz der vielen Probleme mit seinem Vater.
Meine Güte, hatte ich ihn etwa so verändert?
Noch eine Schuld, die ich mir anlasten musste.
»Wo warst du, und warum bist du jetzt zurückgekommen?«, fragte er fauchend.
»Mike, beruhige dich.«
»Schon okay, Dad.« Ich schüttelte den Kopf und zwang mich dann dazu, Michael in die Augen zu schauen, auch wenn es mir schwerfiel. »Ich war in Hartwell.«
Seine Nasenflügel weiteten sich. »Deine Freundin hat mir gesagt, du hättest dort nur Urlaub gemacht.«
»Sie … Sie weiß, wer du bist, und hat mich gedeckt.«
»Oh Gott«, stieß er angewidert und beinahe tonlos hervor. In gewisser Weise war das noch schlimmer als sein Zorn. »Was bist du nur für ein Feigling.«
»Das reicht«, warf Dad warnend ein.
»Ja, das stimmt.« Michael verzog die Lippen. »Es ist wirklich genug.« Er schritt auf mich zu und blieb vor mir stehen. »Geh mir aus dem Weg.«
Ich versuchte, mich wieder in die Benommenheit zu flüchten, die mich an schlechten Tagen in den letzten zehn Jahren am Leben gehalten hatte, doch es wollte mir nicht gelingen. Ich drückte mich gegen die Wand, damit Michael an mir vorbeigehen konnte, ohne mich zu berühren.
Mit versteinerter Miene stürmte er an mir vorbei, und wenige Sekunden später hörten wir, wie die Haustür geöffnet und dann zugeschlagen wurde.
Ein Schmerz durchfuhr mich, und ich schnappte nach Luft.
All diese Jahre … und er war immer noch wütend auf mich.
»Kannst du ihr das etwa übel nehmen?«
»Bluebell«, sagte mein Dad. »Es tut mir so leid.«
Ich schüttelte den Kopf und starrte auf den Boden. »Er hasst mich.«
»Nein, das glaube ich nicht.« Mein Dad legte mir die Hände auf die Schultern und zog mich an sich.
Ich schmiegte mich an seine Brust, grub meine Finger in sein Hemd und versuchte zitternd, meine Tränen zu unterdrücken. »Dad.«
»Niemand ist ohne Grund nach neun Jahren noch so wütend. Du bedeutest ihm immer noch viel. Er wird sich wieder beruhigen.«
»Ich muss das in Ordnung bringen«, stellte ich entschlossen fest. Nicht auf die Art und Weise, wie Dad es sich erhoffte. Nein. Zwischen Michael und mir war alles längst vorbei, aber ich konnte seinen Hass und seinen Schmerz nicht ertragen. Wir würden nie wieder eine Beziehung miteinander haben, doch bevor ich Boston wieder verließ, wollte ich zumindest einiges gutmachen.
Also setzte ich Michael Sullivan auf die Liste der Dinge, die ich erledigen musste, bevor ich mich auf die Rückreise nach Hartwell machen konnte.
Dafür sorgen, dass Dad glücklich war.
Meine Beziehung zu Darragh und Davina wieder kitten.
Mit Dermot sprechen und hoffentlich einen Weg für uns beide finden.
Mich bei Michael entschuldigen und ihn bitten, mir zu verzeihen.
Nach der hässlichen Auseinandersetzung mit Michael versuchten Dad und ich, das Abendessen zu genießen, aber ich hatte keinen Appetit mehr. Ich stand auf und küsste Dad besänftigend auf die Wange. Es tat mir weh, seine zerknirschte Miene zu sehen. Er hatte etwas Gutes tun wollen, und ich war ihm nicht böse deswegen.
Leider hatte er das Ausmaß von Michaels Zorn unterschätzt. Ebenso wie ich. Als wir uns im letzten Sommer nach all den Jahren zum ersten Mal wiedergesehen hatten, waren auf seinem Gesicht nur Schock und Erleichterung zu sehen gewesen. Doch dass ich dann wieder abgetaucht war, hatte er wohl als einen weiteren Beweis meiner Feigheit gesehen.
War das wirklich Feigheit? fragte ich mich, während ich die Treppe hinaufstieg.
Wahrscheinlich. So hatte ich das noch nie gesehen.
Meine Vergangenheit war von Kummer überschattet, und Michael war ungewollt ein Teil davon. Mir war klar geworden, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen sein konnte, denn ihn jeden Tag zu sehen hätte mich emotional zerstört. Die räumliche Entfernung half mir dabei, meine Gefühle für ihn zu betäuben. Tatsächlich hatte das so gut funktioniert, dass ich bei unserer zufälligen Begegnung erschüttert war, wie stark meine Empfindungen noch waren. Sie waren nie verschwunden gewesen.
Ich hatte sie nur auf Eis gelegt.
Michael musste, wie immer, nicht einmal ein einziges Wort sprechen, um dieses Eis zum Schmelzen zu bringen. Es reichte aus, wenn er sich im selben Raum befand wie ich. Atmete. Kraftvoll und lebendig war.
Elektrisierend.
Bevor wir uns trafen, wusste ich nichts davon, dass ich einen gewissen Teil in mir noch nicht kannte.
Ich warf einen Blick auf die geschlossene Tür meines alten Schlafzimmers, ging ins Gästezimmer und ließ mich auf das Bett fallen.
In meinem Kopf dröhnte immer noch Michaels wütende Stimme, doch schon kurz darauf wurde sie von den Geistern der Vergangenheit übertönt …
»Ich will da nicht reingehen«, murrte ich, als ich Dillon in Angie’s Diner folgte.
Der große Ansturm des Abends stand noch bevor, also gelang es Dillon, uns zu einer Sitzecke im hinteren Teil des Lokals zu lotsen. »Wir könnten uns auch an die Theke setzen, anstatt hier anderen Leuten den Platz wegzunehmen.«
Meine kleine Schwester verdrehte die Augen. »Oh mein Gott, wenn du nicht endlich aufhörst, Trübsal zu blasen, zu jammern und zu meckern, bekommst du gleich eine Ohrfeige von mir.«
Ich verzog das Gesicht. »So schlimm bin ich nun auch wieder nicht.«
»Doch.« Sie warf mir einen verständnisvollen Blick zu, während wir uns auf der Bank niederließen. »Vielleicht hast du deine Gefühle für Gary unterschätzt. Möglicherweise hat er eine zweite Chance verdient.«
Wäre es ein Fehler, wenn ich ihr jetzt Ketchup über ihr hübsches weißes T-Shirt spritzen würde? Ich bemühte mich, sie nicht allzu finster anzuschauen. »Auf keinen Fall!«, stieß ich hervor.
Dieses Arschloch hatte mich betrogen, und ich hatte ihn dabei erwischt!
»Du musst aufhören, so niedergeschlagen zu sein. Ich hab dich lieb, und es tut mir wirklich leid, dass er sich wie ein Idiot benommen hat, aber du bist nicht die erste Frau, die von ihrem Freund betrogen wurde.«
Rasch senkte ich den Blick, damit sie die Wut in meinen Augen nicht sah, und ich schluckte ein paarmal, um die bissigen Bemerkungen zu unterdrücken, die mir auf der Zunge lagen. Mir ging es nicht schlecht, weil Gary mich betrogen hatte und wir uns getrennt hatten.
Ich war todunglücklich, aber nicht wegen Gary.
Nein.
Es ging um Michael.
Ein Jahr lang waren wir befreundet gewesen. Richtig gut befreundet. Besser, als Gary es wusste. Michael war immer für mich da gewesen, und wir hatten über alles miteinander geredet. Und ich hatte geglaubt, dass er meine Gefühle erwiderte.
Aber vor sechs Wochen, einige Tage bevor ich mit Gary Schluss machte, hatte ich herausgefunden, dass er sich mit Dillon traf. Sie waren bereits seit zehn Wochen ein Paar. Das wusste ich, weil Dillon auf Wolke sieben schwebte und ständig sagte: »Ich kann es kaum glauben, dass wir schon seit zehn Wochen zusammen sind. Er ist der Richtige, Dahlia, da bin ich mir sicher.«
Meine kleine Schwester.
Dieser Arsch traf sich mit meiner kleinen Schwester.
Ich hasste ihn.
Weil ich ihn liebte.
Seit meiner Trennung von Gary ignorierte ich seine SMS und Anrufe, und mir graute vor dem Tag, an dem Dillon ihn als ihren neuen Freund zu einer Familienfeier mitbringen würde.
Gott, wie dumm war ich gewesen! Ständig hatte ich mich schuldig gefühlt, weil ich mit Gary zusammen war, aber Michael begehrte.
Was für ein Witz!
»Du bist nicht du selbst, und ich weiß nicht, was ich dagegen unternehmen soll.«
»Das wird schon wieder.« Ich zwang mich zu einem schwachen Lächeln.
Auch wenn ich mich ehrlich bemühte, nicht auf Dillon wütend zu sein, kam es mir vor, als hätte sie mir etwas weggenommen. Nicht so, als wenn wir uns Make-up oder Schmuck von der anderen ausliehen, obwohl wir vereinbart hatten, dass das tabu war. Es war beinahe so, als hätte sie mir ein Loch in meine Brust geschlagen und ein Stück meines Herzens herausgerissen.
Ich wollte meiner Schwester nicht böse sein.
»Hey, du hast es geschafft!«, rief Dillon begeistert.
Ich zuckte zusammen und folgte ihrem Blick.
Mein Herz begann heftig zu pochen, als ich den Kopf hob und Michael neben unserem Tisch stehen sah. Was zum Teufel machte er hier?
Unsere Blicke trafen sich, während Dillon aufstand. Sie zog ihn an sich, und ich schaute rasch zur Seite.
Dillon traf keine Schuld, das sagte mir die Vernunft. Sie hatte keine Ahnung davon, was ich für Michael empfand. Oder doch? Ich persönlich war der Ansicht, wir hätten es ziemlich deutlich gezeigt, aber anscheinend hatte ich mich geirrt.
Obwohl ich es Michael gegenüber nie laut geäußert hatte, wusste er doch, was ich für ihn fühlte.
Verdammt, er wusste es.
Der Michael, den ich kannte, würde mich niemals derart verletzen. Ich hatte geglaubt, dass er meine Gefühle teilte, doch wenn er sich nun mit Dillon traf, wir also sozusagen austauschbar waren, dann hatte der Mistkerl nie so für mich empfunden wie ich für ihn. Und in all den Monaten, in denen ich mich schmerzlich danach gesehnt hatte, mit ihm zusammen zu sein, hatte ich meine Gefühle vergeudet.
Nachdem Dillon ihm einen Kuss auf die Lippen gedrückt hatte, setzten sich die beiden auf die gegenüberliegende Bank, sodass ich gezwungen war, sie anzuschauen. Auch wenn mein Blick in Michaels Richtung ging, vermied ich es, Augenkontakt mit ihm aufzunehmen.
»Wie läuft es bei dir?«, fragte er.
»Gut.« Ich zuckte mit den Schultern und starrte auf die Speisekarte. »Wollen wir uns etwas zu essen bestellen, oder …?«
»Ich könnte eine Portion Pommes vertragen«, meinte Dillon.
»Ich … ähm … Dahlia …« Michael beugte sich über den Tisch.
Ich ignorierte ihn. »Wollen wir uns eine Portion Chili-Pommes teilen?«
»Dahlia, schau mich an.«
Plötzlich lag Spannung in der Luft, und ich hatte Angst, dass Dillon es bemerken würde.
»Du hast meine Anrufe ignoriert.«
Was sagst du da? Willst du das etwa vor meiner Schwester ausbreiten?
Ich suchte verzweifelt nach einem anderen Grund, außer dass ich in ihn verliebt war und dass er mir das Herz gebrochen hatte, weil er sich mit Dillon traf. Und dann wurde es mir plötzlich klar, und ich starrte ihn an. »Hast du es gewusst?«
In seinen Augen flackerte Unbehagen auf. »Was meinst du?«
»Hast du gewusst, dass Gary mich betrügt?«
Dillon stand mit einem Mal auf. »Wisst ihr was? Ich habe vergessen, dass ich morgen eine Kundin habe, die sich ein kompliziertes Nageldesign wünscht. Das muss ich noch üben, also sollte ich jetzt besser gehen.« Sie beugte sich vor, um Michael auf den Mund zu küssen, und war verschwunden, bevor ich ihr nachrufen konnte, dass sie mich heimfahren musste.
Mein verdammter Wagen war in der Werkstatt!
»Nein«, erwiderte Michael. »Natürlich habe ich das nicht gewusst, Dahlia.«
Ich starrte meiner Schwester entsetzt nach. Sie hatte mir und Michael, den sie nur für einen meiner guten Freunde hielt, etwas Gutes tun wollen und uns allein gelassen, damit wir in Ruhe über meine Probleme mit Gary sprechen konnten.
Als ich mich ihm wieder zuwandte, war meiner Miene wohl deutlich anzusehen, was ich für ihn empfand und dass ich mich von ihm verraten fühlte. Da war ich mir sicher, denn ich sah, wie er zusammenzuckte.
»Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob du von Garys Affären gewusst hast.« Ich senkte die Stimme. »Dir ist klar, dass das nicht der Grund ist, warum ich deine Anrufe ignoriert habe.« Ich beugte mich zu ihm vor. »Den wahren Grund kennst du«, zischte ich.
Wut stieg in mir hoch; ich schnappte mir meine Handtasche und stand rasch auf.
Wenn ich noch länger sitzen bliebe, würde ich ihm möglicherweise eine reinhauen.
Er rief meinen Namen, und seine Stimme klang verwirrt.
Verwirrt? Also bitte!
In der Hoffnung, meine Schwester noch einzuholen, stürmte ich aus dem Restaurant, aber sie war bereits verschwunden.
Dann fasste eine starke Hand meinen Arm, und ich wurde herumgedreht. Michaels Hitze und Kraft umfingen mich, und ich kämpfte dagegen an. »Lass mich los.«
»Beruhige dich«, befahl er mir.
Als ich den Blick hob und ihm in die Augen schaute, strömten mein Kummer und mein Schmerz aus mir heraus, und dafür hasste ich ihn. »Lass mich los«, wiederholte ich.
Er verzog das Gesicht, und seine Stimme klang schmerzerfüllt. »Dahlia«, flüsterte er.
»Warum sie?«
Michael verstärkte seinen Griff und zog mich näher zu sich heran. »Ich habe keine Ahnung von dem mit Gary gehabt. Wirklich nicht, sonst hätte ich nicht …«
Erneut stieg Zorn in mir auf. »Dann hättest du die Beziehung zu meiner Schwester nicht angefangen?« Ich riss mich los und schob ihn von mir weg. »Du hättest von Anfang an die Finger von ihr lassen sollen!«
»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte er knurrend. Sein Bedauern verwandelte sich rasch in Ärger. »Warten und mich nach etwas sehnen, was ich nicht haben kann?«
»Nein! Darum habe ich dich nie gebeten, und das wissen wir beide genau.« Ich konnte mich sehr gut an all die Frauen erinnern, mit denen er in der Zeit, in der ich mit Gary zusammen gewesen war, etliche Partys verlassen hatte. »Aber Dillon? Warum hast du das getan? Warum versuchst du, mich zu verletzen?«
Seine Augen weiteten sich, und seine Gesichtszüge erschlafften. »Dahlia, ich habe nie … Ich würde auf keinen Fall …« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht gedacht, dass du so empfindest, und wahrscheinlich erinnert sie mich an dich.«
Verdammt, das tat sogar noch mehr weh. »Dann sind sie und ich also austauschbar?«
»Du weißt, das ist nicht wahr.« Michael warf mir einen betroffenen Blick zu.
»Ich verstehe das alles nicht.« Wütend schüttelte ich den Kopf. Meine Augen wurden feucht, und ich befürchtete, dass mir gleich Tränen über die Wangen laufen würden. Wie konnte er es wagen, mich zum Weinen zu bringen! Selbst als Gary und ich uns getrennt hatten, hatte ich nicht geweint! Ich wich zurück. »Der Michael, den ich kenne, hätte mich niemals so verletzt.«
»Ich wollte dir nicht wehtun.« Michael streckte die Hand nach mir aus, aber ich drehte mich um und wandte mich zum Gehen. Nichts, was er noch sagen könnte, würde etwas ändern.
Ich hörte seine Schritte hinter mir, rechnete jedoch nicht damit, dass er mich hinter dem Restaurant gegen die Mauer drücken würde. Er ragte vor mir auf, die Hände über meinem Kopf an die Wand gestützt, und seine Brust hob und senkte sich unter seinen flachen, heftigen Atemzügen.
Mein Herz raste.
»Wenn wir schon bei Schuldzuweisungen sind, wie steht es denn mit dir?«, sagte er fauchend. »Erstens hast du mir nie gezeigt, dass du tatsächlich an einer Beziehung mit mir interessiert warst, und zweitens hat Dillon mir erzählt, dass du Gary bereits seit Monaten verdächtigt hast, untreu zu sein, und dir bereits die ganze Zeit überlegt hast, mit ihm Schluss zu machen.«
»Ich habe es dir nie gezeigt? Also bitte! Und was hat das damit zu tun, was du gemacht hast?«
»Ich hatte keine Ahnung, dass ich dich damit verletzen würde.«
»So ein Schwachsinn!«, brüllte ich ihn an.
»Beruhige dich!« Er schob sein Gesicht so nahe an meines heran, dass sich unsere Nasen beinahe berührten. »Darling, komm wieder runter.«
»Nenn mich nicht so!« Ich versuchte, unter seinem Arm hindurchzuschlüpfen, aber er griff mich an der Taille. »Lass mich los, Michael.«
Doch er ging nicht darauf ein und presste stattdessen die Stirn an meine Schläfe.
Ich erstarrte, und dann überkam mich ein so tiefes und schmerzliches Verlangen, dass mir wieder Tränen in die Augen stiegen.
»Ich bin ein Idiot. Ein selbstsüchtiger Trottel«, flüsterte er. »Und es tut mir so verdammt leid. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mir das alles leidtut.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht so sehr wie mir. Du hättest nichts mit ihr anfangen dürfen.«
Er schwieg eine Weile, und ich hätte diese Gelegenheit nutzen sollen, um mich von ihm loszureißen. Aber vielleicht war das das letzte Mal, dass ich seine Arme um mich spürte, und ein Mitleid erregender Teil von mir wollte diese Verbindung noch nicht unterbrechen.
Sein Atem fühlte sich warm auf meiner Haut an. Er kam stoßweise, so, als wollte er mir etwas sagen und würde zögern. Und kurz darauf verstand ich das. »Ich habe … Ich habe nicht mit ihr geschlafen.«
Bei dem bloßen Gedanken daran krampfte sich mein Magen zusammen. »Was soll ich dazu sagen?«
»Ich könnte … die Sache mit ihr beenden, damit du und ich …«
Der Bann war gebrochen, und ich machte mich von ihm los und wich ein Stück zurück. Ungläubig starrte ich ihn an. »Kapierst du das nicht? Du hättest es schlimm gefunden, wenn ich mich wegen dir von Gary getrennt hätte, richtig? Kannst du dir vorstellen, was es zwischen Dillon und mir anrichten würde, wenn du dich nun wegen mir von ihr trennen würdest? Sie meint es wirklich ernst mit dir, Michael. Und sie würde nicht begreifen, dass sie mir etwas weggenommen hat.« Meine Lippen zitterten, und ich verwünschte die Tränen, die mir über die Wangen liefen. Diese Tränen waren sinnlos und ließen mich schwach wirken. »Sie wird glauben, dass ich dich ihr gestohlen habe.« Ich wischte meine Tränen ab. »Und das will ich ihr nicht antun.«
»Was ist mit uns?«
»Du hast jegliche Chance, die wir vielleicht gehabt hätten, kaputt gemacht.«
Als er einen Schritt auf mich zutrat, hob ich die Hand, um ihn aufzuhalten.
»Du wolltest deinen Freund nicht verraten, und ich werde ganz sicher meine Schwester nicht betrügen.«
In diesem Augenblick schien Michael das volle Ausmaß seines Tuns zu begreifen, und er sah mich bekümmert an. »Dahlia …« Seine Stimme klang schmerzerfüllt.
Meine Wut auf ihn verschwand. Michael war so ausgeglichen, so reif für sein Alter, und manchmal vergaß ich deshalb, dass er nur ein paar Jahre älter war als ich. Er war immer noch ein junger Mann und beging, wie wir alle, auf dem holprigen Weg durch das Leben Fehler. Das war nur menschlich. Ich hatte ihn auf ein Podest gestellt, und das war mein Fehler.
Nur hatte er etwas falsch gemacht, was schrecklich für mich war und mir großen Schmerz zugefügt hatte.
»Es tut mir leid, aber wenn ich meinen Verstand nicht verlieren will, muss es zwischen uns vorbei sein, Michael. Schreib mir keine Nachrichten mehr und ruf mich nicht mehr an … Lass es einfach bleiben. In Dillons Gegenwart werde ich so tun, als sei alles zwischen uns in Ordnung, doch es muss ein Ende haben.«
Offensichtlich streute ich damit Salz in seine Wunden, denn seine Augen begannen leidenschaftlich zu funkeln. »Ich habe nicht … Ich habe es gehofft, aber immer geglaubt, dass meine Gefühle einseitig wären und dass ich mich damit abfinden müsste. Du hast mir nie gesagt … Wir haben uns nie gesagt …«
»Und das werden wir auch nicht machen.« Ich ließ die Schultern sinken und trat auf die Straße hinter dem Restaurant. »Ich nehme an, wir sehen uns bald mal wieder.«
Als ich weiterging, war ich stolz darauf, beim Abschied nicht noch mehr Tränen vergossen zu haben.
Glücklicherweise stand Dillons Auto nicht vor der Tür, als ich zu Hause ankam, und ich schlich mich rasch ins Haus, bevor jemand sehen konnte, in welches Wrack Michael Sullivan mich verwandelt hatte.
Ich riss mich aus dieser schmerzhaften Erinnerung und griff nach meinem Handy, das ich zum Aufladen auf den Nachttisch gelegt hatte. Ich musste mit Bailey reden. Sie sagte mir immer ganz klar ihre Meinung, und sie würde es mir auch deutlich zu verstehen geben, wenn sie glaubte, dass ich versuchen sollte, die Sache zwischen mir und Michael zu bereinigen. Schließlich kannte sie die ganze Geschichte.
Sie wusste auch über alle Fehler Bescheid, die auf beiden Seiten begangen worden waren.
Und über alles, was schiefgelaufen war und uns davon abgehalten hatte, wieder zusammenzukommen.
Ich wusste, dass ich nie eine Beziehung mit Michael haben würde, in der er den Platz in meinem Leben und meinem Bett einnehmen würde, den bisher kein anderer Mann eingenommen hatte. Der Versuch, ihn um Verzeihung zu bitten, würde also unweigerlich Schmerz mit sich bringen, und ich musste dafür ein ausreichendes Maß an Großmut aufbringen.
Und ich musste tapfer sein.
Bailey würde sich das von mir wünschen, das wusste ich genau. Sie würde mich ermutigen, und diesen Schubs brauchte ich.
Denn es würde sehr, sehr wehtun.