Kapitel sieben

DAHLIA

Mein Dad schaute mich von der anderen Seite des Raums glücklich an, und ich schenkte ihm ein Lächeln, bei dem sicher mein Grübchen zu sehen war. Alles war viel besser als am Abend zuvor.

»Hast du das gesehen, Tante Dahlia? Hast du gesehen, wie ich die Prinzessin Sprixie gerettet habe?«, brüllte Leo mir aus einem halben Meter Entfernung ins Ohr.

»Und das sind Mom, Dad, Leo, Grandpa …« Levi, mein fünfjähriger Neffe, deutete auf die Gestalten auf seiner Zeichnung. »Ich könnte dich noch dazumalen.«

»Tante Dahlia!«, rief Leo.

Ich lächelte ihn an. »Ja, ich hab’s gesehen.« Ich konnte kaum glauben, dass es diese Super-Mario-Spiele immer noch gab. »Das machst du sehr gut.«

»Ich weiß.« Sein freches Grinsen erinnerte mich sehr an Darragh.

Mein Blick wanderte nach unten zu Levi, der geduldig auf meine Beurteilung seines Bilds wartete. Es war erstaunlich gut für einen Fünfjährigen. Keine Strichmännchen. Bei dem Gedanken, dass er sein künstlerisches Talent aus meiner Linie geerbt haben könnte, wurde mir warm ums Herz. »Levi McGuire, du bist ein Künstler«, verkündete ich. »Und ich würde mich geehrt fühlen, wenn du mich auch malen würdest.«

Er lächelte schüchtern und nahm mir das Blatt Papier aus der Hand. Rasch lief er damit zu dem kleinen Tisch in einer Ecke des Wohnzimmers, auf dem seine Buntstifte lagen, machte sich ans Werk und warf mir dabei hin und wieder einen Blick zu.

Mein Herz schien zu bersten.

Leo unterhielt sich inzwischen mit Dad, der sich mit ihm vor den Fernseher gesetzt hatte und ihm beim Spielen zuschaute.

Mom und Dad hatten uns einmal zu Weihnachten einen Nintendo gekauft; die Konsole war für die ganze Familie gedacht und das Hauptgeschenk in diesem Jahr gewesen. Eine tolle Sache. Allerdings hatten nur die Jungs einen Fernseher in ihrem Zimmer; Darragh hatte ihn sich mit dem Lohn einiger Sommerjobs zusammengespart. Das bedeutete, dass sie die Spielkonsole bei sich aufstellten und wir Mädchen kaum Zugriff darauf hatten. Und Mom und Dad erlaubten uns nicht, die Konsole ins Familienzimmer zu bringen, denn das war ihre Domäne.

Krista und mein Bruder hingegen hatten offensichtlich nichts dagegen, dass meine hinreißenden Neffen das gesamte Haus in Beschlag nahmen.

»Ich glaube, sie mögen Tante Dahlia«, flüsterte Krista mir ins Ohr.

Sie beugte sich über die Lehne des Sessels, in dem ich saß, und als ich mich zu ihr umdrehte, spürte ich einen Kloß im Hals. »Sie sind großartig – wie ihr alle«, brachte ich hervor, nachdem ich mich geräuspert hatte.

Freundlich lächelnd drückte Krista meine Schulter. »Es ist schön, dass du wieder hier bist.«

Mir war gar nicht mehr bewusst gewesen, wie sehr ich die Frau meines Bruders mochte. Krista hatte immer ein nettes Wort für jeden. Sie hasste Konfrontationen, und mein Bruder war manchmal entnervt, weil sie im Umgang mit Freunden und Kollegen viel zu weichherzig war und dann oft ausgenutzt wurde. Doch sie besaß auch einen guten Sinn für Humor und die Fähigkeit, zu verzeihen und etwas abzuschließen, und dafür war ich im Augenblick besonders dankbar.

Das Abendessen mit meinem Bruder und seiner Familie war großartig. Tatsächlich hätte ich mich dafür ohrfeigen können, dass ich so viele Jahre hatte verstreichen lassen, denn Darragh nahm mir offensichtlich nichts von all dem, was vorgefallen war, übel. Natürlich machte er mir Vorwürfe, weil ich mich so lange nicht gemeldet hatte, und trotz seiner Bemühungen, das Vergangene zu vergessen, war er deswegen immer noch ein wenig böse auf mich. Doch er gab sich Mühe, und das war wunderbar.

Meine Neffen waren ganz reizend, und ich war traurig, dass ich so viel Zeit mit ihnen versäumt hatte.

»Du darfst es auch gleich versuchen, Tante Dahlia«, rief Leo mir zu. Er besaß eine gewaltige Stimme, die er gerne erschallen ließ. Wie ich feststellte, gefiel es ihm, immer etwas lauter zu sprechen als die anderen, beinahe so, als glaubte er, wir seien alle schwerhörig. »Ich will nur noch bis zum nächsten Level kommen, dann zeige ich dir, wie es geht.«

Mein Dad und ich grinsten uns an.

Leo war ziemlich selbstbewusst. Beim Abendessen hatte ich erfahren, dass er Pitcher im Juniorenteam der Baseballmannschaft an seiner Schule war. »Ich bin gut«, hatte er, den Mund voll mit Spaghetti, erklärt. »Sehr gut sogar.«

Außerdem besuchte er eine Taekwondo-Schule und konnte seine Gegner schon in den Hintern treten.

Levi war ruhiger, beinahe sogar ein wenig schüchtern. Vielleicht lag das an seinem Alter, aber ich war der Ansicht, dass er im Wesen eher nach seiner Mutter kam. Im Aussehen waren die beiden die perfekte Mischung ihrer Eltern. Krista hatte glatte umbrabraune Haut, große dunkle Augen und langes Haar, das sie zu festen Zöpfen geflochten trug. Die Jungen waren nicht ganz so dunkel wie Krista – ihre Haut hatte einen wunderschönen beigebraunen Ton. Von ihrem Vater hatten sie die haselnussbraunen Augen geerbt und von ihrer Mutter das Haar. Leo trug es zu kurzen Locken geschnitten, und Levi hatte einen wilden Afrolook. Ganz unvoreingenommen konnte ich sagen, dass meine Neffen zwei sehr hübsche kleine Jungen waren.

»Noch einen Kaffee, Dahlia?«, fragte Darragh an der Küchentür. »Dad?«

»Für mich nicht, danke«, erwiderte Dad.

Ich stand von meinem Stuhl auf. »Lass mich dir helfen.«

Krista blieb im Wohnzimmer, und ich war in der Küche zum ersten Mal allein mit meinem Bruder. Rasch ging ich zu ihm hinüber und schlang meine Arme um ihn.

Er zog mich an sich, und wir blieben eine Weile lang so stehen.

Meine Umarmung sagte ihm, wie sehr ich es bedauerte, all die Jahre versäumt zu haben.

Seine Umarmung sagte mir, dass er mich verstand.

Ich trat einen Schritt zurück und lächelte ihn an. »Deine Söhne sind großartig, Darragh.«

Mein großer Bruder grinste. »Ja, das haben wir gut gemacht, oder?«

»Allerdings.« Ich lehnte mich gegen die Arbeitsfläche, während er Kaffee für uns kochte.

»Und morgen bist du bei Davina?«

»Ja.« Ich war ein wenig nervös bei dem Gedanken daran, obwohl ich mit ihr und Darragh am Sonntag zuvor bei Dad einen schönen Abend verbracht hatte. Von meinen beiden älteren Geschwistern war Darragh eindeutig der Nachsichtigere.

»Ähm … Dad hat mich gestern Abend angerufen und mir erzählt, was mit Mike vorgefallen ist. Er fühlt sich schrecklich deswegen.«

Ich zuckte zusammen. »Ich habe ihm gesagt, dass es dafür keinen Grund gibt. Mir ist klar, was er vorhatte, doch leider ist dieser Schuss nach hinten losgegangen.«

»Ich nehme an, du weißt, dass wir nur noch wegen Dermot Kontakt zu Mike haben?«

Bei dem Gedanken an Dermot krampfte sich mein Magen zusammen. »Ja.« Dermot war ebenfalls Polizist. Er und Michael arbeiteten im gleichen Polizeirevier. Als Michael und ich ein Paar waren, hatten sie sich angefreundet, und nachdem ich gegangen war, war zwischen ihnen eine innige Männerfreundschaft entstanden.

»Wahrscheinlich hat Dermot Michael mit seiner Meinung beeinflusst.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Michaels Gefühle sind seine ureigenen.«

»Nun, ich wollte damit sagen, dass Dermot vielleicht in gewisser Weise auf Michael eingewirkt hat und dass Mom mit Sicherheit Einfluss auf Dermot hat. Und das führt mich zu meiner nächsten Frage … Hast du vor, dich während deines Besuchs mit Mom zu treffen?«

Mit einem Blick über meine Schulter vergewisserte ich mich, dass Dad mich nicht hören konnte. Dann senkte ich die Stimme und beugte mich zu meinem Bruder vor. »Dad will nicht über die Scheidung reden. Ich muss mich vergewissern, dass er damit klarkommt, und wenn er mir keine Antworten gibt, wird es Mom vielleicht tun.«

»Dahlia, die Scheidung geht nur die beiden etwas an.«

»Tatsächlich?«

Über seine Miene huschte ein Anflug von Ärger. »Um Himmels willen, du gibst dir doch nicht etwa auch dafür die Schuld? Meine Güte, Dahlia, lass dich nicht länger von dem Mist beeinflussen, den Mom erzählt. Wenn du das zulässt, wirst du noch zur Märtyrerin.«

Ich sah ihn finster an.

»Du machst dir Sorgen um Dad, aber das ist nicht nötig. Ich glaube, das ist das Beste für ihn.«

Schockiert starrte ich ihn eine Weile an. »Wie kannst du das sagen? Du weißt doch, wie sehr sie sich lieben.«

»Nur weil sie sich lieben, sind sie nicht unbedingt gut füreinander.« Darragh musterte mich nachdenklich. »Wie kannst du wollen, dass sie glücklich ist, nach allem, was sie zu dir gesagt hat?«

Die Erinnerung daran schmerzte, aber ich verdrängte sie rasch mit einem Schulterzucken. »Sie war nicht ganz bei Sinnen.«

»Ach ja? Nun, das ist sie schon seit Jahren nicht mehr. Nach Dillon hat sie uns alle von sich gestoßen.« Mein Bruder starrte auf den Fußboden, und zum ersten Mal hörte ich den Schmerz in seiner Stimme. »Für Davina hat sie keine Zeit, und auch wenn sie ab und zu bei den Jungen vorbeischaut, hält sie sich trotzdem von ihnen fern. Engeren Kontakt pflegt sie nur mit Dermot – und dabei hat sie ihm all ihre Lügen in den Kopf gepflanzt.«

Ich dachte an Dad. »Das geht doch schon länger so, und Dad hat davon gewusst, aber er hat es mir gegenüber nie mit einem Wort erwähnt.«

»Das hat sicher mit der Scheidung zu tun. Hör auf, dir die Schuld zu geben und dir Sorgen zu machen. Dad wird das schon schaffen.« Er warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo Dad mit Leo scherzte. »Es wird ihm sogar sehr gut gehen. Schau ihn dir an. Er sieht großartig aus. Schon bald wird er sich wieder mit Frauen verabreden und ein neues Kapitel in seinem Leben aufschlagen.«

Verabredungen? Der Gedanke wäre mir nie gekommen. »Und du würdest das gut finden?«

»Natürlich. Krista hat vor, ihn mit einer Kollegin ihrer Mutter bekannt zu machen.«

Die Vorstellung, dass mein Vater sich mit einer anderen Frau treffen würde, war befremdlich. Doch andererseits stammten meine Erinnerungen an meine Eltern als Paar aus der Zeit vor Dillons Tod. Darragh war im Gegensatz zu mir in den letzten neun Jahren hier gewesen und hatte offensichtlich eine Verschlechterung ihrer Beziehung beobachtet, die mir entgangen war.

Ich fragte mich, wie schlimm es wohl gewesen sein musste, denn Darragh schien förmlich darauf zu brennen, dass Dad all das hinter sich ließ.

»Trotzdem sollte ich mich vielleicht mit Mom treffen und mir anhören, was sie dazu zu sagen hat.« Der Gedanke daran bereitete mir Übelkeit. Es war mir nicht leichtgefallen, nach Boston zurückzukehren und allen gegenüberzutreten, aber ich hatte es getan. Und ich war noch am Leben.

Vielleicht würden sich einige Dämonen aus der Vergangenheit vertreiben lassen, wenn ich mit meiner Mutter reinen Tisch machte.

»Ich werde dich nicht davon abhalten«, meinte Darragh seufzend. »Aber ich melde Bedenken an.«

»Zur Kenntnis genommen.« Ich lächelte ihn an. »Es ist so schön, wieder bei dir zu sein, großer Bruder.«

Er legte mir den Arm um die Schultern und führte mich ins Wohnzimmer zurück.

»Tante Dahlia, nur noch ein Level, versprochen!«, rief Leo mir zu.

»Tante Dahlia, ich habe dich gezeichnet«, sagte Levi leise und kam auf mich und seinen Dad zu.

Ich schmiegte mich an meinen Bruder und fühlte mich so erfüllt, dass ich am liebsten geweint hätte.

Am nächsten Abend befand ich mich in dem großartigen Apartment meiner Schwester in Bunker Hill und saß am Tisch in dem großen, offenen Wohn- und Esszimmerbereich.

Anscheinend verdiente sie wirklich gut.

Unglaublich gut.

Wow.

Ich war sehr stolz auf sie.

Es hatte eine Weile gedauert, bis meine überschwänglichen Komplimente über Davinas Wohnung und ihren offensichtlichen beruflichen Erfolg ihre Freundin Astrid versöhnlich gestimmt hatten. Bei meinem Eintreffen hatte sie mich zuerst nur schweigend und intensiv gemustert.

Dad musste arbeiten und konnte daher nicht als Puffer zwischen uns fungieren.

Das und Astrids kühle Abschätzung machten mich nervös, und das war mir schrecklich unangenehm. Beim Essen herrschte Schweigen am Tisch. »Das ist keine peinliche Situation«, sagte Davina schnaubend. »Also benimm dich nicht so.«

»Wie kommst du darauf, dass mir die Situation peinlich ist?«, entgegnete ich.

»Ist es vielleicht, weil wir lesbisch sind?« Astrid starrte mich an und zog eine Augenbraue nach oben.

Ich verzog das Gesicht. Nach dieser absurden Frage sah ich keine Notwendigkeit mehr, mich vornehm zurückzuhalten. »Selbst wenn meine Schwester mir sagen würde, dass sie mit dem Gedanken spiele, sich in einen Orang-Utan zu verwandeln, würde ich sie nicht weniger lieben.«

»Vielleicht sogar noch mehr«, meinte Davina. »Orang-Utans sind süß.«

»Ja, nicht wahr?« Ich beugte mich über den Tisch. »Sie sehen goldig aus, wenn sie sich aneinanderschmiegen und mit ihrem ganzen Körper zeigen, wie sehr sie den anderen lieben. Auf eine ganz offene und liebenswerte Art. Ich wünschte, die Menschen würden sich auch so verhalten.«

»Tatsächlich?« Astrid schaute zwischen Davina und mir hin und her.

»Die Frage, ob es ihr peinlich ist, dass wir lesbisch sind, war dumm«, erklärte Davina schulterzuckend.

Ihre Freundin warf ihr einen zornigen Blick zu. »Nicht alle deine Familienmitglieder haben das akzeptiert.«

Davina runzelte die Stirn und starrte auf ihren Teller. »Das ist mir bewusst.«

Rasch wechselte ich das Thema, um einen Streit zwischen den beiden abzuwenden. »Habt ihr schon über eine Hochzeit nachgedacht? Ich stelle Schmuck her und könnte euch die Ringe machen. Sehr schöne und einzigartige.«

»Du hast dich nicht verändert«, sagte meine große Schwester schnaubend. »Du sagst immer noch Sachen, die du nicht sagen solltest. Wenn das nun ein heikles Thema für Astrid und mich ist?«

»Ist es das?«

»Nein«, erwiderte Astrid. »Wir haben eine Heirat bereits in Erwägung gezogen.«

Ich freute mich für meine Schwester und lächelte. »Ach ja?«

Astrid warf Davina einen Blick zu. »Du hattest recht«, erklärte sie. »Man kann niemandem böse sein, der ein solches Grübchen hat. Sie ist bezaubernd.« Sie wandte sich wieder an mich. »Auf irritierende Weise.«

Meine Schwester lachte leise, und ich grinste breit. »Das hat man mir schon öfter gesagt; dieses Problem ist mir bekannt.«

Die beiden lachten, und die Atmosphäre entspannte sich.

Beim Essen erzählte mir Astrid von ihrer Aufgabe als Pressesprecherin bei Candlelight Press, einem Buchverlag in Allston, und Davina versuchte, mir zum hundertsten Mal zu erklären, was genau sie in ihrem Job machte, aber ich verstand es immer noch nicht so recht. Glücklicherweise ging es Astrid auch so. Und die beiden wollten mehr über Hartwell wissen, obwohl Davina nur zögernd nachfragte.

»Es ist wunderschön dort.« Ich stellte fest, dass mir Hartwell fehlte. Da ich Davina bereits einiges darüber erzählt hatte, berichtete ich nun von meinen Freundinnen und Freunden. »Bailey hat sich mit Vaughn verlobt und damit für das neueste aufregende Gesprächsthema gesorgt. Oh, und hin und wieder haben wir Schwierigkeiten mit einer Familie namens Devlin. Dem Familienoberhaupt Ian Devlin gehören ein Hotel, einige Geschäfte in der Stadt und der Freizeitpark, und er ist, gelinde gesagt, ein ziemlich dubioser Charakter. Er versucht seit Jahren, ein Grundstück an der Promenade zu kaufen, mit dem verrückten Plan, dort ein Fünf-Sterne-Resort zu bauen, das sich nur ein winziger Prozentsatz der Einheimischen leisten könnte. Sein Sohn ist in Baileys Pension eingebrochen und hat meine Freundin angegriffen – er hat versucht, vertrauliche Informationen zu finden, um sie gegen sie zu verwenden.«

Davina und Astrid starrten mich mit weit aufgerissenen Augen an.

»Was?«

»Das klingt nach meiner Lieblingsseifenoper«, meinte Astrid.

Ich lachte. »So dramatisch, wie es sich anhört, ist es nicht. Eine solche Familie gibt es wohl in jeder Stadt; sie ist einfach nur eine Plage.«

Davina starrte auf ihren halb leeren Teller. »Du gehst tatsächlich wieder dorthin zurück, richtig?«

»Ich … Ich lebe dort, und das sehr gerne. Aber ich werde nicht wieder verschwinden. Du und Astrid könntet dort euren Sommerurlaub verbringen, und ich werde euch hier wieder besuchen, versprochen. An Geburtstagen, an Thanksgiving, an Weihnachten – wann immer ich willkommen bin.«

Als meine Schwester den Blick hob, schimmerten Tränen in ihren Augen. Astrid griff rasch nach ihrer Hand und drückte sie. »Mit Dillons Tod habe ich nicht nur sie verloren, sondern auch dich und Mom. Unsere ganze Familie schien auseinandergebrochen zu sein.«

Kummer schnürte mir die Kehle zu. »Dav …«

»Ich sage das nicht, um Schuldgefühle in dir hervorzurufen. Wir wissen beide, dass du schon viel zu lange mit solchen Emotionen zu kämpfen hast. Ich … Ich möchte nur, dass du weißt, wie viel es mir bedeutet, dich wieder hierzuhaben.«

»Und mir bedeutet es sehr viel, dass du mich wieder aufgenommen hast.«

»Schluss damit«, befahl sie schroff. »Ich habe beschlossen, dir zu verzeihen, also sollten wir nicht mehr darüber reden.«

Eine Weile herrschte Schweigen, bis Astrid sich zu Wort meldete. »Ich habe uns bei Bova’s Bananen-Toffee-Torte geholt.«

Ich brauchte eine Sekunde, bis ich das verstanden hatte. »Heißt das, du hast mir nicht gesagt, dass ich dafür noch genügend Platz lassen muss?«

Leise lachend stand die Freundin meiner Schwester auf und räumte den Tisch ab. In diesem Moment dröhnte aus meiner Tasche der Klingelton meines Handys.

»Dein Musikgeschmack hat sich offensichtlich nicht geändert«, stellte Davina fest.

Rasch zog ich mein Handy hervor und sah eine unbekannte Nummer auf dem Display. Als ich sie Davina zeigte, zuckte sie mit den Schultern. »Geh ran.«

»Hallo?«, meldete ich mich.

»Dahlia?« Es war Dermots Stimme.

»Dermot?«

Meine Schwester sah mich alarmiert an.

»Ich habe soeben mit Dar telefoniert, und er hat mir erzählt, dass du vorhast, dich mit Mom zu treffen.«

»Ja, ich …«

»Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte er knurrend. »Wenn sie mit dir reden will, wird sie zu dir kommen. Falls du sie in die Enge treibst, bekommst du es mit mir zu tun.« Nach dieser Drohung herrschte Schweigen, und ich begriff, dass er aufgelegt hatte.

Mein Magen krampfte sich schmerzlich zusammen, als ich das Handy sinken ließ.

Immer wenn ich einen Schritt nach vorne schaffte, schubste mich jemand wieder zurück.