Der Regen peitschte gegen die Windschutzscheibe ihres Zivilfahrzeugs, eines Ford Crown Victoria, während Michael auf Davis wartete. Sein Kollege würde außer Kaffee sicher auch ein oder zwei Zimtschnecken mitbringen, obwohl er genau wusste, dass Michael sich dieses Gebäck nicht regelmäßig gönnte.
Das war einer der Gründe, warum Michael seinen Partner nur ungern vor einem Dunkin’ Donuts anhalten ließ – meistens kam er mit einem Dutzend dieser Dinger zurück.
Bereits die ganze Nacht über herrschte schlechtes Wetter. Der Regen verfolgte sie durch den Norden von Boston, während sie versuchten, den Verdächtigen eines bewaffneten Raubs zu schnappen. Als Davis vor der auch nachts geöffneten Bäckereikette anhielt, um einen Kaffee zu holen, begann es noch stärker zu regnen. Das Wetter spiegelte Michaels Stimmung wider.
Dahlia.
Er schloss die Augen und kniff sich in den Nasenrücken. Diese Frau hatte ihm die ganze Woche im Kopf herumgespukt, und er konnte Ablenkungen bei seinem Job nicht leiden. Das konnte gefährlich werden.
Dermot hatte ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, dass Dahlia in der Stadt war. Und als er erfahren hatte, dass seine Warnung zu spät kam, war er sauer gewesen.
»Ich habe keine Ahnung, was sich meine verdammte Familie dabei denkt, Mann. Es tut mir leid.«
»Ich glaube nicht, dass dein Dad es böse gemeint hat.«
»Dad kann nichts dafür. Sicher hat Dahlia ihn dazu gebracht. Dieses Miststück glaubt, sie kann einfach wieder hier auftauchen und erwarten, dass alle sofort nach ihrer Pfeife tanzen. Mom ist total aufgelöst. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Michael war zusammengezuckt, als Dermot Dahlia »Miststück« genannt hatte. Selbst nach allem, was geschehen war, hatte er instinktiv immer noch das Bedürfnis, sie in Schutz nehmen zu müssen. »Sie ist immer noch deine Schwester, also pass auf, was du sagst. Und natürlich hat dein Dad das eingefädelt. Sie war ebenso schockiert wie ich.«
Dermot hatte eine Weile geschwiegen. »Lass dich nicht von ihr manipulieren, Mike«, hatte er dann gesagt. »Du hast soeben eine unschöne Ehe hinter dich gebracht. Das Letzte, was du jetzt brauchst, ist so jemand wie meine verdammte Schwester, die dich noch mehr aus dem Gleichgewicht bringt.«
Michael hatte das Telefonat rasch beendet, da er sich über Dermots scharfe Kritik an Dahlia geärgert hatte. Eigentlich war das nicht gerechtfertigt, wenn man bedachte, wie zornig er selbst auf sie war und in welchem Ton er bei ihrer letzten Begegnung mit ihr gesprochen hatte, aber das war etwas anderes. Auch wenn er noch so wütend auf sie war, wollte er nicht, dass irgendjemand sie verletzte.
Er hatte sie verletzt.
Bei seinen schneidenden Bemerkungen hatte er den Schmerz in ihrem Gesicht gesehen. Und dass ihm das leidtat, verstärkte seinen Zorn noch. Verdammt, warum sollte er sich schuldig fühlen? Schließlich hatte sie ihn verlassen.
Du lieber Himmel.
Zum millionsten Mal tauchte ihr Bild von neulich Abend vor seinem geistigen Auge auf. Sie hatte ein blaues Kleid getragen, in der gleichen Farbe wie ihre Augen, das sich eng an ihren perfekten Körper schmiegte.
Dahlia hatte schon immer wohlgeformte Hüften, eine schmale Taille und volle Brüste gehabt. Das war ihm als Erstes bei ihr aufgefallen.
Er war ein Mann, und ihr Körper gefiel ihm.
Das konnte er nicht leugnen.
Von dem Moment an, in dem er Dahlia vor all den Jahren in der Kunstgalerie zum ersten Mal in die Augen geschaut hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Michael hatte noch nie jemanden getroffen, der so viele Gefühlsregungen ausstrahlte. Neugierde, Humor, Langeweile, Verärgerung – all das blitzte in ihren Augen auf, als sie in einem lächerlichen Bodystocking, der ihren Körper kaum bedeckte, auf diesem Podium stand.
Und dann hatte sie ihm mit einer sehr eleganten Geste den Stinkefinger gezeigt.
Diese Lebendigkeit und pulsierende Energie verströmte Dahlia immer noch, daran hatte sich nichts geändert. Allerdings war das alles jetzt von einer gewissen Traurigkeit begleitet.
An jenem Abend, als er endlich eingeschlafen war, hatte er von ihr geträumt.
Davon, wie er Sex mit ihr hatte. Wütend und hasserfüllt.
In der folgenden Nacht hatte er sie zärtlich geliebt.
Und in der vergangenen Nacht war es in seinen Träumen eine Mischung aus beidem gewesen.
Als ein paar Stunden später sein Wecker gepiepst hatte, war er aufgewacht, steif, frustriert und zorniger als je zuvor.
Die Beifahrertür flog auf, und Davis riss Michael aus seinen Gedanken, als er sich leise fluchend auf den Sitz fallen ließ. Seine Kleidung und sein Haar waren durchnässt. Der Duft nach warmem Kaffee durchströmte den Wagen, als Davis ihm einen Becher reichte. Aber Michael konnte sich nicht lange darüber freuen, denn sein Blick fiel auf die braune Papiertüte in Davis’ anderer Hand.
»Du Mistkerl!« Er beäugte die Tüte, in der sich mit Sicherheit Zimtschnecken befanden.
Sein Partner grinste. »Ich muss ja nicht darauf achten, was ich esse.«
Michael warf einen Blick auf Davis’ Bauch. Sein Partner war groß und schlank, aber sein Bauch wölbte sich leicht nach vorne. »Na klar.«
»Ach, halt den Mund, du Spielverderber«, erwiderte Davis freundlich und öffnete die braune Papiertüte grinsend. »Kommt zu Daddy!«
Frustriert seufzend holte Michael seine Tüte vom Rücksitz, in der sich ein kleiner Plastikbehälter mit selbst gemachtem Lachs in Teriyaki-Sauce mit Reis befand. Kiersten hatte immer gesunde Mahlzeiten für ihn gekocht, und nun versuchte er, das selbst zu machen. Bisher gelang ihm das recht gut.
»Benimm dich wie ein Mann und iss etwas Richtiges, Mike.« Davis warf einen spöttischen Blick auf den Reis mit Lachs und Salat.
Michael ignorierte den Seitenhieb. An sechs von sieben Tagen in der Woche achtete er darauf, sich gesund zu ernähren. Es hatte keinen Sinn, jeden Tag vor Arbeitsbeginn ins Fitnessstudio zu gehen, wenn er anschließend so ungesundes Zeug wie Gebäck und Burger in sich hineinstopfte. Michael respektierte seinen Körper und gab ihm den Treibstoff, den er brauchte, um stark zu bleiben. Selbst wenn es manchmal eine Qual war.
»Keine Widerworte?«, fragte Davis. »Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Geht es um Bronson? Wie man hört, schläft er mit deiner Ex.«
Michael mochte Davis. Wirklich. Aber dem Mann fehlte jegliches Taktgefühl. »Ich freue mich für sie«, murmelte er mit vollem Mund.
»Also was ist es dann?«
Er zuckte mit den Schultern; er war nicht bereit dazu, über Dahlia zu sprechen. Oder über den Instinkt, der ihn seit ihrer Ankunft in Boston in ihre Nähe trieb. Sie waren wie Magneten – das war schon immer so gewesen. »Es liegt an der Nachtschicht. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt.«
Sein Partner zuckte die Achseln. »Das dauert eine Weile.«
»Es wäre leichter für mich, wenn du nicht alle paar Minuten anhalten würdest, um dir Gebäck oder ein Getränk zu kaufen.« Der Mann war süchtig nach Pepsi.
»Ich glaube, eine Zimtschnecke hin und wieder könnte dir nicht schaden, dann wäre deine Laune vielleicht ein bisschen besser.«
Michael verzog das Gesicht.
»Was glaubst du, wo dieses Arschloch steckt?«, fragte Davis, nachdem er ein paar Minuten schweigend gekaut hatte.
»Wieder bei seiner Freundin in Chelsea. Ich wette, sie hat ihn angerufen, nachdem wir bei ihr waren. Wahrscheinlich glaubt er, ihre Wohnung sei für heute Nacht sicher.«
Davis nickte.
Nachdem sie aufgegessen hatten, ließ der Regen ein wenig nach. »Du bist schon nass.« Michael drückte Davis seine leere Tüte in die Hand. »Also kannst du das noch rasch in den Mülleimer werfen.«
»Warum muss ausgerechnet ich einen Partner bekommen, der gesundes Essen mag, regelmäßig ins Fitnesscenter geht und Wert auf Sauberkeit legt?«, murmelte Davis, als er mit dem Müll in der Hand aus dem Wagen stieg. Michael wusste, dass einige seiner Kollegen ihren Abfall einfach auf den Rücksitz oder den Boden ihres Wagens warfen, aber er tat das nie. Es würde den Anschein eines faulen Polizisten vermitteln, und er war alles andere als faul.
»Dreh um«, forderte Davis ihn auf, nachdem er sich wieder in das Auto gesetzt hatte. »Auf der Straße ist alles ruhig.«
Michael versuchte, alle Gedanken zu verscheuchen (damit war in erster Linie Dahlia gemeint), und fuhr los, um den Wagen auf der leeren Straße zu wenden. Er brauchte einen klaren Kopf, um seinen Job erledigen zu können.
Danach würde er nach Hause fahren und wahrscheinlich wieder von Dahlia träumen.
Ein Teil von Michael – ein Bereich in ihm, den er verachtete – wartete darauf. Und dieser Teil flüsterte ihm aus seinem tiefsten Inneren zu, dass er sich bereits auf diese Fantasie freute.