Während der nächsten zehn Tage bemühte ich mich nicht nur, so viel Zeit wie möglich mit der Familie, also mit Darragh, Krista und den Kindern sowie Davina und Astrid, zu verbringen, sondern ließ auch meinen Dad kaum aus den Augen. Meine Sorge um ihn lenkte mich davon ab, dass Dermot offensichtlich nicht einmal daran dachte, mir zu verzeihen. Dad wollte immer noch nicht über seine Scheidung von Mom sprechen, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er seine Gedanken lieber für sich behielt.
Schließlich war ich seine Tochter, und wir hatten ein ähnliches Wesen. Ich wusste, er kochte innerlich, aber ich konnte nichts weiter für ihn tun, als Zeit mit ihm zu verbringen und zu hoffen, er würde sich irgendwann mir gegenüber öffnen. Und für mich stand fest, ich würde Boston erst verlassen, wenn ich mir hundertprozentig sicher war, dass es Dad gut ging.
Dermot hatte mich dazu gebracht, das Treffen mit meiner Mom vorläufig zu verschieben. Ich war ohnehin nervös bei dem Gedanken daran, aber nach seinem Anruf beschloss ich, entgegen meiner sonstigen Art besonders vorsichtig zu sein. Und letztendlich war es nicht ich, die unser Wiedersehen erzwang.
Es war am späten Montagnachmittag. Dad war zur Arbeit gegangen, und ich versuchte, meine Gedanken auf den Abend zuvor zu konzentrieren und alles andere zu ignorieren. (Damit meinte ich Michael, der alle fünf Sekunden vor meinem geistigen Auge auftauchte!) Dad hatte Darragh, Krista, Leo und Levi, Davina und Astrid zum Abendessen eingeladen. Wir wollten uns gemeinsam das Spiel vom Sonntag anschauen.
Wir lachten viel, aßen jede Menge und hatten eine schöne Zeit. Die Jungen waren jedes Mal begeistert, wenn Darragh ein Slangwort verwendete, bis wir schließlich beschlossen, ihnen die Sprache beizubringen, mit der wir in dieser Gegend aufgewachsen waren. Einige Wörter hatte ich bereits vergessen, seit ich in Delaware lebte – wie zum Beispiel »Blubber« für Wasserspender. Ein hübsches Wort. Wie hatte ich mich nur nicht mehr daran erinnern können?
Ich wagte es auch, mich nach Dermot zu erkundigen. Dad hatte mich zwar über die Jahre hinweg über das Leben meiner Geschwister auf dem Laufenden gehalten, aber ich wusste kaum etwas darüber, was Dermot jetzt so machte.
Zuletzt hatte ich gehört, dass er sich mit einer Frau traf, die Davina nicht sehr schmeichelhaft als »Masshole«, also Massachusetts-Zicke, bezeichnete; ein Slangwort, das Darragh seine Kinder nicht hören lassen wollte. Sie entschuldigte sich dafür, blieb aber bei ihrer Bewertung. Die Frau kam anscheinend aus einer reichen, adligen Familie, und Dermot war es irgendwann leid, dass sie ihn vor ihren Angehörigen verheimlichte. Nach neun Monaten beendete er die Beziehung und war nun wieder Single. Er wohnte in einem beschissenen Apartment (so drückte es meine Schwester aus) in der Nähe der neuen Wohnung meiner Mutter und legte jedes weibliche Wesen flach, das ihm über den Weg lief, wenn er gerade nicht arbeitete.
Während Michael sich nach oben arbeitete, schien mein Bruder, der nie sehr ehrgeizig gewesen war, durchaus damit zufrieden zu sein, ein einfacher Polizist zu bleiben. Sein Privatleben verlief anscheinend nicht sehr gut. Als wir noch jünger waren, hatte er sich immer an mich gewandt, wenn er über Frauen und seine Beziehungen reden wollte. Auch für ihn war ich nicht da gewesen, als er mich gebraucht hatte.
Laute Musik schallte durch das Wohnzimmer. Ich saß an einem Ende der Couch neben der Lampe auf dem Ecktischchen und arbeitete an einem Ringdesign für Davina und Astrid. Sie hatten mich nicht darum gebeten, aber nachdem ich mich gründlich in ihrem Apartment umgeschaut hatte und nun wusste, was ihnen gefiel und was nicht, waren mir einige Ideen durch den Kopf geschossen. Nur für den Fall.
Leider hörte ich gerne sehr laute Musik, also bemerkte ich Dermot und meine Mom erst, als sie bereits im Wohnzimmer standen.
Beim Anblick meiner Mutter schoss Adrenalin durch meinen Körper, und ich tastete nach meinem Handy, um die Musik abzustellen. Als ich ihre angespannte Miene sah, sprang ich rasch auf.
Dermot schloss die Vordertür hinter sich.
Oh, Mist.
Mein Magen krampfte sich zusammen.
Abgesehen von den dunklen Augenringen sah meine Mom gut aus. Sie war groß und schlank und wirkte jung in der eng anliegenden Jeans, dem Blondie-T-Shirt und der Wildlederjacke. In ihrem schulterlangen Haar war keine Spur von Grau zu sehen. Das sagte mir, dass sie es färbte, denn ich hatte bereits im Alter von neunundzwanzig die ersten grauen Strähnen bekommen.
Der Blick aus ihren haselnussbraunen Augen bohrte sich in meine blauen, und ich erstarrte vor Angst neben der Couch.
Sie schaute mich genauso an wie bei unserer letzten Begegnung. Nach all den Jahren hatte sich an diesem Ausdruck nichts geändert.
»Was macht ihr hier?« Ich schaute Dermot an.
»Wie kannst du es wagen?«, fragte meine Mom wütend. »Du stehst in meinem Haus und stellst eine solche Frage?«
»Mom.« Dermot legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du hast gesagt, es sei an der Zeit, mit ihr zu reden. Also reden wir jetzt.«
»Dein Vater ist vor ein paar Tagen zu mir gekommen.« Meine Mutter trat einige Schritte vor; in ihren Augen glitzerten Tränen. »Du hast ihn gegen mich aufgebracht.«
»Was?« Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Was redest du da?«
»Stell dich nicht dumm, Dahlia. Du bist der Grund, weshalb unsere Ehe gescheitert ist. Du bist schuld, dass mein Leben jetzt so beschissen ist!«
Plötzlich fühlte ich mich in der Zeit zurückversetzt und war wieder zweiundzwanzig. »Du machst mich immer noch für Dillons Tod verantwortlich?«
»Das hat niemand gesagt.« Dermot stellte sich zwischen uns. »Aber du bist abgehauen, als wir alle hätten zusammenhalten sollen, und das hat alles kaputt gemacht. Dafür trägst du die Schuld.«
»Das stimmt«, gestand ich. »Deshalb bin ich jetzt hier. Aber sie ist nicht aus diesem Grund gekommen.« Ich schaute an ihm vorbei zu meiner Mom hinüber. »Dad hat dich damit konfrontiert, was du zu mir gesagt und wie du mich behandelt hast, bevor ich gegangenen bin, richtig?«
Das war es, was ihn seit Tagen beschäftigte.
»Was?« Dermot starrte Mom an. »Was hast du gesagt? Und was hast du getan?«
»Ich habe nur die Wahrheit ausgesprochen«, erwiderte sie, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Ich zuckte zusammen, als hätte sie mir eine Ohrfeige verpasst. Noch einmal. »Es tut mir leid, wenn er sich darüber aufregt, aber ich wollte alle wissen lassen, dass ich nicht ohne Grund gegangen bin.«
»Du hättest nicht zurückkommen sollen.«
»Moment mal … das verstehe ich nicht.« Dermot runzelte die Stirn. »Wovon spricht sie?«
Moms Miene wurde weicher, als sie ihn anschaute. »Es geht um das Übliche. Sie ist schuld; sie ist ein manipulativer Mensch und hätte wegbleiben sollen.«
Dermot schüttelte den Kopf. »Aber darüber haben wir nicht geredet.« Er drehte sich wütend zu mir um. »Was zum Teufel sagst du da? Und was hast du Dad erzählt? Noch mehr Lügen?«
Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich meinen leichtgläubigen Bruder, der sich in jedem Familienstreit immer sofort auf Mutters Seite stellte. Genau wie Dillon. »Ich habe angefangen zu trinken, nachdem Dillon … nachdem Dillon gestorben war.«
Er verzog die Lippen. »Wir wissen sehr gut, dass du mit Dillons Tod nicht umgehen konntest.«
»Ich habe nicht nur wegen Dillon damit angefangen.«
»Oh, jetzt geht das schon wieder los.« Mom schob sich an Dermot vorbei. »Willst du mich etwa für dein verdammtes Fehlverhalten auch noch verantwortlich machen?«
Entsetzt starrte ich sie an und fragte mich, ob sie tatsächlich meine Mutter sein konnte. Wie konnte mich die Frau, die mich zur Welt gebracht, mich aufgezogen und mich bei Verletzungen getröstet hatte, so sehr verabscheuen? Ich hasste mich für meine Schwäche, als mir Tränen in die Augen stiegen. »Alle waren ausgegangen. Nur du und ich waren im Haus, und du bist zu mir ins Schlafzimmer gekommen und über mich hergefallen.« Die Erinnerung überflutete mich, und ich spürte, wie die Schläge auf meiner Haut gebrannt hatten. »Du hast mich geohrfeigt.«
Dermot holte hinter Mom tief Luft.
»Immer wieder hast du mir gesagt, dass ich selbstsüchtig sei. Dass es mich hätte treffen sollen.« Heiße Tränen rollten über meine Wangen. »Du hast dich laut gefragt, warum Gott das falsche Kind zu sich geholt hatte. Mich hätte er nehmen sollen.«
»Gütiger Himmel«, flüsterte mein Bruder.
Wütend wischte ich mir die Tränen vom Gesicht und sah, dass die Augen meiner Mutter feucht schimmerten. »Ich habe nicht gewusst, wie ich damit umgehen sollte … mit diesem Hass, den meine Mutter mir entgegenbrachte … Also habe ich getrunken, um damit fertigzuwerden. Ich bin nicht stolz auf mich. Und auch nicht darauf, dass Dad mich wegschicken musste, um mich von all diesen Ereignissen fernzuhalten. Und es erfüllt mich auch nicht mit Stolz, dass ich so lange weggeblieben bin, weil ich Angst hatte, euch wieder gegenüberzutreten. Nicht wegen dir«, fügte ich mit einer Kopfbewegung auf meine Mutter hinzu, als mir klar wurde, dass ich von ihr nie die Bestärkung bekommen würde, die ich gebraucht hätte. »Aber ich habe die anderen Mitglieder meiner Familie, die mich immer noch liebten, verletzt.« Ich sah über ihre Schulter zu Dermot hinüber, der kalkweiß im Gesicht war. »Es tut mir leid, dass ich euch verlassen habe. Sehr leid«, flüsterte ich.
Tödliche Stille breitete sich aus.
Dermot starrte Mom anklagend an.
»Schau mich nicht so an«, sagte Mom leise.
»Ist das wahr?«, brachte er mühsam hervor. »Hast du ihr das angetan?«
Meine Mom schwieg eine Weile. »Sie hat das Leben deiner Schwester ruiniert«, wisperte sie dann unter Tränen.
»Mom, du weißt, dass das nicht stimmt.«
»Ihr wollt das alle nicht sehen, aber es ist wahr. Und Dill …«, schluchzte Mom. »Sie war mein kleines Mädchen. Gott hat mir mein kleines Mädchen genommen.«
»Und was ist mit Dahlia?«, entgegnete Dermot scharf. »Sie ist auch dein Kind, Mom.«
»Nein, sie war nie meine, sondern immer seine Tochter. Doch Gott hat mir mein Kind genommen. Das ist mein verdammtes Schicksal.«
»Ich kann nicht …«
Ich beobachtete, wie mein Bruder unsere Mutter ungläubig anstarrte.
»Ich kann nicht fassen, was ich da höre. Du hast den Anschein erweckt, als seist du ihr böse, weil sie uns verlassen hat. Und nicht, weil sie wieder zurückgekommen ist!«
»Tu das nicht.« Mom drehte sich zu ihm um und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. »Mein ganzes Leben ist ein Trümmerhaufen, und das ist ihre Schuld. Lass es nicht zu, dass sie mir nun auch dich wegnimmt.«
Dermot schüttelte den Kopf und zog ihre Hände weg. »Mom, das ist irre. Richtig heftig. Du solltest dir Hilfe suchen. Du musst mit jemandem darüber reden, denn das ist …« Seine Stimme verlor sich. Mein dreiunddreißigjähriger Bruder sah aus wie ein verlorener kleiner Junge, und mich überkam das Bedürfnis, ihn zu trösten.
»Das hat Cian auch gesagt.« Mom trat einen Schritt zurück und wischte sich die Tränen ab.
»Vielleicht solltest du auf uns hören.«
Mom wirkte ebenso verloren wie er. »Du verstehst das nicht.«
Er schüttelte wieder den Kopf. »Das ist nicht rational, Mom, das ist verrückt.«
Erstickt schluchzend lief sie an ihm vorbei und wich seinen Händen aus, als er sie aufhalten wollte. Dann fiel die Haustür krachend hinter ihr ins Schloss.
Jetzt, wo ich sie nicht mehr wie damals als verwirrte junge Frau voll Kummer wie durch einen Nebel sah, wurde mir klar, dass Sorcha McGuire ernste psychische Probleme hatte, und das bereitete mir Bauchschmerzen. Sie hatte sich schon immer alles zurechtgedreht und nur das gesehen, was sie sehen wollte. Als ich älter wurde und schließlich ein Teenager war, hatte ich begriffen, dass das ein Teil ihrer Persönlichkeit war. Doch zu dieser Zeit war es noch nicht so auffällig gewesen. Wenn ihr irgendetwas nicht gefiel – so wie mein Entschluss, eine Kunstakademie zu besuchen –, ignorierte sie das einfach. Sie sprach ständig mit mir über ein Jura- oder Betriebswirtschaftsstudium, obwohl ich ihr immer wieder erklärte, dass beides für mich nicht infrage kam.
Hatte sie sich jedoch in etwas hineingesteigert und war davon überzeugt, glich es einer selbsterfüllenden Prophezeiung. So glaubte sie fest daran, ich hätte ihr Leben ruiniert, hätte es bewusst zerstört. Kein Wunder, dass Dad ihr zu einer Therapie geraten hatte.
Meine Mom brauchte wirklich einen Therapeuten.
Obwohl mir das bewusst war, krampfte sich mein Magen immer noch schmerzhaft zusammen. Meine eigene Mutter hasste mich. Es gab keine Zauberworte auf dieser Welt, die mir den Schmerz darüber nehmen konnten.
»Dahlia.« Dermots leise Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit weg von der Tür. Auf seinem Gesicht lag ein bittender Ausdruck. »Das habe ich nicht gewusst.«
Ich nickte.
»Sie ist …« Er richtete den Blick auf die Haustür. »So habe ich sie noch nie gesehen … Sie ist … Sie ist nicht … Das ist total verrückt.«
Mein Bruder wirkte niedergeschlagen. Allein, traurig und völlig am Boden zerstört.
Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, ging ich zu ihm hinüber und umarmte ihn.
Dermot zögerte nicht. Er vergrub seinen Kopf an meinem Hals und klammerte sich an mir fest.