Kapitel elf

MICHAEL

Es fühlte sich besser an, das Polizeirevier zu Beginn seiner Schicht zu betreten als am Ende. Allerdings empfand er das erst so, seit er die Nachtschicht übernommen hatte. Zu dieser Zeit am Abend war hier mehr los, es herrschte reger Betrieb, und so war er es von seinen Tagschichten gewohnt. Er war erschöpft, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, ob das erst so war, seit er seinen Dienstplan geändert hatte.

»Hey, Mike!«, rief ihm Wilma, die Kollegin vom Empfang, zu. »Du hast Besuch von einer Freundin. Ich habe sie gebeten, an deinem Schreibtisch auf dich zu warten.«

Überrascht nickte er und fragte sich, wer das sein konnte. Kiersten sicher nicht, denn als sie die Scheidung eingereicht hatten, hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen wollte.

Er bog um die Ecke und ging in dem Großraumbüro zu seinem Arbeitsplatz hinüber. Als er die Person sah, die auf seinem Schreibtisch saß und den Kopf über das Telefon in ihrer Hand beugte, wäre er beinahe gestolpert.

Dahlia.

Michael hatte das Gefühl, als würde ihm das Herz in die Kehle springen, und er fand es schrecklich, dass sie noch immer eine solche Reaktion in ihm hervorrufen konnte. Vor vielen Jahren, als sie noch mit Gary zusammen war und er in einem Restaurant oder auf einer Party auf die beiden gewartet hatte, hatte sein Herz jedes Mal, wenn er sie erblickte, einen Sprung gemacht.

Und noch immer gelang es ihr, dass er sich fühlte wie ein vorpubertärer, verknallter Teenager.

Als er jünger war, hatte dieses Gefühl ein Sehnen nach ihr ausgelöst. Er hatte sich förmlich nach ihr verzehrt.

Jetzt machte es ihn wütend.

Michael beschleunigte seine Schritte, und Dahlia hob ruckartig den Kopf, als hätte sie ihn gespürt, und schaute ihn aus ihren großen blauen Augen an, in denen ein verletzter Ausdruck lag. »Michael.« Sie glitt von seinem Schreibtisch, als er vor ihr stehen blieb.

Meine Güte. Er musterte sie. Das tat sie ihm mit Absicht an. Sie trug ein eng anliegendes T-Shirt zu einem schmalen Rock, der ihre Taille betonte und die Konturen ihrer Oberschenkel zeigte. Er hoffte, sie würde sich nicht umdrehen, denn den Anblick ihres fantastischen Hinterns würde er nie wieder vergessen können.

»Was willst du hier?«, stieß er hervor. Michael konnte es nicht fassen, dass sie ihn an seinem Arbeitsplatz überfallen hatte. Wie selbstsüchtig konnte sich diese Frau denn noch benehmen? Er musste sich auf seinen Job konzentrieren und konnte es nicht zulassen, dass sie ihn mit all dem Müll aus der Vergangenheit ablenkte.

Sie straffte entschlossen die Schultern. »Können wir uns unterhalten? Entschuldige, dass ich hierherkommen musste, aber ich habe deine Privatadresse nicht.«

Er starrte sie an und nahm voll Zorn das Prickeln wahr, mit dem seine Haut auf ihre Gegenwart regierte. Sie war gefährlich. Er musste dafür sorgen, dass sie von hier verschwand. Wenn er ihr eine letzte Chance geben musste, um sie loszuwerden, würde er eben mit ihr reden.

»Komm mit.« Er atmete tief aus und drehte sich um. Hinter sich hörte er ihre leisen Schritte. Als er ein leeres Verhörzimmer gefunden hatte, stieß er die Tür auf und ließ ihr den Vortritt. Seine Manieren waren fest in ihm verankert, aber als sie an ihm vorbei in den Raum ging, wünschte er, sie für einen Augenblick vergessen zu können.

Der Rock lag sehr eng an, und wenn er ihn ihr herunterziehen würde, würden seine Hände auf ihrem runden, üppigen und knackigen Po landen. Und die Schuhe. Verdammt, die Schuhe hatte er noch gar nicht bemerkt. Sie trug High Heels mit einem Riemchen um den Knöchel. Wer trug denn Ende Oktober solche Schuhe? Zumindest hielt sie einen Mantel in der Hand.

Michael knallte die Tür hinter ihr so laut zu, dass sie zusammenzuckte. »Und?« Er verschränkte die Arme vor der Brust.

Ihr Blick irrte nervös durch das Zimmer, bevor sie ihn ansah. »Ich wollte reinen Tisch zwischen uns machen.«

Der Zorn, der seit neun Jahren in ihm brodelte, stieg in ihm auf. Michael ging einen Schritt auf sie zu; ihm war bewusst, dass seine Augen zornig funkelten. »Reinen Tisch machen? Also gut, dann fangen wir mit ein paar Fragen an.«

Dahlia nickte vorsichtig. Alles an ihrem jetzigen Benehmen machte ihn wütend. Die Dahlia, die er kannte, hätte ihm auf seine barsche Forderung erwidert, er solle sich zum Teufel scheren. »Okay.«

»Warum bist du so lange weggeblieben, ohne mir zumindest zu verraten, wo du steckst?«

»Michael, ich habe es niemandem gesagt«, erwiderte sie leise und beschwichtigend und trat auf ihn zu. »Nur meinem Dad.«

»Warum?« Er spürte immer noch die Schmerzen, die sie ihm damit zugefügt hatte. So, als steckte ein Teil einer Kugel noch in seinem Körper. Nur seine Eltern hatten ihm jemals so sehr wehgetan, und er kam immer noch nicht darüber hinweg, dass ausgerechnet die Person, der er alles über diesen Mist anvertraut hatte, ihm noch größeren Kummer bereitet hatte. »Früher hast du mir alles erzählt. Oder war das eine Lüge?«

»Nein.« Ihre Stimme klang jetzt fester und ein wenig verärgert. »Du weißt, dass das nicht stimmt.«

Ihr Aufbegehren gefiel ihm, doch er fragte sich, ob es nicht einfacher wäre, die Dahlia loszuwerden, die sich wie ein getretener Welpe verhielt, als die Dahlia, die er kannte und liebte. »Ich weiß nur, dass ich dir kein einziges Wort glauben kann. Bringen wir dieses Gespräch rasch hinter uns, damit ich mich wieder an die Arbeit machen kann.«

Sie spannte ihre Kiefermuskeln an und presste ihren Mantel an sich. »Michael, ich will nicht nach Hartwell zurückfahren, bevor wir Frieden miteinander geschlossen haben. Mir ist klar, dass wir wahrscheinlich niemals Freunde werden, aber ich möchte nicht abreisen, solange du mich hasst.«

Er konnte das Verlangen, sie in den Arm zu nehmen und so leidenschaftlich zu küssen, dass er mit seinen Lippen einen Abdruck auf ihren hinterlassen würde, nur mit Mühe unterdrücken. Sein Gehirn schien sich durch seine Begierde zu vernebeln, doch er war kein kleiner dummer Junge mehr. Diese Frau konnte ihm Schaden zufügen … Verdammt, sie tat es gerade schon wieder. Er hatte Kiersten nie eine richtige Chance gegeben. Weil er nie wieder so sehr verletzt werden wollte wie von Dahlia.

Und nun stand sie vor ihm, und trotz allem begehrte er sie immer noch mehr als jede andere Frau auf dieser Welt. Und dafür hasste er sie.

Er musste sie loswerden.

Für immer.

»Ich hasse dich«, erklärte er mit einer Ruhe, die er nicht empfand, und setzte seine undurchdringliche Polizistenmiene auf, damit sie nicht sehen konnte, welcher Kampf in seinem Inneren tobte.

In dem Moment, in dem er diese Worte ausgesprochen hatte, wollte er sie am liebsten wieder zurücknehmen. Es war beinahe so, als hätte er sie mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen.

Sie wurde blass und machte keinen Hehl daraus, wie verletzt sie war.

In ihren blauen Augen schimmerte Schmerz.

Instinktiv wollte er die Arme nach ihr ausstrecken, sie an sich ziehen und ihr versichern, dass er gelogen hatte, dass er es nicht so meinte und dass es ihm leidtat.

Michael bedauerte es wirklich, er war sich allerdings nicht sicher, ob es eine Lüge war. Denn er begriff es immer noch nicht. Er verstand nicht, wie sie es fertiggebracht hatte, sich all die Jahre von ihm fernzuhalten – schließlich schien ihr Kummer zu zeigen, dass er ihr wirklich etwas bedeutete.

Bevor er den Satz ungeschehen machen konnte, hob Dahlia glücklicherweise das Kinn und ging mit hocherhobenem Kopf langsam an ihm vorbei. Doch das Zittern ihrer Hände und die Schwierigkeiten, die sie beim Verlassen des Raums mit dem Türknauf hatte, verrieten ihm, wie aufgebracht sie war.

Plötzlich überfiel ihn die Angst, seine Worte könnten sie möglicherweise so durcheinandergebracht haben, dass ihr etwas passieren könnte. Michael rannte los, bevor er weiter darüber nachdenken konnte, und folgte ihr nach draußen. Sie musste jedoch schnell losgelaufen sein, denn sie war bereits außer Sichtweite. Er bog rasch um die Ecke und beschleunigte sein Tempo, als er sie im Büro nicht entdecken konnte.

Im Empfangsbereich blieb er stehen. Dahlia hastete die Treppe zur Eingangstür hinunter, und ein Mann in Uniform lief ihr hinterher. Er griff nach ihrem Arm und hielt sie fest.

Es war ihr Bruder Dermot.

Was auch immer er in ihrem Gesicht sah, ließ seine Miene erstarren. Er fragte sie etwas, und sie schüttelte heftig den Kopf und versuchte, sich loszureißen.

Dermot hielt sie fest und sagte wieder etwas.

Seine Schwester ließ sich gegen ihn sinken, und Michael beobachtete erleichtert, wie Dermot sie zum Eingang führte. Ihr Bruder kümmerte sich um sie.

Gut.

Während Dermot seiner Schwester die Tür aufhielt, drehte er sich um, als würde er Michaels Blick auf sich spüren. Er schaute ihn fragend an, aber Michaels Miene blieb ausdruckslos.

Schließlich verriet sein Verhalten einiges, oder? Er stand oben auf der Treppe und schaute ihr nach. Das sagte doch alles. Wäre sie ihm gleichgültig, würde es ihn nicht interessieren, wie sie nach Hause kam.

Der Schmerz in Michaels Brust war so stark wie nie zuvor.

Er hatte gedacht, er würde einen Geist vertreiben, indem er sie wegschickte, aber er hatte sich geirrt.

Dass er ihr Schmerz zugefügt hatte, war mehr als schäbig gewesen – er hatte es getan, um sich zu rächen.

Sein Magen krampfte sich zusammen.

»Was war da los?«

Michael wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. Er warf einen Blick nach links, wo Nina, eine Phantombildzeichnerin, die er schon seit Jahren kannte, auf den nun leeren Eingangsbereich starrte. »Was?«

Nina deutete mit ihrer Kaffeetasse auf die Türen. »Wer war die Hübsche, die McGuire soeben nach draußen gebracht hat? Die junge Frau, die vor dir davongelaufen ist, als stünde ihr niedlicher kleiner Hintern in Flammen?«

Michael zuckte zusammen. »Das war McGuires Schwester.«

»Ach ja?« Sie warf ihm aus dem Augenwinkel einen Blick zu. »Was hat sie dir angetan?«

Ihm wurde bewusst, dass Dahlia tatsächlich wie ein Kugelsplitter in ihm saß. Und er hatte diesen Splitter nie aus seinem Körper entfernen können. Nun vergiftete ihn dieser Überrest langsam, denn er hatte Dahlia McGuire so sehr verletzt, wie er sich das niemals hatte vorstellen können. Verdammt, er hasste sich dafür.

»Warst du schon einmal verliebt, Nina?«, fragte er.

Nina zog eine Augenbraue nach oben. »Mit achtzehn. Sie war älter als ich, und es hat nicht funktioniert.«

»Hasst du sie jetzt?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Liebst du sie noch?«

Nina seufzte. »Muss ich damit rechnen, dass wir uns jetzt öfter gegenseitig das Herz ausschütten? Dann möchte ich mich in Zukunft darauf vorbereiten.«

Dafür war Michael nicht in der richtigen Stimmung. Er wandte sich zum Gehen, doch Nina legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück.

»Nein, ich liebe sie nicht mehr. Alles in Ordnung mit dir? Geht es um McGuires Schwester?«

»Ich habe sie einmal geliebt«, stieß er hervor. Plötzlich war ihm kalt. Sehr kalt.

»Ah, ich verstehe.«

»Dann hat sie etwas getan, und jetzt hasse ich sie.«

Nina musterte ihn wortlos, aber sie schien wahrzunehmen, was er ihr nicht gesagt hatte.

Michael senkte deprimiert den Blick. »Aber ich liebe sie auch noch. Wie beschissen ist das denn?«

»Mike …« Nina verstärkte den Griff ihrer Hand an seiner Schulter. »Das bedeutet, es sind echte Gefühle im Spiel.«

Er runzelte verwirrt die Stirn.

»Meine Mom hat mir das immer gesagt: Wenn man eine Person liebt, sogar an Tagen, an denen man sie hasst, dann weiß man, es handelt sich um wahre Liebe.«

Der grässliche Knoten in Michaels Magen zog sich noch weiter zusammen. Er wollte Dahlia nicht lieben – es tat zu sehr weh.

»Vielleicht solltest du dir heute freinehmen, Mike. Du bist mit den Gedanken woanders.«

»Es geht mir gut«, erwiderte er gereizt.

»Das stimmt nicht. An deiner Stelle würde ich erst einmal versuchen, meine Gedanken zu ordnen. Melde dich krank und komm morgen Abend wieder zur Spätschicht.«

Das Problem war jedoch, dass es viel länger als eine verdammte Nacht dauern würde, um den Kopf wieder freizubekommen. Es war nun elf Jahre her, dass er Dahlia McGuire zum ersten Mal gesehen hatte, und seitdem waren sein Herz und sein Verstand nie wieder so gewesen wie zuvor.