Kapitel dreizehn

DAHLIA

Gelächter schallte durch Darraghs Haus, als wir einige Wochen nach diesem lebensverändernden Gespräch mit Dad an seinem Esstisch saßen. Die Unterhaltung hatte tatsächlich mein Leben verändert. Mit dem Wissen, das er mir vermittelt hatte, und der Unterstützung und Liebe von meiner Familie gelang es mir in den darauffolgenden Wochen, langsam meine Schuldgefühle abzulegen, die mich jahrelang emotional verkrüppelt hatten.

Thanksgiving stand vor der Tür, und Bailey musste nach Hartwell zurückkehren – Vaughn hatte gedroht, nach Boston zu kommen, um sie zu holen. Da ich nun wusste, dass es meiner Familie gut ging, würde ich mit ihr gehen.

Allerdings spürte ich beim Gedanken an die Beziehung zu meiner Mutter noch einen bohrenden Stachel in mir.

Und ein Loch in meinem Herzen, das Michael hineingerissen hatte, als er mir gesagt hatte, dass er mich hasste. Doch damit würde ich leben müssen.

Es blieb mir nichts anderes übrig.

»Ich wünschte, du würdest noch über Thanksgiving bleiben«, erklärte Krista.

Ich lächelte bedauernd. »Ich muss zurück. Nächstes Wochenende findet bei uns das jährliche Punkin’ Chunkin Festival statt. Während der ruhigen Saison ist das eines der wenigen Wochenenden, an denen ich durch die Touristen ein bisschen was verdienen kann.«

Tatsächlich konnte ich es mir nicht leisten, auf diese Einnahmen zu verzichten.

»Nun, vielleicht kann Bailey noch bleiben.« Dermot zwinkerte meiner Freundin zu.

Von allem Schönen, was sich in den letzten Wochen ereignet hatte, genoss ich besonders die neu belebte Beziehung zu Dermot. Zu Beginn hatte Spannung zwischen uns geherrscht – und auch jetzt gab es hin und wieder noch Momente, in denen wir befangen waren –, aber nun lächelte und scherzte er immer öfter in meiner Gegenwart.

Und leider flirtete er auch ganz unverhohlen mit Bailey.

Bailey verdrehte die Augen. »Noch einmal: Ich bin verlobt.«

Mein Bruder warf sich in die Brust. »Ja, mit einem steifen Geschäftsmann aus New York, der wahrscheinlich keine Ahnung von den Gefühlen einer Frau hat. Wenn ihr versteht, was ich meine.«

Darragh warf ihm einen warnenden Blick zu, denn die Jungen lauschten jedem Wort, das ihr Onkel Dermot von sich gab, und ich verschluckte mich beinahe an einem Stück Brathähnchen.

Bailey grinste mich an, und ihre Augen funkelten belustigt.

»Was?« Dermot runzelte die Stirn.

Ich räusperte mich und überlegte kurz, wie ich meine Antwort so formulieren konnte, dass die Jungen sie nicht verstanden. »Da täuschst du dich gewaltig. Wie Bailey mir erzählt hat, ist Vaughn Tremaine ein wahrer Meister, wenn es um die Gefühle von Frauen geht. Außerdem ist er alles andere als steif und langweilig. Oh, und obendrein sieht er aus wie ein Model für Unterwäsche.«

»Das stimmt«, warf Krista ein. »Ich habe ihn gegoogelt. Ein guter Fang, Bailey.«

»Danke«, erwiderte Bailey stolz.

Dermot blickte finster drein. »Ich sehe auch gut aus.«

»Du bist sehr attraktiv«, räumte Bailey ein. »Ich würde meinen Verlobten allerdings auch lieben, wenn er kein perfektes Exemplar der männlichen Spezies wäre. Daher muss ich leider mit Dahlia nach Hartwell zurückkehren.«

»Na ja, wenn er deine Aufmerksamkeit erregt hat, muss er wohl etwas Besonderes sein.«

Dad stöhnte. »Gib’s auf, mein Sohn. Sie ist vergeben, das musst du akzeptieren.«

»Was? Darf ich sie nicht trotzdem bewundern? Sie ist klug und sieht verdammt gut aus. Tut mir leid, das kann ich nicht einfach ignorieren.«

Wir lachten, und Darragh verpasste Dermot einen leichten Schlag auf den Kopf. »Zum x-ten Mal: Pass auf, was du sagst!«

Bailey stieß mit ihrer Schulter gegen meine. »Ich mag deine Familie sehr.«

Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Brustkorb aus. Das ging mir auch so. Und meine Familie hatte Bailey sofort ins Herz geschlossen, was mich nicht überraschte. Nur Davina war ihr gegenüber am Anfang ein wenig reserviert gewesen. Astrid hatte mich zur Seite genommen und mir erklärt, dass es meiner großen Schwester schwerfalle, meine enge Beziehung zu Bailey zu akzeptieren, weil sie selbst so viel von meinem Leben verpasst hatte.

Glücklicherweise taute Davina im Laufe der folgenden Tage ein wenig auf.

»Ich habe bei Rosie’s in Somerville angerufen und einen Tisch für morgen Abend bestellt«, verkündete Davina. Rosie’s war eine Bar, in die mein Dad und Darragh gerne gingen. Man bekam dort Kleinigkeiten zu essen, und auf den großen TV-Bildschirmen an den Wänden liefen ständig Sportsendungen. Die Atmosphäre war entspannt, das Essen war gut, und die Jungen durften mitkommen – es gab kein besseres Lokal für einen Familienabend, bevor ich nach Hartwell zurückfuhr.

»Und an deinem letzten Abend gibt es ein Sonntagssteak bei mir.« Dad lächelte, aber in seinen Augen lag ein melancholischer Ausdruck. Mir war bewusst, dass er mich nicht gehen lassen wollte. Er und Dermot hatten sich das gesamte Wochenende freigenommen, damit sie vor meiner Abreise noch viel Zeit mit mir verbringen konnten, und das bedeutete mir sehr viel.

Ich streckte meinen Arm über den Tisch und griff nach seiner Hand. »An Weihnachten komme ich wieder.«

Er nickte und schenkte mir ein Lächeln, bei dem sein Grübchen zu sehen war. »Ich kann es kaum erwarten, Bluebell.«

Später – Davina und Astrid waren nach Hause gegangen und Krista brachte die Jungen ins Bett – half ich Darragh, den Geschirrspüler einzuräumen. Bailey, Dad und Dermot standen in der Küche, tranken Kaffee, unterhielten sich und lachten miteinander.

»Hey, ich will euch nicht die Laune verderben«, sagte Dermot schließlich ernst. »Aber ich möchte euch sagen, dass ich Mom dazu überreden konnte, einen Therapeuten aufzusuchen.«

Ich wirbelte an der Spülmaschine herum. »Tatsächlich?« Ich spürte Baileys besorgten Blick, wandte mich aber wie von selbst meinem Dad zu.

Er starrte nachdenklich auf den Boden.

»Ja«, bestätigte Dermot. »Ich weiß nicht, was dabei herauskommen wird, aber ich wollte es euch wissen lassen.«

Ich nickte. Interessierte mich das überhaupt noch?

Ja, natürlich.

Trotz ihrer Einstellung zu mir wollte ich nicht, dass meine Mom alles verlor. Vor allem, weil ich jetzt verstand, wovon Teile ihrer Gefühle beeinflusst waren.

»Dad?«, fragte Dermot, und mein Vater schaute auf. »Ich möchte mich nicht zwischen euch stellen, aber niemand will mit ihr reden, und ich verstehe das. Wirklich. Doch ich will sie nicht allein lassen.«

Tränen schnürten mir die Kehle zu, als ich Darragh ansah. An seinem Kinn zuckte ein Muskel, und mir wurde klar, wie sehr auch ihn diese Sache erschütterte.

Dad schüttelte den Kopf. »Es liegt ganz an euch, Kinder, wie ihr euch eurer Mutter gegenüber verhalten wollt. Ich habe für jede Entscheidung Verständnis, und ich bin froh, dass sie euch hat. In Ordnung?«

Mein Bruder nickte und kämpfte offensichtlich mit seinen Gefühlen.

Schweigen senkte sich über die Küche.

Schließlich meldete sich Bailey zu Wort. »Habe ich euch schon die Geschichte erzählt, wie Dahlia sich aus Versehen vor dem alten Mr. Shickle, dem Besitzer unserer Eisdiele, entblößt hat?«

Ich war entsetzt. »Wage es bloß nicht! Nicht vor meinem Dad und meinen Brüdern!«

Alle drei lachten, und das spornte Bailey an, mit dieser peinlichen Episode fortzufahren. »Wir hatten ausnahmsweise mal einen Tag frei und waren am Strand gewesen. Noch im Bikini gingen wir in die Eisdiele – hör auf, mich so lüstern anzustarren, Dermot. Während wir auf unser Eis warteten, lehnte sich Dahlia gegen die Wand und blieb mit dem Band ihres Bikinioberteils an dem Haken eines alten Bilds hängen. Anstatt zu versuchen, sich vorsichtig zu befreien, riss sie sich ruckartig los.« Sie sah mich lachend an. »Das Oberteil blieb an der Wand hängen, und Mr. Shickle wurde mit Verdacht auf einen Herzinfarkt ins Krankenhaus gebracht. Glücklicherweise handelte es sich nur um eine Herzrhythmusstörung, die er überlebte. Die Leute waren jedoch überzeugt davon, dass der Anblick von Dahlia McGuires nacktem Oberkörper zu viel für den alten Mr. Shickle gewesen war.«

Meine Wangen brannten vor Scham, während mein Dad und meine Brüder nicht so recht wussten, ob sie darüber entsetzt sein sollten, dass ihre Tochter und Schwester in der Öffentlichkeit ihre Brüste entblößt hatte, oder darüber lachen sollten, dass ich einen alten Mann damit ins Krankenhaus gebracht hatte.

»Ich kann es nicht fassen, dass du diese Geschichte erzählt hast!«

»Welche Geschichte?«, fragte Krista, als sie in die Küche kam.

Also musste ich sie mir noch einmal anhören. Wie peinlich! Krista machte sich vor Lachen beinahe in die Hosen. Und Bailey hatte erreicht, was sie vorgehabt hatte.

Sie hatte mich von meiner Mom abgelenkt.

Und uns zum Lachen gebracht.

Auch wenn es auf meine Kosten ging.

Am nächsten Abend versammelte sich beinahe meine gesamte Familie im Rosie’s. Levi hatte sich am Morgen nach dem Aufwachen nicht gut gefühlt, und obwohl es ihm im Laufe des Tages besser ging, hatten Darragh und Krista beschlossen, ihn lieber nicht zum Abendessen mitzunehmen. Letztendlich war Krista mit den beiden Jungen zu Hause geblieben, und Darragh war alleine gekommen. Ich war enttäuscht, dass Krista und meine Neffen nicht da waren, und hoffte, es würde Levi am folgenden Tag gut genug gehen, sodass alle an meinem letzten Abend in Boston zu Dads Steakessen kommen konnten.

»Du wirst mir sehr fehlen«, erklärte Davina, als wir an der Bar Drinks bestellten. Wir hatten alle schon gegessen und konzentrierten uns nun auf den alkoholischen Teil des Abends. Nun ja, das betraf die anderen – ich trank Soda mit Zitrone.

Ich lehnte mich an sie. »Du mir auch, aber bevor du dich versiehst, bin ich wieder da.«

Sie zögerte einen Moment. »Falls Mom versuchen sollte, wieder eine Beziehung zu mir aufzubauen, und ich mich darauf einlassen würde, wärst du mir dann böse?«, stieß sie dann hervor.

Natürlich nicht. »Meine Güte, nein, Davina. Schau, ich verstehe jetzt, warum die Dinge zwischen Mom und mir so sind, wie sie sind. Es schmerzt zwar immer noch, aber ich kann damit meinen Frieden schließen, und das hätte ich noch vor einem Monat nicht für möglich gehalten. Wahrscheinlich werden Mom und ich nie eine gute Beziehung haben – damit werde ich mich wohl abfinden müssen. Doch das wünsche ich keinem von euch. Und ihr auch nicht. Falls sie also etwas unternimmt, um sich mit dir zu versöhnen, würde ich mich sehr für dich freuen, Davi. Ehrlich.«

Sie lächelte zittrig. »Ich habe dich lieb, Kleines.«

Ich grinste. »Ich dich auch.«

Ihr Lächeln wurde breiter, und sie öffnete den Mund, um weiterzusprechen, doch dann tauchte Bailey neben mir auf. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich muss dir etwas sagen.«

»Was hast du vor?« Dermot stellte sich hinter uns.

Wir drehten uns alle um. Mein Bruder starrte Bailey zornig an.

Bailey erwiderte trotzig seinen Blick. »Ich möchte sie damit nicht überfallen.«

»Es war deine Idee.«

»Ich habe nicht damit gerechnet, dass es funktioniert, und außerdem hast du mir nicht viel Zeit gelassen.«

»Was zum Teufel ist hier los?« Davina musterte beide streng.

Bailey schluckte heftig und sah mich entschuldigend an. »Michael ist auf dem Weg hierher.«

»Was? Warum?« Drehte sich der Raum plötzlich? Mit einem Mal war mir schwindlig.

»Ich hasse dich.«

Ich blinzelte und versuchte, seine Stimme aus meinem Kopf zu vertreiben. »Dermot hat mir gesagt, dass Michael euch beide beim Verlassen des Polizeireviers beobachtet hat und sehr beunruhigt wirkte. Wir wissen beide, dass er dir nicht gefolgt wäre, wenn er sich nicht um dich sorgen würde. In diesem Fall ist Hass keine schlechte Sache. Viel schlimmer wäre Gleichgültigkeit, und das trifft bei Michael eindeutig nicht zu. Langer Rede kurzer Sinn: Ich habe Dermot gebeten, Michael zu fragen, ob er auf ein paar Drinks mit der Familie vorbeikommen möchte. Eine letzte Chance, um den Bruch zu kitten.«

Meine Güte, wie hatte ich nur vergessen können, dass Bailey eine begeisterte Kupplerin war? Das hatte sie schon bei Jessica und Cooper bewiesen. »Bailey …«

»Die Sache ist die …«

»Na ja, weißt du …« Dermot fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schaute mich aus seinen haselnussbraunen Augen entschuldigend an. »Ich habe ihm nicht direkt gesagt, dass du hier sein wirst.«

»Aber man könnte annehmen, dass er sich das denkt«, warf Bailey ein und fing meinen entsetzten Blick auf. »Trotzdem wollte ich dich vorwarnen.«

Ich starrte meinen Bruder an und versuchte, den gewaltigen Aufruhr zu verbergen, der meinen Magen wie ein Schiffswrack auf hoher See hin und her warf. »Und du wolltest mich damit überrumpeln?«

»Nein, ich hatte nur die Befürchtung, dass du gehen würdest.«

Um die Wahrheit zu sagen: Mein Instinkt sagte mir, ich sollte das Weite suchen.

Doch ich wollte nicht mehr davonlaufen.

Ich warf einen Blick zu dem Tisch hinüber, wo Dad, Astrid und Darragh sich lachend unterhielten. »Ich werde bleiben. Wenn Michael meine Gegenwart nicht gefällt, kann er ja gehen.«

Und plötzlich spürte ich, wie er die Bar betrat. Beinahe so, als wären wir tatsächlich Magneten, die einander anzogen. Ich schaute an Dermot vorbei zur Tür.

Da stand er.

Michael trug dieselbe Lederjacke wie bei seinem Besuch in Dads Haus, dazu eine dunkle Jeans, ein dunkles Hemd und schwarze Stiefel. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er sich rasiert hatte.

So oder so – er sah so gut aus, dass sein Anblick mir beinahe körperliche Schmerzen bereitete.

In dem Verhörzimmer im Polizeirevier war ich ihm so nahe gekommen, dass ich sein Rasierwasser hatte riechen können – die schlimmste Art von Folter. Bis er den Mund geöffnet und mich fertiggemacht hatte.

Als ich bemerkte, dass er nicht allein war, begann mein bereits viel zu schnell schlagendes Herz so heftig zu klopfen, dass ich befürchtete, es würde mir gleich aus der Brust springen.

Er war mit einem Date gekommen.

Eine schicke junge Blondine mit einem modernen Kurzhaarschnitt ging selbstbewusst neben ihm her.

Warum bevorzugte er Blondinen?

»Er ist in Begleitung?«, zischte meine Schwester leise.

»Sie kommt mir irgendwie bekannt vor.« Dermot kniff die Augen zusammen.

Michael entdeckte uns an der Bar, und als sich unsere Blicke trafen, schien er nicht überrascht zu sein. Er hatte gewusst, dass ich hier sein würde.

Und er war mit einer anderen Frau gekommen.

Bailey nahm meine Hand und drückte sie, aber ihr Trost konnte die Flut an Erinnerungen nicht aufhalten. Die Gedanken an das letzte Mal, als er mit einer anderen Frau zusammen gewesen war. Ich bezweifelte, dass er es dieses Mal so bereute wie damals. Erinnerungen überfluteten mich und zogen mich zurück in die Vergangenheit.