Michael stützte sich mit den Händen links und rechts neben meinem Kopf auf der Matratze ab und starrte mich an. »Meine Güte, ich bin immer noch in dir, Dahlia.« Ungläubig schnaubend zog er sich zurück, und ich erschauerte, als er sich von mir herunterrollte und sich neben mich auf den Rücken legte.
Ich wartete auf seine Antwort.
Da keine kam, richtete ich mich auf und spürte dabei, wie meine Oberschenkel nach diesem heftigen Sex zitterten. Denn das war es doch gewesen, oder etwa nicht?
Ich schwang die Beine aus dem Bett und sah in Gedanken Michaels Gesicht vor mir, wie er mir währenddessen unablässig in die Augen gesehen hatte.
War das wirklich nur ein Fick gewesen?
Schweren Herzens schüttelte ich den Kopf und stellte meine Füße auf den kalten Boden. Bei unserer Ankunft war mir vor Wut und Lust so heiß gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie eiskalt es in dieser Wohnung war.
Rasch lief ich auf die andere Seite des Betts und sammelte meine Klamotten vom Fußboden auf.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Michael sich aufsetzte. »Was machst du da?«
»Ich muss gehen«, erwiderte ich, ohne ihn dabei anzuschauen.
Als ich ihn aufstehen hörte, drehte ich mich zu ihm um. Seine dunklen Augen glitzerten im hellen Schein der Deckenlampe. Überrascht sah ich zu, wie er sich bückte und sich meine Socken und Stiefel griff. »Ich muss ins Badezimmer, deshalb behalte ich die.« Er hob die Stiefel hoch. »Als Versicherung, dass du noch bleibst. Wir müssen miteinander reden.«
»Michael …«
»Keine Diskussion.«
Diese entschlossene Miene kannte ich, also widersprach ich ihm nicht, doch mein Herz schlug bei dem Gedanken an das bevorstehende Gespräch schneller. Um von meiner Angst abzulenken, schnaubte ich verärgert, drehte mich rasch um und begann, mich anzuziehen.
»Dahlia.«
Nach einem kurzen Zögern warf ich einen Blick über die Schulter.
Michael starrte mich an, als wollte er sich auf mich stürzen und mich noch einmal nehmen. Irritiert stellte ich fest, wie mein Körper darauf reagierte – zwischen meinen Beinen prickelte es, und meine Brüste schienen anzuschwellen.
Verdammt.
»Beim nächsten Mal möchte ich dich auf Händen und Knien vor mir haben, um diesen Anblick genießen zu können.«
Rasch unterdrückte ich ein erregtes Stöhnen und kniff die Augen zusammen. »Es wird kein nächstes Mal geben.«
Michael grinste süffisant, als wüsste er es besser, und ging an mir vorbei.
Sein Hintern.
Meine Güte, dieser Arsch.
Er war wirklich fantastisch.
Bedauernd sah ich ihm hinterher und warf noch einmal einen Blick auf diesen muskulösen Po, während er das Schlafzimmer verließ. Ich hätte die Chance wahrnehmen und hineinbeißen sollen. Zu spät.
Betrübt zog ich mich fertig an und errötete, als ich dabei an den Sex mit Michael dachte. Er hatte alle meine Erwartungen übertroffen, und das, obwohl sie sehr hoch gewesen waren. Oh Gott, mein Orgasmus war wie eine Explosion gewesen. Die Röte in meinem Gesicht vertiefte sich, und ich schüttelte den Kopf, während ich zittrig erst den einen und dann den anderen Fuß in die Jeans steckte. Wenn das Bailey erfuhr …
Oh, Mist.
Bailey. Mein Dad. Sie fragten sich wahrscheinlich, wo ich geblieben war.
Ich musste einen Blick auf mein Handy werfen, und das befand sich in meiner Handtasche. Wo auch immer die sein mochte. Ich erinnerte mich vage daran, dass ich sie hatte fallen lassen, als Michael mich in die Arme genommen hatte. Im Wohnzimmer.
Nachdem ich mich einigermaßen gesammelt hatte, ging ich den Flur hinunter. Ich war mir nicht sicher, ob ich jemals wieder so sein würde wie vor dem Sex mit Michael – er hatte mich fundamental verändert. War das nicht ein kräftiger Tritt in meine cojones, metaphorisch gesprochen?
Die Küche lag neben dem Wohnzimmer, und ich starrte eine Weile benommen auf die schreckliche Leere. Warum machte es mich so betroffen, dass seine Wohnung nur mit dem Nötigsten eingerichtet war? Es gab keine Anzeichen von Wärme, keine persönlichen Dinge. Das verursachte ein Ziehen tief in mir. Ich war immer noch in Gedanken versunken, als Michael hereinspazierte. Zum Glück trug er jetzt eine Jogginghose und ein T-Shirt.
»Kaffee?« Er schlenderte zur Kaffeemaschine hinüber. »Tut mir leid, dass es hier so kalt ist. Die Heizung läuft mit einem Timer, müsste aber jetzt gleich anspringen.« Er holte zwei Kaffeebecher aus dem Küchenschrank.
»Ich muss gehen. Gibst du mir meine Stiefel?«
Als Antwort darauf warf er mir meine zusammengerollten Socken zu. »Damit du keine kalten Füße bekommst.«
Mit finsterem Blick bückte ich mich, um mir meine Socken überzustreifen. »Das ließe sich noch besser vermeiden, wenn du mir meine Stiefel zurückgeben würdest.«
»Dahlia, bleib noch und trink einen Kaffee mit mir.«
»Ich brauche mein Handy, um nachzuschauen, ob ich Nachrichten bekommen habe.« Ich ignorierte seinen besänftigenden Tonfall und schaute mich um. Als ich von der Küche ins Wohnzimmer ging, entdeckte ich meine Handtasche auf dem Boden. Mit zitternden Händen hob ich sie auf und kramte mein Handy heraus, das mir prompt aus den bebenden Fingern glitt.
Sofort stand Michael neben mir und bückte sich danach.
Ich öffnete den Mund und wollte protestieren, aber er nahm meine Hände, drückte sie beruhigend und gab mir mein Handy. In seinen dunklen Augen lag ein ähnlicher Ausdruck der Zärtlichkeit wie früher. »Schon gut, Darling.«
Als mich eine Gefühlswelle überrollte, biss ich mir rasch auf die Unterlippe und öffnete meine Handytasche, um mich schnell abzulenken. Mein Dad und Bailey hatten mir Nachrichten geschickt.
Michael musste mir über die Schulter geschaut haben. »Schreib ihnen, dass es dir gut geht. Dass du hier bist«, meinte er.
»Ich werde ihnen schreiben, dass ich auf dem Heimweg bin.«
Sein Seufzen klang erschöpft. »Dahlia, ich will nicht behaupten, dass ich nicht immer noch wütend auf dich bin. Der Sex zwischen uns hat daran nichts geändert, wenn er auch noch so fantastisch war. Ich bin dir immer noch böse, aber wenn du jetzt bleibst und mit mir redest, könnte sich das vielleicht ändern. Bitte.«
Das Wort bitte gab den Ausschlag.
Obwohl mir das, worüber wir sprechen mussten, das Herz sehr schwer machen und mir sehr wehtun würde, war ich mir darüber im Klaren, dass diese Unterhaltung notwendig war, wenn wir beide loslassen wollten.
Nachdem ich meine Nachrichten komplett gelesen hatte, schrieb ich meinem Dad und Bailey, dass ich bei Michael sei und es mir gut gehe. Danach schob ich mein Handy zurück in meine Tasche und schaute in Michaels wachsame Augen. »Jetzt könnte ich einen Kaffee vertragen.«
Seine Gesichtszüge entspannten sich. Er nickte und bedeutete mir mit einer Geste, in die Küche vorauszugehen. Dort reichte er mir einen Kaffeebecher, und ich setzte mich an den Küchentisch. Michael ließ sich auf den Stuhl neben mir nieder, und ich versuchte, ihm nur ins Gesicht zu schauen.
Es war nicht leicht.
Das T-Shirt, das er trug, betonte seine Figur, und ich wünschte, ich könnte mit einem Knopfdruck die Szene im Schlafzimmer noch einmal wiederholen – dieses Mal würde ich allerdings viel mehr Zeit darauf verwenden, seinen Körper zu erforschen.
Als er die Hände um den Becher legte, zog mich diese Bewegung unwillkürlich an. Michaels Hände hatten mir schon immer sehr gefallen – vielleicht lag das an meiner künstlerischen Neigung. Sie waren groß und männlich, aber gleichzeitig feingliedrig mit langen Fingern und kräftigen Knöcheln. Diese Kombination war sexy, und mir stieg die Röte ins Gesicht, als ich daran dachte, wie sie sich angefühlt hatten, als sie über meinen Körper geglitten waren.
»Warum?« Seine Stimme klang jetzt wieder hart. Ich riss den Blick von seinen Händen los und schaute auf sein Gesicht. Seine Miene zeigte, wie aufgewühlt er war. »Warum bist du fortgegangen und nicht zurückgekommen?«
Ich musste es ihm erklären, auch wenn es mir noch so schwerfiel. Er hatte es verdient, zu erfahren, dass ich ihn nicht einfach so verlassen hatte. Mir war ein wenig übel, und ich atmete zittrig aus.
Rasch legte ich die Hände um den Kaffeebecher und schöpfte ein wenig Trost aus der Wärme, die er ausstrahlte. »Nach Dillons Tod habe ich alle von mir weggestoßen, nicht nur dich. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich mir ein wenig mehr Zeit gelassen hätte. Ich stelle mir gerne vor, dass ich dann den Kontakt zu dir wieder zugelassen hätte, aber das werden wir nie erfahren.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ich schnitt ihm das Wort ab.
»Bevor du etwas dazu sagen willst …« Ich konnte ihn nicht ansehen, als mich die Erinnerungen an das Verhalten meiner Mutter überwältigten. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr hatte ich mir gewünscht, Michael Sullivan würde mich lieben. Es mag sich verrückt anhören, aber ich hatte lange Zeit Angst, er würde die Ursache dafür suchen, wenn er erfuhr, dass meine Mom mich nicht lieben konnte. Und dann entsprechende Gründe finden, um mich auch nicht lieben zu können. In Anbetracht seiner Familiengeschichte war das irrational und dumm, aber im Laufe der Jahre hatte sich in meinem Inneren einiges verdreht. Es war an der Zeit, eine Erklärung zu liefern.
»Dahlia?« Michael kniff besorgt die Augen zusammen. »Was verstehe ich hier nicht?«
»Meine Mom«, stieß ich hervor. Gefühle schnürten mir die Kehle zu, und Tränen brannten in meinen Augen. Das machte mich verdammt wütend, denn ich wünschte, ich hätte das alles bereits hinter mir gelassen. Ich wollte meinen Frieden mit der Tatsache machen, dass meine Mutter mich ablehnte, und nach vorne schauen. »Nicht lange nach Dillons Tod war mein Dad eines Tages weggegangen. Außer mir und Mom war niemand im Haus. Ich war in meinem Zimmer …« Schmerz erstickte meine Stimme. »Umgeben von Dillons Sachen. Ich saß auf ihrem Bett und versuchte, das alles zu verstehen. Warum ihre Sachen alle hier lagen und darauf warteten, von ihr hochgehoben und benutzt zu werden. Und warum das nie wieder geschehen würde. Ich hielt ihre Brosche in der Hand. Du weißt, wie sehr sie Rosen liebte, also hatte ich ihr ein paar Monate vor der Katastrophe eine silberne Brosche gemacht. Sie stellte eine einzelne blühende Rose dar. Dillon mochte sie sehr und trug sie oft.«
Ich versuchte verzweifelt, meine Tränen zu unterdrücken. »Sie würde sie nie wieder anstecken, und das konnte ich einfach nicht begreifen. Es machte mich verrückt. Der Schmerz, all ihre Dinge zu sehen, trieb mich beinahe in den Wahnsinn, also begann ich damit, sie wegzuräumen.« Ich schaute Michael an, und das Mitgefühl in seinen Augen wurde überdeckt von der Vorstellung des Gesichts meiner Mutter, als sie mich dabei ertappt hatte. »Dann kam Mom hereingestürmt. Es gab kein Gespräch, keine Fragen. Sie … sie schlug einfach auf mich ein.« Ich konnte noch immer das heftige Brennen der Schläge spüren. »Ich war so verblüfft, dass ich mich auf den Boden kauerte und es über mich ergehen ließ, dass sie immer wieder mit der flachen Hand auf meinen Kopf schlug. Dabei schrie sie, dass Gott ihr die falsche Tochter genommen hätte. Dass alles meine Schuld wäre und sie sich wünschte, Gott hätte mich stattdessen zu sich geholt.« Beim letzten Wort fing ich an zu schluchzen. Ich hörte das Scharren eines Stuhls über den Boden, und kurz darauf zog Michael mich in seine Arme. Ich schmiegte mich an ihn, an seinen starken Körper, so, als könnte ich mit ihm verschmelzen und auf diese Weise einen Teil meines Schmerzes an ihn abgeben.
Er hielt mich fest und drückte seine Lippen auf mein Haar, während ich zitternd all die Gefühle herausschluchzte, von denen ich geglaubt hatte, sie schon lange nicht mehr in mir zu tragen.
Mein Kopf schmerzte leicht, als ich eine Weile später mit einer frischen Tasse Kaffee und einem zerknüllten Taschentuch in der Hand neben Michael auf dem Sofa saß.
Ich versuchte, Michaels Nähe auf der Couch zu ignorieren. Und ebenso seinen Blick, der zu sagen schien, dass er sich jederzeit für mich opfern würde. Es war wunderschön und beängstigend zugleich, dass meine Geschichte ihn wieder in meinen alten Michael verwandelt hatte.
»Und dann hast du angefangen zu trinken?« Seine Stimme klang sanft und beruhigend.
Ich nickte und trank einen Schluck Kaffee, bevor ich ihm antwortete. »In dieser Nacht wollte ich davonlaufen. Es war mir zu peinlich, mit jemandem darüber zu sprechen, und ich dachte, wenn ich meinem Dad davon erzähle, würde mich meine Mom nur noch mehr hassen. Ich versuchte, mir einzureden, dass es an ihrer Trauer lag und sie es nicht so gemeint hatte, aber ihre Worte gärten in mir. Um endlich einschlafen zu können, klaute ich in dieser Nacht die Ginflasche aus der Hausbar meiner Eltern. Als ich bemerkte, dass der Schmerz leichter wurde, wenn ich vom Alkohol betäubt war, trank ich weiter.«
»Ich erinnere mich daran.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich habe mir große Sorgen gemacht, aber ich wusste nicht, wie ich dir helfen sollte.«
Als ich daran dachte, was ich ihm alles zugemutet hatte, zuckte ich zusammen und drehte mich von ihm weg. »Dad war auch sehr besorgt, und wie du dachte er, es sei nur wegen Dillon. Er hatte damals Kontakt zu seiner Schwester, die in Hartwell lebte und einen Andenkenladen an der Promenade besaß. Er überredete sie dazu, mir den Laden zu vermieten. Ich erklärte mich bereit, nach Hartwell zu gehen, weil ich nicht mehr länger in der Nähe meiner Mutter sein wollte, aber ich nahm Dad das Versprechen ab, niemandem zu verraten, wo ich war.«
»Und das ist der Teil der Geschichte, den ich nicht verstehe.«
Es war nicht leicht für mich, ihm in die Augen zu schauen und zu sehen, dass er sich verraten gefühlt hatte. »Ich habe mich selbst gehasst, Michael. Ich fühlte mich verantwortlich für den Tod meiner kleinen Schwester, und meine Mom hasste mich. Ich habe getrunken, damit ich nachts schlafen konnte, und ich habe alle Menschen, die ich liebte, von mir gestoßen. Du hattest etwas Besseres verdient.«
»Ich hatte die Wahrheit verdient.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich war nicht in der richtigen geistigen Verfassung. Ich glaubte, es wäre das Beste für dich, wenn ich dich verließe.«
Als ich bemerkte, dass ich nicht zu ihm durchdrang, wurde mir klar, dass ich ihm alles erzählen musste. Wie tief ich damals gesunken war.
»Ich hatte gehofft, der Schmerz würde aufhören, sobald ich aus Boston weg war. Aber so war es nicht. Es wurde noch schlimmer, und ich habe noch mehr getrunken. Ich war noch nicht lange dort, als ich eines Nachts betrunken mit einer Flasche Gin an den Strand ging.« Ein paar verirrte Tränen, mit denen ich nicht mehr gerechnet hatte, rollten mir über die Wangen, und ich wischte sie zornig weg. »Meine Erinnerungen an diese Nacht sind verschwommen; ich sehe nur noch undeutlich vor mir, dass ich ins Meer gegangen bin.«
Michael versteifte sich.
»Ich … Ich erinnere mich an die Kälte und an die gegenwärtige Angst, als ich unterging, aber auch an die Erleichterung.« Nun strömten mir noch mehr Tränen übers Gesicht, dieses Mal vor Scham. »Ich kann mich nicht daran erinnern, wie Bailey mich aus dem Wasser gezogen hat. Und auch nicht daran, wie sie mich wiederbelebt hat. Und ich weiß auch nicht mehr, dass ich zu ihr gesagt habe, sie hätte mich sterben lassen sollen. Das hat sie mir alles später erzählt.«
»Verdammt.« Michaels Augen schimmerten feucht. Er beugte sich vor, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte auf den Boden.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich.
Er schüttelte den Kopf und schluckte heftig, um seine Gefühle zu unterdrücken.
»In dieser Verfassung befand ich mich damals, Michael. Und niemand hätte mich da herausholen können – auch du und mein Dad nicht. Am nächsten Morgen wachte ich in einem Krankenhausbett auf, nüchtern und voll Schmerz, und eine Fremde erzählte mir, dass ich ins Wasser gegangen sei und sie mir das Leben gerettet habe. Und das hat gewirkt.«
Michael ließ die Hände sinken und wandte sich mir zu. »Warum bist du nicht zu mir gekommen? Ich hätte diesen ganzen Mist erfahren müssen, Dahlia. Und wenn du es zugelassen hättest, hätte ich dir so viel Liebe gegeben, dass du dich niemals wertlos gefühlt hättest. So wertlos, dass es dich ins Meer gezogen hat.«
»Michael …« Ich schüttelte den Kopf. Seine Worte waren Balsam und Salz in der Wunde zugleich. »So einfach war das nicht. Du und ich … Wir haben … uns niemals unsere Liebe gestanden. Und dann noch die Worte meiner Mutter und die Scham, weil ich mich selbst aufgegeben hatte. Alles war völlig durcheinander. Ich habe wirklich geglaubt, du würdest schnell darüber hinwegkommen. Ganz leicht. Und dass du ohne eine so abgedrehte Frau in deinem Leben besser dran wärst.
In Hartwell habe ich ein klein wenig Frieden gefunden. Bailey wurde für mich zu meiner Familie, durch sie schloss ich weitere Freundschaften, und das Leben dort schien einfach zu sein. Ich hatte Angst, ich könnte wieder zerbrechen, sobald ich hierher zurückkommen und meiner Mutter gegenüberstehen würde. Also blieb ich weg, und je länger ich das tat, umso schwieriger erschien mir eine Rückkehr. Ich hatte große Schuldgefühle, weil ich das Leben meiner Lieben verpasste. Ich bin nicht stolz darauf, aber es ist die Wahrheit, Michael.«
»Und warum bist du jetzt zurückgekommen? Weil du mich gesehen hast?«
»Zum Teil ja. Dein Anblick hat mich schockiert und erschreckt, aber ich bin nicht gestorben – ich habe diese Begegnung überlebt.« Ich lächelte traurig. »Dich mit deiner Frau zu sehen war schmerzlich, aber es schmälerte auch meine Schuldgefühle. Ich hatte die Bestätigung, dass ich recht gehabt hatte. Du warst darüber hinweg. Als mich Dad dann wegen der Scheidung anrief, wusste ich, dass ich für ihn da sein musste. Und nachdem ich dich gesehen hatte, war mir klar, dass ich alles überleben würde, auch wenn es noch so schlimm werden würde.«
Michael schien einen Moment lang meine Worte zu überdenken, bevor er sich vom Sofa erhob. Offensichtlich war er empört.
Ich beobachtete ihn aufmerksam, als er zum Fenster hinüberging.
»Ich war darüber hinweg?«, stieß er hervor und drehte sich zu mir um. »Ach ja? Weit gefehlt, Dahlia. Als ich deiner Familie keine Ruhe ließ und immer wieder fragte, wo du hingegangen seist, sagte deine Mom mir, dass du einfach deinen Kram zusammengepackt hättest und abgehauen wärst. Ohne zu mir zu kommen, ohne dich von mir zu verabschieden. Also hörte ich auf, sie zu belästigen. Aber ich wurde wütend. Schließlich erzählte mir Dermot, dass dein Dad dich weggeschickt habe und nur er deinen Aufenthaltsort kenne. Das ärgerte mich noch mehr, also ging ich zu Cian und versuchte, aus ihm herauszubekommen, wo du warst. Doch er meinte, dass ich dich in Ruhe lassen sollte, wenn ich dich wirklich liebte. Dass du irgendwann aus freien Stücken zurückkommen würdest.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte ja keine Ahnung, was du durchgemacht hast. Ich habe mir einfach nur gedacht: ›Wenn sie mich liebte, wäre sie schon zurückgekommen, denn wenn sie nur halb so viel für mich empfinden würde wie ich für sie, könnte sie nicht wegbleiben.‹«
»Michael.«
»Mir war klar, dass ich dich hätte finden können. Wenn ich gewollt hätte, wäre mir das gelungen, aber ich wollte niemanden finden, der auf keinen Fall gefunden werden wollte. Also beschloss ich, das alles für immer hinter mir zu lassen. Und ich dachte, das wäre mir gelungen.«
»Mit deiner Frau.«
Michael ging durch das Zimmer zurück und setzte sich wieder. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte auf den Boden. »Meine Ex-Frau. Die Scheidung wurde vor einer Woche rechtskräftig. Ihr Name ist Kiersten.«
Der verständnisvolle Michael nahm an, dass ich nichts über sie wissen wollte. Tatsächlich wollte ich nichts über die Frau hören, die jahrelang an seiner Seite geschlafen hatte. Jeden Tag mit ihm hatte sprechen und lachen können. Es tat mir so weh, dass ich kaum mehr atmen konnte. Doch die Masochistin in mir wollte unbedingt wissen, wie sehr er sie geliebt hatte. »Warum ist die Ehe in die Brüche gegangen?«
Er schnaubte verächtlich. »Warum?« Er drehte mir den Kopf zu. »Uns war beiden nicht klar, warum es nicht geklappt hat. Das ist die reine Wahrheit. Als wir uns kennenlernten, war sie die erste Frau seit Jahren, die mich zum Lachen brachte. Kiersten ist nett und witzig, und es gefiel mir, dass sie Spaß in mein Leben brachte. Aber irgendwann in den vier Jahren, die wir zusammen waren, brachten wir uns gegenseitig nicht mehr zum Lachen, und ich weiß nicht, warum. Unser Urlaub in Hartwell war der letzte Versuch, unsere Ehe zu kitten.«
Sein Blick glitt über mein Gesicht nach unten auf meinen Körper, bevor er zusammenzuckte und sich abwandte. »Nach unserer Begegnung gingen wir zurück ins Hotel, und Kiersten rastete aus. Sie wollte wissen, wer du bist. Also erzählte ich es ihr. Dass ich dich geliebt habe. Dass du ohne ein Wort gegangen bist und dass ich dich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Und weißt du, was sie dann sagte?«
Es fiel mir schwer zu atmen, geschweige denn zu sprechen.
»Sie meinte, dass jetzt alles einen Sinn ergebe. Dass ich sie in den vier Jahren unserer Beziehung immer auf Abstand gehalten und sie niemals ganz an mich herangelassen hätte. Dass ich niemals über meine Eltern gesprochen hätte. Und auch nicht über meinen Job. Ich habe ihr natürlich zugehört, aber immer, wenn sie mir Fragen stellte, die mir zu persönlich waren, habe ich geschwiegen.« Er schüttelte den Kopf. »Mir war das alles gar nicht bewusst, aber sie hatte recht.«
»Und es war meinetwegen?« Ich wagte es kaum zu fragen.
»Als ich in die Scheidung einwilligte, habe ich lange darüber nachgedacht. Vielleicht war ich deshalb ein so schlechter Ehemann, weil ich Angst davor hatte, sie könnte mich ebenso verletzen, wie du es getan hast. Aber in den letzten Wochen … Mir wurde klar, dass es nicht nur darum ging. Es hat daran gelegen, dass sie einfach nicht du war.«
Gewissensbisse plagten mich, und ich hoffte, dass alles, was ich nicht in Worte fassen konnte, in meinen Augen zu lesen war.
»Ich habe eine liebe Frau verarscht. Ohne es zu wollen. Aber ich habe es getan.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Glücklicherweise ist sie darüber hinweg. Sie hat einen neuen Partner. Ein netter Kerl.«
Wir schwiegen eine Weile, während ich das alles verdaute. Ich hatte Mitgefühl mit ihm. Und ich fühlte mich schuldig, weil ich ihm so großen Schmerz zugefügt hatte. Noch schlimmer: Ein hässlicher Teil tief in meinem Inneren freute sich, dass er seine Frau nicht so hatte lieben können wie mich. War das nicht grauenhaft selbstsüchtig?
Rasch versuchte ich, diese Gefühle von mir zu schieben, und dachte an Michaels Geständnis, dass er mit Kiersten nicht über seine Familie gesprochen hatte. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er den Kontakt zu ihr ganz abgebrochen? Und was war mit Gary? Ich wusste, sie hatten sich auseinandergelebt, nachdem Gary erfahren hatte, dass wir zusammen waren, doch seit meiner Rückkehr war er mit keinem Wort erwähnt worden. »Hast du noch Kontakt zu deinen Eltern? Und zu Gary?«
Falls ihn diese Frage überraschte, zeigte er es nicht. Stattdessen lehnte er sich entspannt auf dem Sofa zurück. »Ich treffe mich hin und wieder mit meiner Mom. Dad versuche ich so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Es hat ihn ordentlich gewurmt, dass ich Detective geworden bin und er als einfacher Streifenpolizist in den Ruhestand gehen musste – und das ist untertrieben ausgedrückt«, erwiderte er. »Nachdem ich zum Lieutenant befördert worden war, wurde unsere Beziehung immer schlechter. Du kennst meinen Dad – egal, was ich tue, ich habe immer unrecht. Als ich meine Mom das letzte Mal besuchte, hatten Kiersten und ich gerade die Scheidung eingereicht. Normalerweise ist mein Dad sonntags in einer Bar, aber an diesem Tag ist er absichtlich zu Hause geblieben, um mir immer wieder zu sagen, dass ich mir vielleicht auf meine Dienstmarke etwas einbilden könne, aber dass ein Mann kein richtiger Mann sei, wenn es ihm nicht gelinge, seine Frau glücklich zu machen.«
Zorn stieg in mir hoch. »So ein Mistkerl.«
Michael lächelte verhalten. »Ja.«
»Und Gary?«
Er schüttelte den Kopf. »Gary ist nicht lange nach dir weggegangen. Er hat bei einem Cousin in North Carolina einen gut bezahlten Job beim Bau angenommen und ist nicht mehr zurückgekommen. Im Laufe der Jahre haben wir dann den Kontakt verloren.«
Verdammt.
Ich bin gegangen.
Gary ist gegangen.
»Es tut mir leid.«
»Ich hatte Dermot. Und deinen Dad.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie sind wie Familienangehörige für mich.«
Das Gefühl von Liebe und Schmerz schwoll so sehr in mir an, dass ich es kaum mehr ertragen konnte. Mir war bewusst, dass wir dieses Gespräch führen und alles zur Sprache bringen mussten, aber mir wurde ebenso klar, dass ich den kleinen Funken Hoffnung aufgeben musste, den ich im Hinblick auf Michael all die Jahre in mir bewahrt hatte.
Was auch immer er heute alles erfahren hatte, er würde stets glauben, dass ich ihn im Stich gelassen hatte. Zuerst hatten seine Eltern ihn verlassen, und dann hatte ich es getan. Und danach Gary. Es spielte keine Rolle, ob er es schaffte, loszulassen. Ich würde es nicht können.
Ich würde Gewissensbisse haben, und das würde jedes Mal, wenn ich in sein attraktives Gesicht schaute, nur noch schlimmer werden.
Dieser Gedanke ermüdete mich.
Ich liebte ihn.
Gott, ich liebte ihn wirklich.
Doch irgendwann musste ich endlich beginnen, auch mich selbst zu lieben.
Mein Gefühlschaos würde nicht über Nacht verschwinden, und bei Michael würde das sicher nicht anders sein. »Gibst du mir die Schuld?«
Michael drehte sich zu mir um und musterte mich, und ich fragte mich, ob er mein Herz klopfen hörte. »Ich verstehe jetzt alles besser.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Ich kann es überwinden.« Er setzte sich auf, und seine Gesichtszüge wirkten hart und entschlossen. »Wenn ich mit dir zusammen sein kann, werde ich es schaffen.«
Falsche Antwort.
Während er versuchte, darüber hinwegzukommen, würde es immer wieder Momente geben, in denen unsere Geschichte nach oben kommen und Anlass zu Auseinandersetzungen geben würde. Und Michael hatte mir gezeigt, dass er mich dann mit Worten sehr verletzen konnte.
Ich liebte ihn. Sehr sogar.
Doch sosehr er mir mein Davonlaufen übel nahm, sosehr nahm ein Teil von mir es ihm übel, dass er mich nicht gesucht hatte.
Zu viel Schuld.
Zu viel Schmerz.
Und da war noch etwas: meine Schuldgefühle, die ich tief in mir vergraben hatte und die mich nicht loslassen wollten. Wenn Michael nicht in meiner Nähe war, fühlte ich sie nicht. Und ich wollte sie nicht mehr spüren.
Meine Kehle schnürte sich schmerzhaft zusammen, als mir klar wurde, dass ich mich für immer von Michael Sullivan verabschieden musste. Mühsam erhob ich mich, umklammerte mit den Fingern den Saum meines Pullovers und versuchte, mich zusammenzureißen. Nun musste ich den Mut zeigen, den ich in der Vergangenheit nicht aufgebracht hatte. Tapfer erwiderte ich seinen Blick, und was auch immer er in meinen Augen sah, veranlasste ihn dazu, aufzuspringen und die Arme nach mir auszustrecken.
Ich wich vor seiner Berührung zurück.
»Tu mir das nicht noch einmal an, Dahlia«, bat er, offensichtlich beunruhigt.
»Ich bin … Der Schmerz ist noch zu groß, Michael.« Ich deutete mit einer Handbewegung auf uns beide. »Hast du es nicht satt? All das Drama und die Qual?«
»Es muss nicht so bleiben. Wir können daran arbeiten.«
»Tatsächlich?«, erwiderte ich zweifelnd. »Ich glaube nicht, dass man so viel Bitterkeit und Schuldgefühle abarbeiten kann. Ich bin gegangen, und es tut mir mehr leid, als ich jemals in Worten ausdrücken kann, aber die Wahrheit ist …« Ich griff nach meiner Handtasche und atmete zittrig aus. »Es mag sich irrational anhören, aber ich mache dir auch Vorwürfe. Dafür, dass du mich hast gehen lassen.«
Michael war verblüfft. Er schaute mich an, als hätte ich ihn geohrfeigt. Hart. Oder ihm in den Bauch geboxt. Es überraschte ihn so sehr, dass er mich losließ.
»Leb wohl, Michael«, brachte ich mühsam hervor.
Er antwortete nicht.
Er folgte mir nicht, als ich durch das Zimmer zur Wohnungstür ging.
Und die Tür hinter mir ging nicht mehr auf, als ich an diesem frühen Morgen in der Dunkelheit stand.
Rasch unterdrückte ich das Schluchzen, das in mir aufstieg. Oh Gott, das tat weh. In geduckter Haltung ging ich weiter und fragte mich, wie sich so viel Kummer und Reue in meinem Leben hatten breitmachen können, wo ich mir doch als Kind geschworen hatte, so etwas nie zuzulassen.
Ich hatte Michael angelogen. Um ihn zu schützen. Und um mich zu schützen. Ja, ein Teil von mir machte ihm unvernünftigerweise tatsächlich Vorwürfe, dass er mich hatte gehen lassen, aber ich hatte gelogen, als ich das als Hauptgrund dafür anführte, ihn wieder zu verlassen. Der eigentliche Grund lag viel tiefer verborgen. Wie ein Splitter unter der Haut, der nie herausgezogen worden war.
Eine Weile später – ich hatte kein Zeitgefühl mehr – hörte ich Schritte hinter mir. Eine kräftige Hand drehte mich herum und riss mich aus meinen Gedanken. Ich blinzelte verwirrt und blickte verwundert ins Gesicht meines Dads.
»Dad?«
Er legte einen Arm um mich und führte mich zu seinem am Straßenrand geparkten Wagen, während ich mich umschaute und mich fragte, wo ich war.
»Michael hat mich angerufen und gebeten, dich abzuholen.«
»Es tut mir leid«, murmelte ich, als er mir beim Einsteigen in das Auto half.
Meine Zähne klapperten.
Ich fror.
»Schon gut.« Dad schlug die Tür zu und ging um den Wagen herum. Nachdem er sich hinters Lenkrad gesetzt hatte, drehte er sich zu mir um. »Es wird alles wieder gut.«
Ich nickte wie betäubt. »Ja.«
Es musste so sein.