Kapitel neunzehn

DAHLIA

Hartwell

Drei Monate später

Es war noch dunkel, als ich das wunderschöne Gebäude neben meinem Laden betrat und ins Hart’s Inn ging. Architektonisch glich Baileys Pension meinem Laden. Beide waren mit weiß gestrichenen Schindeln verkleidet und besaßen eine Veranda. Im Gegensatz zu meiner lief Baileys Veranda jedoch um das ganze Haus herum. Außerdem verfügten zwei der Gästezimmer über einen Balkon mit Aussicht auf den Nordatlantik, und auf der obersten Etage befand sich ein Witwensteg. Im Vergleich zu meinem Laden, der nicht gerade klein war, wirkte die Pension riesig.

Die Tage im Februar waren kurz, und es war kalt. Zu Beginn des Monats kletterte das Thermometer noch kaum über sechs Grad. Als ich die Buntglastür hinter mir schloss, ließ ich den von mir so sehr geliebten Geruch nach salziger Seeluft draußen. Es überraschte mich nicht, Bailey an der Rezeption zu sehen. Es waren nur zwei Zimmer vermietet, aber sie war Frühaufsteherin und gerne schon am frühen Morgen für ihre Gäste da.

»Hier schlafen alle noch«, erklärte sie ohne Einleitung.

»Aber der Kaffee ist schon fertig, richtig?« Den besten Kaffee gab es ohne Zweifel bei Emery, aber ihr Laden war noch nicht geöffnet.

»Und Nicky hat heute Küchendienst, also gibt es Gebäck, Gebäck und noch mal Gebäck.«

Chefköchin der Pension war Mona; Nicky war ihre Stellvertreterin und Kuchenbäckerin, und ihre Backwaren waren unglaublich köstlich. »Du weißt, ich habe mich seit Weihnachten beherrscht, also führe mich nicht in Versuchung«, sagte ich stöhnend.

»Du siehst gut aus«, meinte sie augenzwinkernd.

»Du hast gut reden. Obwohl du in diesem Jahr fünfunddreißig wirst, scheinst du nie auch nur ein Pfund zuzunehmen. Eigentlich sollte sich dein Stoffwechsel schon längst verlangsamt haben.«

»Das klingt so bitter, dass ich dahinter ein wenig Neid vermute, was natürlich Blödsinn ist – für deine Figur würde ich töten.«

Ich verzog das Gesicht und folgte Baileys Aufforderung, mich an einen Tisch zu setzen. Äußerlich konnten wir kaum unterschiedlicher sein – wahrscheinlich stimmte es, was man sagte: Man wollte immer das haben, was man selbst nicht besaß. »Ich habe über Weihnachten zehn Pfund zugenommen. Dad hat mir Portionen vorgesetzt, die für das ganze Jahr gereicht hätten.«

»Hast du nicht gesagt, du hättest zehn Pfund abgenommen?«

»Ja, mit einer anschließenden Diät. Und ich will auf keinen Fall wieder zunehmen.« Mein Gewicht zu halten war ein ständiger Kampf. Ich war zwar schon immer kurvig gewesen, hatte aber vor meinem dreißigsten Lebensjahr nie Gewichtsprobleme gehabt. Erst seitdem schien sich jeder Schokoriegel sofort an meinem Hintern bemerkbar zu machen. Jetzt konnte ich zwar zu meiner Figur stehen, aber musste auch ständig aufpassen, dass ich mich nicht gehen ließ.

Ich warf einen verzweifelten Blick auf die Gebäckteilchen, die Bailey auf den Tisch gestellt hatte. »Das ist gemein.«

»Ach, halt den Mund und iss.« Sie stellte Kaffeebecher für uns auf den Tisch und setzte sich.

Ich nahm meine Tasse in die Hand und sah zu, wie sie sich auf das Gebäck stürzte.

Normalerweise würde Bailey jetzt reden wie ein Wasserfall, doch seit Wochen war sie ständig abgelenkt. Sie machte sich Sorgen um Ivy.

»Hast du in letzter Zeit mit Ivy gesprochen?«

Sie verzog das Gesicht. »Ivy verkriecht sich immer noch wie eine Einsiedlerin bei ihren Eltern.«

Nachdem die Polizei erklärt hatte, dass Oliver Frost an einer Überdosis Heroin gestorben war, und den Fall abgeschlossen hatte, waren Iris und Ira mit ihrer völlig verstörten Tochter nach Hartwell zurückgekehrt. Bailey war davon überzeugt, dass mehr hinter dieser Geschichte steckte. Iris und Ira hatten sich in den letzten Jahren immer wieder beunruhigt gezeigt, weil Ivy den Kontakt zu ihren Freunden kaum noch pflegte. Sie hatten Oliver nie gemocht. Wahrscheinlich hatten sie vermutet, dass er Drogen nahm, aber das war reine Spekulation von mir. Bailey hatte wohl einen ähnlichen Verdacht gehabt, aber wir sprachen beide nicht offen darüber. Man wusste schließlich nie, wer uns zuhörte. Ich fühlte mich in Hartwell sehr wohl, aber es war eine Kleinstadt, in der sich Gerüchte wie ein Lauffeuer verbreiteten.

Bailey runzelte die Stirn. »Hast du gehört, dass Ian Devlin die Greens gefragt hat, ob sie ihre Pizzeria nicht verkaufen wollen, um sich besser um ihre Tochter kümmern zu können? Das hat er wörtlich so gesagt!«

Ich schnaubte verächtlich. »Dieser Mann ist wie ein Geier. Sobald jemand in Schwierigkeiten steckt, stürzt er sich auf ihn und versucht, ihn zu manipulieren, solange er verletzlich ist.«

»Er ist der leibhaftige Teufel«, erwiderte Bailey. »Davon bin ich überzeugt.«

Vielleicht lag sie damit gar nicht so weit daneben. Ian Devlin hatte vier Söhne und eine Tochter. Von Rebecca Devlin hatte in den letzten Jahren niemand etwas gesehen oder gehört. Sie hatte aus unbekannten Gründen die Stadt verlassen und war nicht mehr zurückgekommen.

Das konnte ich ihr nicht vorwerfen. Ich kannte sie zwar nicht besonders gut, hatte sie aber immer für eine nette Person gehalten – das eindeutige Gegenteil ihrer Brüder. Nun ja, Jamie, der jüngste Devlin, war erst elf Jahre alt und spielte hoffentlich noch keine Rolle bei den hinterhältigen Plänen seiner Brüder und seines Vaters.

Eine Weile blieben wir schweigend sitzen. »Für Iris und Ira hätte die Eröffnung des neuen Restaurants zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können«, sagte Bailey schließlich.

Bailey bezog sich auf den alten Laden von George Beckwith. Er hatte dort früher traditionelle Touristensouvenirs verkauft, die ich insgeheim als Krempel bezeichnete. Die Touristen interessierten sich jedoch für die Kaffeebecher, den Kandiszucker, die Schlüsselringe, die Postkarten und all den Kram. Als er seinen Laden an einen extravaganten französischen Koch, der in New York gearbeitet hatte, verkaufte, übernahm ich seinen Bestand an traditionellen Geschenkartikeln.

Iris und Ira machten sich Sorgen, als sie erfuhren, dass Georges Laden an der Promenade in ein Restaurant umgewandelt werden sollte. Ich hatte den mysteriösen neuen Besitzer und Koch noch nicht zu Gesicht bekommen – im Gegensatz zu Bailey, die widerwillig zugab, dass er ein sehr attraktiver Typ war. Er hieß Sebastian Mercier. Das vor Kurzem angebrachte Schild verriet, dass er dem Restaurant den ausgesprochen schlichten Namen Die Promenade gegeben hatte. Wir hatten alle mit einem superschicken Lokal gerechnet, das nicht hierherpassen würde, aber offensichtlich war Mercier zu schlau dafür.

»Du hast doch gesagt, es handle sich um ein Seafood-Restaurant. Hummer und all das Zeugs. Also keine Konkurrenz für das Antonio’s.« Iris und Ira waren zwar keine Italiener, boten aber in ihrer Pizzeria gutes italienisches Essen an.

»Das stimmt.« Bailey zuckte mit den Schultern. »Aber jedes andere Restaurant wird ihren Umsatz verringern, gleichgültig, welche Speisekarte es hat. Leute, die hier an der Promenade essen und dabei den Ausblick genießen wollen, haben dann eine größere Auswahl.«

»Ich glaube nicht, dass sie darunter so stark leiden werden, wie sie befürchten. Nicht jeder mag Fisch und Meeresfrüchte, doch italienisches Essen ist bei fast allen beliebt.«

»Hmm. Das mag stimmen, aber es bereitet ihnen trotzdem Kopfschmerzen. Und belastet sie zusätzlich zu ihren Sorgen wegen Ivy. Das Letzte, was sie jetzt brauchen, sind Devlins Schikanen.«

Da konnte ich ihr nur zustimmen. Ich wünschte, wir könnten etwas tun, um Devlin davon abzuhalten, uns in unserem Viertel ständig auf die Nerven zu gehen.

Bailey stöhnte auf. »Mein Gott, ich bin wirklich eine schlechte Freundin. Seit Wochen geht mir so viel im Kopf herum, dass ich dich noch nicht einmal gefragt habe, wie es dir geht.«

Da sie wusste, dass meine Probleme mit meiner Mom und Michael noch nicht ausgestanden waren, hatte Bailey mich dazu ermutigt, an Weihnachten nach Boston zu fahren. Glücklicherweise war mein Aufenthalt dort ereignislos verlaufen. Ich hatte die gesamte Zeit mit meiner Familie verbracht, und wir hatten gemeinsam ein schönes Weihnachtsfest gefeiert. Von Mom oder Michael hatte ich nichts gehört. Ersteres war gut. Und Letzteres auch. Nur war es schwieriger, mir das einzureden. Doch ich hatte ihm gesagt, er solle mich loslassen, und das hatte er getan.

Und das war richtig.

»Mir geht es gut.« Ich gab nicht preis, dass ich immer noch von Michael träumte. Heiße Träume, bei denen ich schwitzte und vor Frustration und Verlangen beinahe verrückt wurde.

»Jess und Emery haben mir erzählt, dass du nicht viel darüber sprichst. Du weißt, dass ich ihnen nichts über deine Familiengeschichten erzählt habe, aber ich möchte dir noch einmal nahelegen, wenn schon nicht mit Emery, dann wenigstens mit Jess darüber zu reden. Ich glaube, ihr beide werdet einige Gemeinsamkeiten entdecken.«

»Bailey, ich bin darüber hinweg.« Ich hatte nicht vorgehabt, ihr eine so knappe Antwort zu geben, also lächelte ich sie entschuldigend an. »Ich schaue jetzt nach vorne und bin glücklich«, fügte ich hinzu. »Ich will nicht ständig emotional und seelisch wieder an diesen Ort zurückkehren. Es geht mir gut. Versprochen.«

Wenn sie davon nicht überzeugt war, betrachtete ich das nicht als mein Problem und ging nicht weiter darauf ein.

Nach dem kleinen Frühstück zu Tagesbeginn blieb mir immer noch Zeit, bevor ich meinen Laden öffnete. Während der Nebensaison hatte ich wegen der kürzeren Tage andere Öffnungszeiten und damit mehr Zeit für mich selbst. Ich verabschiedete mich von Bailey und ließ mir von ihr versprechen, dass sie sich bei mir melden würde, wenn sie mich brauchte. In letzter Zeit war das nicht mehr oft der Fall. Sie hatte jetzt Vaughn, und das freute mich sehr für sie.

Wirklich. Und hin und wieder überfiel mich der Gedanke, dass ich das Versprechen, das ich meinem Dad gegeben hatte, halten und mir eine Schulter zum Anlehnen suchen sollte. Vielleicht würden dann die Träume von dem Mann aufhören, den ich zurückgelassen hatte.

Da ich noch Lebensmittel brauchte, schlang ich meinen Wintermantel zum Schutz gegen den rauen Wind vom Meer fester um mich und ging den kurzen Weg zu Lanson’s in der Main Street.

Vertieft in meine Gedanken, schlenderte ich mit einem Einkaufskorb in der Hand durch die Gänge, bis ich jemanden vom Sheriff reden hörte. Gespannt, was es über Jeff King zu sagen gab, spitzte ich die Ohren und drehte leicht den Kopf zur Seite. Ellen Luther unterhielt sich mit Liv, der Sprechstundenhilfe in der Praxis, in der Jess arbeitete.

»Ein Detective?« Liv riss die Augen auf. »Bist du sicher?«

Ellen nickte, offensichtlich erfreut darüber, dass sie Neuigkeiten verbreiten konnte, die außer ihr noch niemand gehört hatte. »Ja. Du kennst doch Bridget, die im Revier am Empfang sitzt. Wir treffen uns einmal in der Woche zum Stricken, und gestern Abend hat sie mir erzählt, dass Sheriff King einen attraktiven Detective aus Boston eingestellt hat. Als Leiter der Kripo im Landkreis.«

»Bestätigt das etwa die Gerüchte, dass in der Dienststelle etwas Merkwürdiges vor sich geht?«

Ellen nickte eifrig. »Niemand hat es so deutlich ausgesprochen, aber das muss der Grund sein, warum sie diesen Mann eingestellt haben. Bridget sagt, dass er sehr gut aussieht. Sehr gut. Sein Name ist Matthew oder Michael oder so. Oh verflixt, sie hat mir seinen Nachnamen genannt, aber ich werde allmählich vergesslich. Ich glaube, es war ein irischer Name.«

Das Blut rauschte in meinen Ohren, und ich wandte mich rasch ab. Das war der interessanteste Klatsch in Hartwell seit Langem, und ich hatte ihn belauscht. Ich schüttelte den Kopf und spürte, dass meine Knie zitterten.

Nein.

Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich ließ meinen Einkaufskorb fallen. Das würde er nicht tun. Es musste sich um einen Zufall handeln. Er würde das nicht machen.

Er hatte mich gehen lassen.

Hastig verließ ich den Laden und atmete tief die kalte Seeluft ein.

Doch das genügte nicht.

Ich musste es wissen.

Rasch kramte ich in meiner Tasche, zog mit bebenden Fingern mein Handy heraus und suchte Michaels Nummer. Dermot hatte sie mir nach meinem Besuch an Thanksgiving gegeben, und obwohl ich meinem Bruder gesagt hatte, dass ich sie löschen würde, war sie noch gespeichert. Mir wurde ein wenig übel, nachdem ich den Knopf gedrückt hatte und darauf wartete, dass Michael sich meldete. Als ich das Klicken hörte, stockte mir der Atem.

»Hallo?«

Beim Klang seiner Stimme, dem tiefen, wunderschönen Ton in meinem Ohr, schloss ich die Augen. Ein einziges Wort von ihm genügte, damit meine Wangen sich röteten und mein Puls zu rasen begann.

»Hallo?«, wiederholte er.

»Michael?«

Er zögerte einen Moment. »Dahlia?«

Ich starrte über die Straße hinweg auf das Meer und kam mir dumm vor, weil ich ihn angerufen hatte. Natürlich hatte er keinen Job in Hartwell angenommen. Sicher würde er mich jetzt für verrückt halten!

»Gibt es einen Grund für deinen Anruf?« Seine Frage wurde von dem brausenden Wind übertönt, aber ich hatte das Wesentliche verstanden.

»Was machst du gerade?«, stieß ich hervor.

Er lachte laut, als könnte er kaum glauben, dass ich ihn anrief, um beiläufig zu fragen, was er im Augenblick tat. Und das konnte ich ihm nicht übel nehmen. »Ich fange gleich meine Schicht an.«

»Ich dachte, du arbeitest jetzt nachts.« Wieder überfiel mich Misstrauen. »Wo fängst du deine Schicht an?«

Er schwieg eine Weile, und dann hörte ich, nicht durch das Telefon, sondern klar und deutlich hinter mir: »In Hartwell.«

Ich atmete tief aus und blieb einen Moment lang wie erstarrt stehen, zu schockiert, um mich umzudrehen. Doch ich konnte ihn spüren, und da wir immer wie Magneten aufeinander reagierten, fühlte ich mich gezwungen, mich zu bewegen und mich ihm zuzuwenden.

Er sah immer noch so gut aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte.

Nur war er unrasiert, trug sein Haar etwas länger, und er hatte einen wärmeren Mantel an als in Boston. Er trug ihn offen und hatte sich einen schwarzen Schal um den Hals geschlungen. Am Gürtel seiner dunklen Jeans sah ich seine Polizeimarke.

Oh mein Gott.

Unwillkürlich ging ich einen Schritt auf ihn zu. »Michael?«

In seinen Augen zeichneten sich unzählige Gefühle ab. »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. So ein Umzug kostet doch mehr Zeit, als man glaubt.«

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Wovon redest du?«

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Du hast mich noch einmal verlassen, aber dieses Mal lasse ich dich nicht mehr los.«