Angst, Empörung, Verwirrung, Panik.
Alle diese Gefühle stiegen in mir auf, während ich die Main Street in Richtung Promenade entlangstürmte. Michaels Arm stieß gegen meinen, als er sich neben mir meinem Rhythmus anpasste. Es war frustrierend, dass er mit seinen längeren, langsameren Schritten problemlos mit meinen viel hastigeren mithalten konnte.
»Dahlia, sprich mit mir.« Seine Stimme war so ruhig und bestimmt wie seine Schritte.
»Das kann ich nicht. Ich habe Angst, dann loszuschreien.«
»Dann schrei doch.«
Das verkniff ich mir und ging stattdessen noch schneller.
»Meine Güte.« Er fasste mich am Arm und hielt mich vor dem Musikpavillon am Anfang der Straße fest. Inzwischen dämmerte es, und die Leute machten sich auf den Weg zur Arbeit. Wir waren nicht allein, und ich wollte keine Szene machen. »Sprich mit mir.«
Dieser Mann war offensichtlich so fest entschlossen, dass er sogar sein gesamtes Leben umgekrempelt hatte (oh mein Gott, daran wollte ich gar nicht denken!), also war er sicher auch so hartnäckig, dass er mich nicht gehen lassen würde, bis ich mit ihm redete. »Nicht hier.« Ich riss meine Hand los. »Und kein Körperkontakt!«
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen, und ich kniff die Augen zusammen. Hoffentlich hatte ihn das nicht amüsiert. Wenn er diese Situation auch nur im Entferntesten lustig fand, würde ich ihn umbringen.
Ich brummte verärgert, drehte mich um und marschierte zu dem Pfad an der Promenade, der zu meinem Andenkenladen führte. Michael passte sich wieder mühelos meinem Tempo an.
Es war unfassbar, wie lebendig ich mich plötzlich fühlte. Anscheinend war ich die ganze Zeit über schlafgewandelt, denn immer wenn Michael auftauchte, war ich mit einem Mal hellwach. Meine Haut prickelte, mein Herz raste, und unabhängig davon, wie ich im Moment für ihn empfand, lag immer eine gewisse Vorfreude in der Luft.
Verflixt!
Glücklicherweise zitterten meine Hände nicht allzu sehr, als ich die Eingangstür meines Ladens aufsperrte. Ich schaltete das Licht an und schloss die Tür hinter Michael, sobald er über die Schwelle getreten war. Meine Stiefel mit den Keilabsätzen erzeugten nur ein leises, dumpfes Geräusch auf den blau gestrichenen Fußbodenbrettern, aber Michaels Schritte hallten laut durch den Laden. Als sie stoppten, drehte ich mich an der Tür zu meiner Werkstatt um. Er schaute in eine meiner hohen Glasvitrinen, in denen ich auf Ablagekästen aus schwarzem Samt meine Schmuckstücke ausstellte.
Als er sich nach vorne beugte, um besser sehen zu können, hielt ich den Atem an. Eine Weile starrte er auf den Schmuck und hob dann bewundernd den Kopf. »Das hast du gemacht?«
Meine Wangen röteten sich vor Stolz, und ich nickte.
Michaels Blick wurde sanft, und er sah mich entwaffnend an. »Dieser Schmuck ist wunderschön, Dahlia.«
Meine Gefühle schnürten mir die Kehle zu, und ich bedankte mich flüsternd. Sein Verhalten und meine Reaktion darauf brachten mich aus der Fassung, also drehte ich mich um und flüchtete in meine Werkstatt.
Rasch schaltete ich das grelle Oberlicht an – das war nötig, da durch die tiefen Fenster an der hinteren Wand kaum Tageslicht hereinfiel – und streifte meinen Mantel ab. Ich hörte, wie Michael mir folgte, und spürte, wie er an der Tür stehen blieb. Kurz darauf richtete ich unwillkürlich den Blick auf ihn. Mit gespreizten Beinen und locker an den Seiten hängenden Armen stand er da und schaute sich in meiner Werkstatt um.
In der Mitte des Raums standen zwei lange Bänke. Auf der einen waren neben meinem Skizzenblock und meinen Zeichnungen meine letzten Entwürfe ordentlich aufgereiht. Auf der zweiten Bank lagen die Materialien, die ich für das Schmuckstück brauchte, an dem ich im Moment arbeitete. In den Schränken an der Wand am anderen Ende befand sich eine Unmenge an Werkzeugen, die ich im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Daneben standen die Safes, in denen ich Metalle, Edelsteine und Halbedelsteine aufbewahrte.
Und dort, wo ich stand, reichten Regale mit Lagerware vom Boden bis zur Decke. Im hinteren Teil des Raums führte eine Tür zur Toilette und eine weitere in eine kleine Küche.
Michael schlenderte zu der nächstgelegenen Bank und betrachtete meine Werkzeuge. »Was ist das alles?«
Wollte er sich tatsächlich mit mir über meine Arbeit unterhalten?
Ich starrte ihn an.
Er zuckte mit den Schultern. »Hab ein bisschen Nachsicht mit mir. Ich habe keine Ahnung von deinem Arbeitsfeld.«
Das Funkeln in seinen Augen ließ mich vermuten, dass er aus irgendeinem Grund Zeit schinden wollte. Wahrscheinlich dachte er, meine Aufregung würde sich legen, wenn ich ihm meine Werkzeuge zeigte. Ich ging durch den Raum und stellte mich auf die andere Seite der Werkbank.
»Eine Lötlampe«, stieß ich gereizt hervor und tippte darauf.
Michael grinste. »Wofür verwendest du sie?«
Bei seinem Lächeln spürte ich ein Flattern in meinem Bauch. »Zum Weichglühen. Das Metall muss weich werden, damit ich es bearbeiten kann.«
»Und was machst du dann damit?«
»Ich weiß, was du vorhast.«
»Dahlia.« Er deutete auf die Werkzeuge. »Ich bin wirklich daran interessiert. Dein Schmuck ist großartig. Ich möchte wissen, wie du ihn herstellst.«
Ich wand mich innerlich bei diesem Kompliment und starrte auf die Bank. Warum sollte ich ihm nicht nachgeben? Ihn in falscher Sicherheit wiegen. Und ihm dann richtig die Meinung geigen, weil er umgezogen und mir nach Hartwell gefolgt war.
Kochend vor Wut atmete ich langsam aus. Ich wollte nicht, dass er bemerkte, wie sehr er mich aus der Fassung bringen konnte. Doch das war ihm wahrscheinlich ohnehin bewusst.
Mistkerl.
Ich tippte auf den Schieber und den Andrücker. Beide Werkzeuge erinnerten an Türknaufe vor dem Einbau. »Damit setze ich die Steine in die verschiedenen Fassungen wie Zargenfassung, Krappenfassung, Kanalfassung, Perlenfassung und Spannfassung.« Ich hob meine Polierfeile hoch, die beinahe aussah wie ein Chirurgenmesser, nur hatte sie einen Griff aus Emaille. »Das hier ist eine Art Schälmesser. Wenn man einen Stein einsetzt, entsteht manchmal eine Lücke zwischen ihm und dem Metall. Mit dieser Polierfeile kann ich polieren und hobeln, bis sich der Spalt schließt.«
Mit einem Blick überprüfte ich, ob Michael mir Aufmerksamkeit schenkte. Ja, das tat er. Er schaute zwischen dem Werkzeug und meinem Gesicht hin und her und nickte mir zu, um mich zum Weiterreden zu ermutigen. Als sich unsere Blicke trafen, stand ich so nah vor ihm, dass ich das Mahagonibraun in seinen Augen sehen konnte. Aus einiger Entfernung wirkten seine Iris beinahe schwarz. Wenn er wütend war, wurden sie ganz dunkel. Doch unter dem hellen Licht der Lampen in meiner Werkstatt schimmerten sie rotbraun. Ein dunkelbrauner Ring, so dunkel, dass er fast schwarz aussah, umgab die innere mahagonibraune Iris, und kleine braune Sprenkel bildeten einen Kreis um seine Pupillen.
Seine Wimpern waren nicht lang, aber sehr dicht. Erstaunlicherweise hatte er nicht die dunklen Locken von seinem Vater, sondern das dunkelblonde Haar von seiner Mutter geerbt, sonst wäre er mit diesen Augen und der Hautfarbe das Ebenbild seines Dads gewesen. Doch die beiden Männer unterschieden sich nicht nur durch die Haarfarbe. Michael hatte die wärmsten Augen, die ich jemals gesehen hatte.
Sie waren wunderschön.
So wie er.
Mir wurde schon wieder heiß. Ich legte die Polierfeile auf den Tisch und griff nach der Pinzette. »Das ist, wonach es aussieht – eine Pinzette. Um die Steine und das Silbermaterial zu greifen. Ich verwende hauptsächlich Silber.« Ich ging die anderen Werkzeuge durch. »Hier einige Hämmer, um das Silber flach zu klopfen.« Ich berührte eine flache, viereckige Metallplatte und das merkwürdig gebogene Metallteil daneben. »Formstäbe. Damit bringe ich das Metall in die gewünschte Form.« Ich deutete auf das Regal über dem Werkzeugschränkchen, wo ich sie aufbewahrte. »Ich habe sie in allen Formen und Größen.«
»Und das da?« Michael zeigte auf einige zylinderförmige Metallteile. Manche waren rund, andere länglich, und alle besaßen eine unterschiedliche Breite.
»Das sind Dorne für Ringe und Armbänder. Man wählt die gewünschte Weite des Schmuckstücks, an dem man arbeitet, und verwendet den Dorn, um es entsprechend zu bearbeiten.« Ich legte den Dorn, den ich hochgenommen hatte, wieder auf den Tisch und schaute Michael in die Augen. »Damit ist der Unterricht abgeschlossen. Kannst du mir jetzt sagen, warum zum Teufel du hier bist?«
Er trat einen Schritt von der Bank zurück und schlenderte auf eine Weise im Raum hin und her, von der er genau wusste, dass sie mich nervte. »Warum riecht der ganze Raum nach Kokosnuss?«
Ich stieß einen Laut aus, der wie ein Knurren klang.
»Nun?«
»Weil ich manchmal Metall oxidiere, und das riecht nach Schwefel. Deshalb verwende ich Lufterfrischer mit Kokosnussduft«, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Er nickte und ließ die Finger über meine Schränkchen gleiten. »Das ist toll, Dahlia.«
Hör auf, mich weichzuklopfen!
»Michael.« Ich ging auf ihn zu und hoffte, dass er meiner Stimme anhörte, wie ernst es mir war.
Offensichtlich hatte ich Erfolg, denn er wandte sich mit einer bewusst neutralen Miene zu mir um. »Dahlia.«
»Bitte sag mir, dass du deinen Job bei der Polizei in Boston nicht aufgegeben hast, um meinetwegen nach ›Hier passiert nie etwas‹-Hartwell zu kommen.«
»Das kann ich dir leider nicht sagen.«
»Oh mein Gott.« Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar und drehte mich verärgert weg. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Zwischen uns gab es noch genügend Mist aufzuarbeiten, und nun würde er sich noch viel mehr über mich ärgern. »Formell ist das zwar eine Stadt, aber sie ist winzig.« Ich wirbelte mit weit aufgerissenen Augen herum, aufgebracht und verzweifelt, und geriet um seinetwillen beinahe in Panik. »Hier herrscht eine Kleinstadtmentalität, und es passiert nie etwas. Du kannst doch nicht eine Karriere als Detective in Boston für mich aufgeben. Nicht nur, weil es generell eine verrückte Idee ist, sondern weil unsere Beziehung total chaotisch ist!«
Michaels Gesichtszüge wurden hart, und er kam auf mich zu. »Erstens arbeite ich für das Büro des Sheriffs und bin damit nicht nur für Hartwell, sondern für den gesamten Landkreis zuständig. Zweitens: drei Monate. Ich habe drei Monate lang jede Nacht wach gelegen und dabei jeden verdammten Zentimeter von dir vermisst.«
Eine komplizierte Mischung aus Freude und Verzweiflung übermannte mich, und ich atmete tief ein.
»In unserer gemeinsamen Nacht vor drei Monaten war ich nach neun Jahren zum ersten Mal wieder richtig glücklich. Bis du mich wieder verlassen hast.«
»Aber du warst damit einverstanden. Du hast nicht widersprochen, also habe ich angenommen, dass du mir zustimmst. Uns trennen immer noch Schmerz und zu viele Ereignisse in der Vergangenheit.«
»Nein. Ich habe begriffen, dass ich nichts sagen konnte, um dich davon zu überzeugen, dass ich nicht mehr die gleichen Fehler machen würde wie vor all den Jahren – ich musste etwas tun, um es dir zu beweisen.«
Kopfschüttelnd wich ich zurück. »Du kannst doch nicht alles aufgeben. Das ist verrückt.«
»Was gebe ich denn auf? Das Leben in Boston war für mich schon lange vor deiner Rückkehr ermüdend, Dahlia. Nach den Nachtschichten bin ich in meine leere Wohnung zurückgekehrt, und seit der Pensionierung meines Dads habe ich meine Mom kaum noch gesehen. Ich habe die meisten meiner Freunde verloren, weil viele von ihnen inzwischen auf der falschen Seite des Gesetzes stehen und mich für einen Verräter halten. Meine engsten Freunde sind deine Verwandten. Und ich bin nur so eng mit ihnen befreundet, weil sie zu deiner Familie gehören.
Nach deiner Abreise habe ich mich mit dem hiesigen Büro des Sheriffs in Verbindung gesetzt und mit Jeff King gesprochen. Wie es das Schicksal so wollte, war er auf der Suche nach einem Detective mit Erfahrung.« Glücklicherweise blieb er in einer Entfernung von mir stehen, die mir noch Raum zum Atmen ließ. »Hierherzuziehen bedeutet keinen Verzicht für mich. Zum ersten Mal gebe ich nichts auf, was von Bedeutung ist.«
Nein, nein, nein. Er hier – das war … Nein!
Michael würde mich jeden Tag mit seiner bloßen Gegenwart in Versuchung bringen. Wie sollte ich gegen meine Gefühle für ihn ankämpfen, wenn er ständig in meiner Nähe war? Und ich musste meine Emotionen unterdrücken. Unbedingt.
»Sag mir, dass du mich liebst«, forderte er.
Ich hob ruckartig den Blick und schaute ihm in die Augen. Sie spiegelten Liebe und Begehren wider – und alles andere, was ich mir jemals von ihm gewünscht hatte. Als ich noch jünger war. Bevor alles den Bach hinuntergegangen war. Mir stiegen Tränen in die Augen, weil ich diese Worte nicht aussprechen konnte. Sie würden alles verändern.
An seinem Kinn zuckte ein Muskel. »Also gut«, stieß er hervor. »Ich werde gehen. Wenn du mir sagst, dass du mich nicht liebst.« Ich war entsetzt.
Nein.
Ich versuchte, die Worte herbeizuzwingen. Sie über die Lippen zu bringen. Doch obwohl ich wusste, was auf dem Spiel stand, brachte ich es nicht fertig, sie laut auszusprechen. Diese Worte rieben wie Sandpapier in meinem Hals.
Was auch immer Michael beobachtete, führte dazu, dass der zornige Ausdruck in seinen Augen verschwand. Enttäuschung wurde durch Verwirrung und Zuneigung verdrängt, und ich erstarrte, als er sich mir weiter näherte. Ich rührte mich nicht und hielt den Atem an, und als Michael den Kopf über mein Gesicht beugte, spürte ich Schmetterlinge im Bauch. Seine Körperwärme und sein würziges Rasierwasser hüllten mich ein, und ich senkte die Lider, um seiner Wirkung zu entfliehen.
Beim Klang seiner Stimme stellten sich mir die Nackenhärchen auf. »Und deshalb bleibe ich«, flüsterte er mir ins Ohr.
Vor Verlangen überlief mich ein Schauer. Als er sich von mir löste, öffnete ich reflexartig die Augen, um ihn anzuschauen. Ich wollte mir keine seiner Bewegungen entgehen lassen. Er schenkte mir ein sanftes, wissendes Lächeln und wich ein Stück zurück. »Ich muss zur Arbeit. An meinem ersten Tag sollte ich nicht zu spät kommen.«
Und schon war er verschwunden.
Ich lauschte dem Klang seiner Schritte auf meinem Holzfußboden, dem Klingen der Glocke über meiner Tür und dem Klicken des Schlosses, das leise einrastete.
Verdammter Mist.
Heilige Scheiße, ich steckte in großen Schwierigkeiten.
Ich griff nach meiner Handtasche, kramte mein Handy hervor und wählte Baileys Nummer.
»Was gibt’s?«, meldete sie sich nach ein paar Klingeltönen.
»Michael ist hier«, erklärte ich atemlos. »Er hat hier einen Job angenommen. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt … Verdammt!«
»Ich bin gleich da.« Sie legte auf.
Als ich wenige Minuten später hörte, wie die Ladentür aufgestoßen wurde, atmete ich immer noch flach und stoßweise.
Und dann stand Bailey an der Türschwelle und schaute mich besorgt aus ihren großen grünen Augen an.
»Verdammt«, flüsterte ich.