Kapitel siebenundzwanzig

MICHAEL

Seit seiner Ankunft in Hartwell vor einem Monat hatte Michael viel über die Familie Devlin erfahren. Er wusste, dass Ian Devlin mit seiner Frau Rosalie, die ein Einsiedlerdasein führte, und seinem jüngsten Sohn Jamie in den Glades wohnte, einer kleinen Siedlung von vornehmen Häusern im Norden von Hartwell. Trotz der hohen Immobilienpreise dort war es nicht die teuerste Gegend der Stadt. Ging man von der Promenade aus ein Stück weiter die Küste entlang, entdeckte man einige Häuser im Wert mehrerer Millionen. Eine von diesen begehrten Strandvillen mit Meeresblick gehörte Vaughn Tremaine. Michael hatte genügend Informationen gesammelt und wusste, wie sehr es Devlin wurmte, keines dieser Häuser zu besitzen.

Rebecca Devlin, die einzige Tochter, war zum Studieren nach England gegangen und nicht mehr zurückgekehrt.

Kerr Devlin, der zweitälteste Sohn, wohnte in einer Penthouse-Suite im Hartwell Grand, einem der Hotels, die der Familie gehörten.

Und sein zweitjüngster Sohn Jack besaß ein nettes, aber durchschnittliches Haus in South Hartwell.

Stu, der Älteste, bewohnte ein wunderschönes großes Haus am Johnson Creek. Das Flüsschen mündete an der Südküste in die Hartwell Bay. Wenn man keines der wenigen Prachtbauten am Meer besaß und sich auch keine der Villen in den Glades leisten konnte, kaufte man sich ein Haus am Johnson Creek. Stu Devlins Heim war mehr, als er brauchte. Es lag an einer Biegung des Flusses, hatte einen privaten Steg und befand sich so weit weg von den Nachbarn, dass man eine Pistole abfeuern konnte, ohne von irgendjemandem gehört zu werden.

Das führte dazu, dass zuerst niemand Stu Devlins Tod bemerkte. Erst die verheiratete Frau, mit der er ein Verhältnis hatte, entdeckte seine Leiche.

Michael stand in Stus glänzend weißer Küche und beobachtete, wie Stu, nun in einem Leichensack, auf eine Bahre gelegt wurde. Auf dem Küchenfenster, das zum Fluss hinausführte, befanden sich Blutspritzer. Und an der Stelle auf dem Fußboden, wo Stu gestorben war, war ebenfalls Blut zu sehen.

Der Gerichtsmediziner würde ihnen nach der Untersuchung mehr sagen können, aber sie konnten bereits sehen, dass die beiden Einschusslöcher am Brustbein so nahe nebeneinanderlagen, dass sie beinahe eine einzige Wunde bildeten.

So wurden Polizisten beim Schießen geschult.

Im Revier war ein anonymer Anruf eingegangen. Angeblich handelte Freddie Jackson mit Kokain. Seit Stunden hatte ihn niemand mehr gesehen. Und sein Wagen war verlassen etwa drei Kilometer entfernt am Straßenrand gefunden worden.

»Wir haben einen dringenden Durchsuchungsbeschluss erwirkt«, erklärte Jeff und betrat die Küche. »Wendy hat soeben Bescheid gegeben. Sie haben vier Beutel mit Kokain und zehntausend Dollar in Hundertdollarscheinen in Jacksons Apartment gefunden.«

»Verdammt«, stieß Michael hervor. Zorn und ein Gefühl der Hilflosigkeit stiegen in ihm auf.

Nach dem, was er gehört hatte, war Stu ein Mistkerl gewesen, der hinter Gitter gehört hätte, aber diesen Tod hatte er nicht verdient.

»Zwölf Jahre«, murmelte Michael.

»Was?« Jeff runzelte die Stirn.

»Der letzte Mord in Hartwell liegt zwölf Jahre zurück.« Michael hatte rasch recherchiert, bevor er hierhergekommen war. Im Landkreis hatte es zwar einige Mordfälle gegeben, aber Hartwell war seit Jahren davon verschont geblieben. Wahrscheinlich, weil das Büro des Sheriffs hier lag und es mehr Deputys gab, die wegen der vielen Touristen das ganze Jahr über regelmäßig auf den Straßen patrouillierten. Es hatte einige Gewaltverbrechen wie Körperverletzungen und sexuelle Übergriffe gegeben, von denen die meisten von Besuchern begangen worden waren.

Einen Mordfall hatte es in Hartwell in den vergangenen zwölf Jahren jedoch nicht gegeben. Erst wieder nach Michaels Ankunft.

»Wir wollten ihm nur ein wenig Angst einjagen, Jeff.« Er fuhr sich aufgewühlt mit einer Hand über den Nacken. »Das hätte nicht passieren dürfen. Ich habe in all den Jahren schon viel Schlimmes gesehen, aber ich habe noch nie etwas mitverursacht.«

Jeff sah ihn streng an. »Nein, so darfst du das nicht sehen. Wenn du dir Schuld daran gibst, dann betrifft mich das ebenso, und ich weigere mich, Verantwortung für Freddie Jacksons Tat zu übernehmen. Wir haben lediglich unterschätzt, wie durchgeknallt dieser Typ ist. Ich nehme an, er ist hierhergekommen, um sich rückzuversichern, doch dann erzählte ihm Stu, dass die Polizei sein Haus nach Kokain durchsuchen werde.«

Ein abgekartetes Spiel. Das ergab Sinn. Michael nickte und atmete langsam aus. »Er wurde nervös und damit zu einer Belastung für sie. Sie wollten ihn loswerden.«

»Im Moment ist das nur reine Spekulation, aber so sehe ich das«, erwiderte Jeff.

»Ich muss diesen Mistkerl so schnell wie möglich finden. Ein Mann, der so verzweifelt ist … Wer weiß, was er als Nächstes tut.«

»Zuerst müssen wir zu den Devlins und ihnen die schlechte Nachricht überbringen.« Jeff schüttelte den Kopf. »Verdammt, ich muss dem Mann sagen, dass sein Sohn tot ist, und ihn dann bitten, uns zur Befragung ins Revier zu begleiten.«

Sie hatten noch eine lange Nacht vor sich. Michael folgte Jeff aus dem Haus. »Ist das dein erster Mordfall?«, fragte er.

»Der erste, bei dem ich das Opfer persönlich kannte.« Jeff warf einen Blick zurück auf Stu Devlins beeindruckendes Heim. »Es sieht so aus, als hätte dieses Mal ein Devlin versucht, den Falschen übers Ohr zu hauen.«

Das mochte sein, aber trotzdem war Stu das Opfer. Michael würde nicht lockerlassen, bis er genügend Beweise gegen Jackson in der Hand hatte. Er würde ihn kriegen. Das war so sicher wie die Tatsache, dass Ian und Rosalie nun ihren Sohn begraben mussten.