Mord.
Ich musste ständig daran denken.
Ein Mord hatte unser beschauliches Städtchen am Meer erschüttert.
Niemand hatte Stu Devlin gemocht. Ich hatte ihn verabscheut, weil er Bailey angegriffen hatte und dafür nicht bestraft worden war. Aber er hatte eine Gefängnisstrafe verdient, nicht zwei Kugeln in der Brust.
Ich arbeitete an einer Silberschale für Old Archie, die er seiner Freundin Anita schenken wollte, und sehnte mich nach lauter Musik. Sie würde mich von meinen morbiden Gedanken ablenken. Stattdessen versuchte ich, meine ganze Konzentration auf die Schale zu lenken. Old Archie war Stammgast im Cooper’s gewesen, solange ich mich erinnern konnte. Doch vor zwei Jahren war bei seiner Freundin Anita ein Tumor an der Wirbelsäule diagnostiziert worden. Für sie hatte er aufgehört zu trinken, um ihr in den letzten Monaten ihres Lebens beizustehen.
Wir waren alle überrascht und glücklich, als Anita sich auf wundersame Weise erholte. Sie würde zwar den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen, aber sie hatte die Krankheit besiegt. Vor einer Weile hatte Archie beobachtet, wie Anita eine meiner Silberschalen bewunderte, und da sie schon bald ihren Jahrestag feierten, gab er eine solche bei mir in Auftrag.
Ich wünschte, ich könnte endlich aufhören, an Stu Devlin und den verschwundenen Freddie Jackson zu denken, aber es gelang mir nicht.
Michael hatte mich angerufen und mir von dem Mord berichtet – er wusste, dass sich die Nachricht ohnehin in Windeseile in der Stadt verbreiten würde. Er war kurz angebunden gewesen, und ich machte mir Sorgen um ihn. In den nächsten Tagen bildeten die Leute überall kleine Grüppchen und unterhielten sich flüsternd, wenn sie einen der Devlins auf der Straße sahen. Und Michael war auf der Jagd nach Freddie Jackson.
Zwei Tage nach dem Mord hatte ich in meiner Werkstatt gearbeitet, als Michael vorbeigekommen war. Wie immer hatte ich dabei laute Musik gehört, und Michael war zum ersten Mal seit unserer Abreise aus Boston richtig wütend auf mich gewesen.
»Ein mutmaßlicher Mörder läuft frei herum, und du lässt deine Ladentür offen und hörst laute Rockmusik. Ist das nicht ein bisschen leichtsinnig von dir?«, schrie er mich an.
Ich hatte mich ziemlich beherrschen müssen, keinen Streit anzufangen, doch Michael sah aus, als hätte er schon seit Tagen nicht mehr geschlafen. Und er hatte mich nur angeschrien, weil er besorgt um mich war. Also hielt ich mich zurück und versprach ihm, ich würde während der Arbeit keine laute Musik mehr hören, bis Jackson gefunden war.
Als Dankeschön bekam ich einen raschen Kuss auf die Stirn, und Michael eröffnete mir, dass er nicht oft in der Nähe sein würde, bis er Freddie geschnappt hatte.
Obwohl ich dafür Verständnis hatte, machte ich mir Sorgen. Schon als junger Polizist hatte Michael sich immer sehr viel auf die Schultern geladen. Das ganze Team vom Büro des Sheriffs suchte nun nach Freddie, aber ich wusste, dass Michael sich für seine Festnahme verantwortlich fühlte.
Inzwischen waren seit Stus Ermordung sieben Tage vergangen. Vaughn folgte Bailey auf Schritt und Tritt. Cooper ließ Jess, seine Schwester Cat und seinen Neffen Joey nicht mehr aus den Augen. Zwar nahm niemand an, dass Freddie gezielt hinter einem von uns her war, aber der Mord hatte uns alle in Panik versetzt. Gerüchte über Freddies Beziehung zu den Devlins machten die Runde, und wir diskutierten im Cooper’s darüber. Unsere bevorzugte Theorie lautete, dass Freddie etliche illegale Geschäfte für Stu, den er für seinen besten Freund hielt, abgewickelt hatte. Michaels Anwesenheit hatte ihn verunsichert, also wollte er sich bei Stu Hilfe holen. Möglicherweise hatte ihm dann Stu, der hinterhältige Mistkerl, klargemacht, dass die Devlins ihn sofort fallen lassen würden, falls irgendetwas über seine kriminellen Machenschaften herauskäme.
Aber warum hatte er Stu getötet? Irgendwie ergab das keinen Sinn.
Ich zuckte erschrocken zusammen, als mein Klingelton – ein Lied von Led Zeppelin – durch den Raum schallte.
Verdammt.
Meine Nerven lagen blank.
Ich legte meine Werkzeuge auf den Tisch, rutschte von meinem Hocker und ging zu dem Schränkchen hinüber, auf dem mein Handy lag. Es war mein Dad.
»Hey«, meldete ich mich. Seit sich die Nachricht über Stus Ermordung verbreitet hatte, rief er mich jeden Tag an. »Alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut, Bluebell. Ich habe mich gefragt, ob du … ähm … in letzter Zeit mit Mike gesprochen hast.«
Ich runzelte die Stirn. »Nein. Er ist mit der Suche nach Freddie beschäftigt.«
»Na ja, ich … Schau, ich weiß, dass euer Verhältnis schwierig ist, aber ich habe soeben mit ihm telefoniert, und er hörte sich nicht gut an.«
Das überraschte mich, und ich brauchte einen Moment Zeit, um diesen Satz zu verdauen. »Du hast mit Michael gesprochen?«
»Ja.«
»Wie oft habt ihr Kontakt?«
»Dahlia.« Er seufzte. »Wir sprechen nicht über dich. Zumindest nicht oft. Und wenn doch, dann geht es nicht darum, was zwischen euch beiden abläuft. Ich bin nur … Er hat keinen guten Draht zu seinem Vater, also bin ich für ihn da, wenn er sich aussprechen möchte.«
Mir schnürte sich vor Rührung die Kehle zusammen. Gott, ich liebte meinen Vater. »Ich bin froh, dass er dich hat.«
»Ja, aber ich glaube, im Augenblick braucht er jemand, der näher bei ihm ist.«
»Was ist los?«, fragte ich besorgt.
»Er ist frustriert und erschöpft. Vielleicht solltest du nach ihm sehen.«
Ich kaute auf meiner Unterlippe und starrte auf die Zeichnung vor mir, die Levi mir geschickt hatte. Ich hatte sie eingerahmt und in meiner Werkstatt an die Wand gehängt. Er hatte mich in einem Superheldenkostüm gezeichnet. Wie Darragh mir sagte, war Levi seit einiger Zeit begeistert von Comics.
Falls Michael wirklich jemanden zum Reden brauchte und ich das ignorierte, was für eine Superheldin gab ich dann ab? »Eine ziemlich beschissene«, murmelte ich.
»Was?«
Blinzelnd riss ich mich rasch aus meinen Gedanken. »Nichts. Tut mir leid, Dad. Natürlich werde ich nach Michael schauen.«
»Gut. Und nun zu dir. Wie geht es dir?«
»Wir sind hier alle ein wenig angespannt. Niemand von uns hat damit gerechnet, dass es bei den Devlins tatsächlich einmal zu einem Mord kommen würde.«
»Es kam landesweit in den Nachrichten«, erwiderte Dad. »Der Mord am Sohn einer reichen Familie in einer beliebten Touristenstadt wie Hartwell ist offensichtlich berichtenswert.«
»Und das setzt Michael und Jeff noch mehr unter Druck.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war sechs und ohnehin Zeit, den Laden zu schließen. »Wo war Michael, als du mit ihm telefoniert hast?«
»Ich nehme an im Polizeirevier.«
»Alles klar, dann mache ich mich jetzt auf den Weg dorthin. Danke, dass du mich angerufen und mir Bescheid gegeben hast.«
»Kein Problem, Bluebell. Ich melde mich später noch mal.«
Wir verabschiedeten uns, und ich räumte rasch mein Werkzeug auf und sperrte den Laden ab. Anfang März waren die Tage immer noch kurz. Als ich zu meinem alten Mini lief, war die Sonne bereits untergegangen. Die Fahrt zum Rathaus war nur kurz, und bei der Aussicht, Michael gleich wiederzusehen, beschleunigte sich mein Herzschlag.
Würde dieses Gefühl jemals aufhören?
Ich parkte neben dem Gebäude und ging durch den Seiteneingang, durch den man zum Büro des Sheriffs gelangte. Der Empfang war nicht besetzt, also stieg ich die Treppe zu dem Großraumbüro hinauf. Jeff stand neben dem Wasserspender und unterhielt sich mit Wendy. Beide schauten zu mir herüber. Jeff kam auf mich zu und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Alles in Ordnung, Dahlia?«
Ich nickte und ließ den Blick über das voll besetzte Büro schweifen. »Zurzeit machen offensichtlich alle Überstunden.«
»Wir jagen einen Mörder, und Ian Devlin und seine verdammte Pressemeute sitzen uns ständig im Nacken. Das geht mir ziemlich auf den Sack.« Er zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid.«
»Schon gut. Ihr macht das großartig.«
Er musterte mich aufmerksam. »Du bist wegen Mike hier.«
Jemand hätte mich davor warnen sollen, dass es sehr peinlich ist, wenn man mit einem Exfreund über einen … nun ja, einen anderen Exfreund redet. »Ich wollte nach ihm sehen.«
»Ich habe ihn nach Hause geschickt«, erklärte Jeff. »Er war darüber nicht sehr glücklich, aber solange er so müde ist, kann er mir nicht viel helfen.«
»Oh.« Ich war mir nicht sicher, ob ich zu Michaels Apartment fahren sollte. Vor allem, wenn er vollkommen erschöpft war, sollte ich das lieber lassen.
»Ich sage das wirklich ungern …« Jeff presste seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Du solltest zu ihm gehen. Meiner Ansicht nach nimmt er die Sache viel zu persönlich.«
Ich nickte und biss mir besorgt auf die Unterlippe. »Ist es sicher, dass Freddie Stu erschossen hat?«
Jeff schaute mich wortlos an.
Ich verzog das Gesicht. »Schon gut. Ich bin eine Zivilperson, also darfst du mir darüber keine Auskunft geben.«
»Weißt du, wo Mike wohnt?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich zu ihm fahren will.«
»Wir wissen beide, dass du es tun wirst.« Er gab mir Michaels genaue Adresse.
»Danke, Jeff.«
Er nickte, trat einen Schritt vor und beugte sich zu mir herunter. »Er ist ein guter Mann, Dahlia. Es tut mir leid, dass ich nicht der Richtige für dich war – mehr, als ich dir sagen kann –, aber wenn es schon ein anderer sein muss, dann bin ich froh, wenn es sich um Mike handelt. Das hast du verdient.«
Zu viele Gefühle stürmten auf mich ein. Ich wollte keinen Segen von Jeff. Nicht von ihm und auch nicht von irgendeinem anderen Menschen. Ich wollte nur nach Michael sehen, mich vergewissern, dass er in Ordnung war, und mich dann feige wieder in meinen Schlupfwinkel verkriechen.
In dem Karton in meiner Hand befanden sich Falafel-Wraps mit Hummus, Salat und würziger Sauce. Ich hatte keine Ahnung, ob Michael Falafel mochte, aber in dem Feinkostladen gegenüber dem Mietshaus, in dem er wohnte, wurden sie angeboten, und sie dufteten wirklich lecker.
Wenn er müde war, war er vielleicht auch hungrig.
Ich atmete tief durch und starrte auf die saubere, weiß gestrichene Wohnungstür. »Du schaffst das«, flüsterte ich, um mir selbst Mut zu machen. »Freunde kümmern sich umeinander.« Bevor ich es mir anders überlegen konnte, klopfte ich an die Tür.
Wenige Sekunden später hörte ich, wie sich seine Schritte näherten. Dann das Klirren der Kette und das Klicken des Schlosses. Er öffnete die Tür in einem schwarzen T-Shirt und einer Jeans ohne Gürtel, und er trug weder Schuhe noch Socken. Oh, und in einer Hand hielt er eine Waffe.
»Hast du jemand anderen erwartet?« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf die Pistole.
Ich konnte Waffen nicht ausstehen.
Mein Dad hatte eine im Haus, Dermot und Michael trugen sie aus dienstlichen Gründen bei sich, also war ich daran gewöhnt.
Doch ich mochte sie nicht.
Als er mich blinzelnd musterte, bemerkte ich die tiefen Ringe unter seinen Augen. Seine normalerweise dunklere Haut war blass. »Was tust du hier?«
»Ich bringe dir etwas zu essen.« Ich ging an ihm vorbei und schaute mich in dem modernen, gepflegten Apartment um. Es war offen geschnitten und hatte eine Fenstertür, die auf einen ebenerdigen Balkon hinausführte. In der hellen Küche standen graue glänzende Küchenschränke und eine Kücheninsel an der hinteren Wand. In der Mitte des Raums befanden sich ein schwarzes Ledersofa, ein Sessel, ein Kaffeetisch aus Glas, ein dazu passender TV-Schrank und ein riesiger Flatscreen-Fernseher. Zu meiner Linken sah ich einen schmalen Gang, der, wie ich vermutete, zum Schlafzimmer und zum Bad führte.
Wie in seiner Wohnung in Boston fehlte auch hier eine feminine Note.
Als die Wohnungstür krachend ins Schloss fiel, wirbelte ich herum. »Falafel!« Ich streckte ihm den Karton mit dem mitgebrachten Essen entgegen.
»Ich habe schon gegessen«, erwiderte er ungehalten, marschierte rasch in die Küche und legte seine Waffe auf die Arbeitsplatte.
»Ich war im Revier, und Jeff hat mir gesagt, ich würde dich hier finden.« Ich war nervös und peinlich berührt. Seufzend stellte ich den Karton auf dem Kaffeetisch ab und verschränkte die Hände ineinander.
Michael ließ den Blick über mich gleiten und schaute mir dann in die Augen. »Das erklärt nicht, warum du hier bist.«
»Ich wollte wissen, ob es dir gut geht.«
»Nun, wie du siehst, ist alles in Ordnung.«
Ich wurde rot – auf eine so schroffe Antwort war ich nicht gefasst gewesen. »Soll ich wieder gehen?«
Michael fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Nein«, brachte er stöhnend hervor.
Das Bedürfnis, ihn zu bestärken und zu trösten, war stärker als meine Unsicherheit. Ich ging einen Schritt auf ihn zu. »Das ist nicht deine Schuld, Michael. Freddie ist nicht deine Schuld. Er war schon immer ein angsteinflößender Mistkerl und schon immer fähig dazu, einen Menschen zu töten – in diesem Fall war es Stu.«
Michael nickte und musterte mein Gesicht mit seinen dunklen Augen. Eine Weile standen wir uns schweigend gegenüber. Als er schließlich zu sprechen begann, sagte er etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. »Wenn ich früher nach Hause kam, hatte ich oft schlimme Sachen erlebt, aber Kiersten wollte nichts davon hören.« Die Vorstellung, dass er jeden Tag zu seiner Frau nach Hause gegangen war, versetzte mir, wie immer, einen Stich, aber das wollte ich mir nicht anmerken lassen. »Ich wollte sie nicht mit Einzelheiten belasten – das konnte ich ihr nicht antun –, aber ich wollte mit ihr reden. Alles irgendwie loswerden, verstehst du? Ein paarmal habe ich es versucht. Ich bin zu ihr unter die Bettdecke geschlüpft, aber sie hat mich weggestoßen. Dann bin ich liegen geblieben, habe an die Decke gestarrt und an dich gedacht.«
Die Spannung zwischen uns war beinahe greifbar. Sein Geständnis traf mich wie ein heftiger Schlag gegen die Brust. »Dabei habe ich mich an die vielen Male erinnert, an denen wir in meinem Auto saßen und über alles geredet haben. Ich habe dir von meinem Arbeitstag erzählt, die guten und die schlechten Sachen berichtet, und du hast mir zugehört. Wirklich zugehört. Und dann hast du deine Arme um meinen Nacken gelegt und mir die schlechten Erinnerungen weggeküsst.« Er verzog gequält das Gesicht. »In diesen Nächten war ich besonders wütend auf dich. Ich lag neben meiner Frau und wünschte, dass du an ihrer Stelle wärst und mir die schlimmen Gedanken mit einem Kuss erleichtern würdest.«
Mir traten Tränen in die Augen. Ich wünschte, ich hätte bei ihm sein können. So sehr, dass ich es kaum ertragen konnte.
Michael ging zögernd einen Schritt auf mich zu. »Wenn ich dich nun bitten würde, dich mit mir hinzulegen … Ich würde auch nicht zu viel hineininterpretieren. Was meinst du?«
Ohne zu zögern, streckte ich den Arm aus und griff nach seiner Hand. Sie fühlte sich warm und kräftig an, und seine schwieligen Fingerspitzen berührten zärtlich meine weiche Handfläche. Ohne ein weiteres Wort ließ ich mich von ihm in sein Schlafzimmer führen, und einen wunderbaren Moment lang waren all meine Ängste und Sorgen verschwunden, und ich konnte tun, was jetzt am nötigsten war.
Ich würde mich um Michael kümmern.