Ich bebte vor Wut, als ich den Fernseher abstellte. Ian Devlin hatte in den Nachrichten aufgebracht erklärt, dass seiner Meinung nach das Büro des Sheriffs und ein bestimmter Detective bei der Suche nach dem Verbrecher, der seinen Sohn ermordet hatte, komplett versagt hätten. Darüber hinaus versuchten sie auch noch, die Korruption im Büro des Sheriffs ihm anzulasten.
Mistkerl.
Und das war landesweit gesendet worden.
Ich machte mir große Sorgen um Michael. Seit ich an diesem Morgen sein Haus verlassen hatte, ohne seine Bitte zu erfüllen, ihm ein Liebesgeständnis zu machen, musste ich ständig an seinen Gesichtsausdruck denken.
Ausnahmsweise hatte ich nicht alles in mich hineingefressen, sondern war zu Bailey gegangen. Sie wohnte nicht länger in ihrer Pension, sondern war zu Vaughn in sein mehrere Millionen teures Strandhaus gezogen.
Vaughn hatte mir die Tür im Schlafanzug geöffnet. Der ungehaltene Ausdruck auf seinem Gesicht war sofort verschwunden, als er mich, zerzaust und verweint, an der Türschwelle gesehen hatte. Kaum hatte er mich ins Haus geführt, war Bailey im Morgenmantel die Treppe heruntergekommen. Vaughn hatte uns Tee gemacht und sich dann diskret in das obere Stockwerk zurückgezogen, damit ich meiner Freundin mein Herz ausschütten konnte.
Danach schlief ich auf dem Sofa ein.
Als ich wieder aufwachte, hielt Bailey mir eine Tasse Kaffee vor die Nase. Sie sagte mir, Vaughn sei ins Hotel gefahren, dabei wusste ich, dass er und Bailey normalerweise die Sonntage gemeinsam verbrachten. Bailey schaltete die Nachrichten ein, und ich begann wieder, vor Wut auf Ian Devlin zu kochen, während ich an einer Scheibe Toast knabberte.
»Ich habe unsere Freundinnen angerufen. Sie sind auf dem Weg hierher.«
Ich sah sie gereizt an. »Warum?«
»Weil ich mich überfordert fühle.« Ihre Miene war angespannt. »Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, um dich davon zu überzeugen, dass du dieses ›spirituelle Versprechen‹, das du deiner Schwester gegeben hast, endlich vergisst. Ein besserer Ausdruck fällt mir dafür nicht ein. Doch ich glaube, dass Jessica dir vielleicht helfen kann.«
»Warum hast du dann nicht nur sie angerufen?« Meine tiefsten Ängste machten mich ungehalten und verletzlich.
Bailey wirkte nachdenklich. »Weil du recht hast, was Emery betrifft. Irgendetwas stimmt bei ihr nicht, und ich hoffe, dass sie uns vielleicht eines Tages mehr darüber erzählt, wenn du und Jess ihr mit euren Geschichten euer Vertrauen geschenkt habt.«
»Zwei Fliegen mit einer Klappe«, murmelte ich.
»Hätte ich eine schlimme, düstere Vergangenheit, würde ich keinen Moment zögern, ihr davon zu erzählen, um ihr damit weiterzuhelfen. Glücklicherweise habe ich bisher ein relativ problemloses Leben geführt.«
Ich warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Dein Freund, mit dem du zehn Jahre zusammen warst, hat dich betrogen. Stu Devlin hat dich angegriffen, und deine Schwester hat versucht, deine Pension gegen deinen Willen zu verkaufen.«
Bailey winkte ab. »Das ist Kinderkram gegen das, was du und Jess durchgemacht habt.«
Trotz meines Widerwillens, Emery und Jess alles über mich zu erzählen, war ich zugegebenermaßen neugierig auf Jess’ Vergangenheit.
Während wir auf unsere Freundinnen warteten, machte ich mich frisch und borgte mir von Bailey eine Yogahose und ein T-Shirt. Die Hose war ein bisschen zu lang, und das T-Shirt spannte über der Brust, aber das musste genügen. Ich fühlte mich ein wenig besser und ging nach unten. Emery und Jessica waren in der Zwischenzeit eingetroffen.
Sie sahen mich aus großen Augen neugierig und besorgt an.
»Dann bringen wir das jetzt hinter uns.« Ich ließ mich gespielt lässig auf einen Sessel fallen. »Na kommt schon.« Ich deutete auf die riesige L-förmige Couch.
Als sich alle gesetzt hatten, kämpfte ich gegen meine Ängste und meine Nervosität an und rief mir ins Gedächtnis, dass ich Jess und Emery vertrauen konnte. Bailey war auch dieser Ansicht.
Nachdem ich mich Michael gegenüber geöffnet hatte, wollte ich unbedingt mit jemandem sprechen, der verstehen würde, warum ich in Dillons Schuld stand. Michael hatte es nicht begriffen. Ganz und gar nicht. Bailey hatte sich noch nicht mit vielen Worten dazu geäußert, aber ich befürchtete, dass sie es ebenfalls nicht verstand.
Also erzählte ich Jess und Emery die ganze Geschichte. Ich begann mit meiner ersten Begegnung mit Michael, bei der ich mich in ihn verliebt hatte, obwohl ich mit seinem besten Freund zusammen war, schilderte, wie Dillon ins Spiel kam, unseren Verrat, ihren Unfall, ihren Tod, erzählte von meiner Mutter, davon, dass ich zu viel getrunken hatte, wie Bailey mich gerettet hatte … einfach alles. Glücklicherweise gelang mir das, ohne dabei in Tränen auszubrechen. Wahrscheinlich hatte ich bereits alle bei meinem Treffen mit Michael vergossen.
Ich berichtete ihnen auch von letzter Nacht. Von meinem Geständnis. Und von meiner Buße.
Von draußen hörte man das Kreischen der Möwen über dem Meer und das Geräusch der Wellen, die sanft gegen die Poller vor der Wohnzimmerterrasse rauschten. Meine Freundinnen schwiegen.
Emery brachte kein Wort hervor, weil sie weinte.
Sie war eine so liebe Frau. Unfassbar mitfühlend. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte ich das Gefühl, dass ich sie jetzt trösten müsste.
Doch dann hielt mich Jess’ Gesichtsausdruck gefangen. Sie sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen.
»Jess?«, fragte ich besorgt.
Sie wandte sich an Bailey, und in ihren blauen Augen zeigte sich Verständnis. »Deshalb wolltest du mich hierhaben.«
Bailey nickte. »Ich brauche jemanden, der zu ihr durchdringt, und ich glaube, dass nur du das kannst.«
Warum?
Warum Jessica?
Jess straffte die Schultern, als wollte sie sich für einen Kampf rüsten. »Wenn du damit einverstanden bist, möchte ich dir jetzt meine Geschichte erzählen.«
Ich nickte. Ein merkwürdiges Gefühl der Angst durchfuhr mich, und ich konnte mir nicht erklären, woher das kam.
Schon bald sollte ich es verstehen.
»Ich hatte auch eine kleine Schwester«, sagte sie traurig lächelnd. »Sie war Balletttänzerin. Ihr Name war Julia.«
Ich warf einen Blick zu Emery hinüber und bemerkte, dass das neu für sie war.
»Sie war elf Jahre alt«, fuhr Jess fort. »Ich war vierzehn. Unsere Eltern waren sehr gesellig und stellten häufig ihre eigenen Bedürfnisse über unsere. Sie haben uns oft allein gelassen und es mir überlassen, mich um Julia zu kümmern. Meine Tante Theresa hat sie betreut, wenn ich es nicht tun konnte, aber nicht selten musste ich den Babysitter spielen. Mit vierzehn wollte ich natürlich ausgehen und mich mit meinen Freundinnen treffen.« Sie verzog das Gesicht, schaute auf ihre Hände und presste nervös die Fingerspitzen aneinander. »Ein paar Jahre vor dem Sommer, in dem ich vierzehn wurde, zog Tony, der kleine Bruder meines Vaters, wieder zurück nach Hause. Er zeigte großes Interesse an uns, und ich war dankbar dafür.« Jess stieß ein lautes, verächtliches Schnauben aus. »Während ich mit meinen Freundinnen unterwegs war, passte er auf Julia auf.«
Als sie mich anschaute, schüttelte ich den Kopf. Ein Teil von mir wollte nicht hören, was nun kommen würde. Ich sah das Entsetzen, das sich immer noch in ihren Augen spiegelte. »An einem Nachmittag kam ich früher als sonst nach Hause und konnte die beiden nicht finden. Dann hörte ich Laute aus dem Keller.«
Emery stöhnte leise auf, und Jess griff nach ihrer Hand, ohne den Blick von mir abzuwenden.
»Er … Er hat sie vergewaltigt.«
Übelkeit stieg in mir auf, und ich schlug eine Hand vor den Mund, um den Schrei in meiner Kehle zu ersticken. Das arme kleine Mädchen. Oh mein Gott. Was Jess gesehen hatte, konnte ich mir nicht einmal vorstellen. Hätte jemand Dillon so etwas angetan, hätte ich ihn umgebracht.
»Ich stürzte mich auf ihn«, erzählte sie. »Unbändige Wut gab mir die Kraft, sie von ihm wegzureißen. Wir versuchten zu fliehen und rannten die Treppe hinauf, aber er bekam Julia zu fassen. Noch einmal konnte ich sie von ihm wegzerren, aber oben an der Treppe holte er mich ein. Er warf mich zu Boden und schlug auf mich ein. Meine Schwester schrie, und er ließ plötzlich von mir ab. Zuerst war ich verwirrt, doch als ich mich aufrappelte, sah ich, dass Tony Julia gegen die Wand drückte und sie würgte.« Sie griff sich mit den Händen an die Kehle. »Und mir wurde klar, dass er uns nicht lebend aus dem Haus lassen würde. Also habe ich ihn getötet.« Sie brachte die letzten Worte nur sehr mühsam und mit heiserer Stimme über die Lippen.
Die Furcht, die ich vorher schon empfunden hatte, schien mich nun zu erdrücken.
Jessica.
»Ich schnappte mir einen der Golfschläger meines Vaters und schlug ihn auf seinen Kopf. Er stürzte die Treppe hinunter und brach sich das Genick.« Sie wischte sich eine Träne vom Gesicht, bevor sie fortfuhr. »Julia erzählte meinen Eltern und der Polizei, was geschehen war, und wir erfuhren, dass er sie bereits seit zwei Jahren vergewaltigt hatte. Seit ihrem neunten Lebensjahr. Meine Eltern hatten sich vorwiegend um ihr eigenes Leben gekümmert, und ich war als Teenager so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass wir ihr nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Wir hatten die Anzeichen nicht gesehen.
Unsere Eltern schickten uns beide in Therapie, anstatt sich selbst um uns zu kümmern, und Julia konzentrierte sich auf ihren Ballettunterricht. Wie besessen.« Ihre Augen verschleierten sich. »Als sie nicht in der Schule ihrer Wahl aufgenommen wurde, hat sie sich in unserem Keller erhängt. Ich habe sie gefunden. Meine Eltern haben mir die Schuld gegeben. Sie wollten es nicht glauben, dass Tonys Missbrauch ihr solchen Schmerz zugefügt hatte. Stattdessen behaupteten sie, Julia habe nicht vergessen können, dass ich vor ihren Augen einen Mann getötet hatte.«
Mir wurde kalt. Durch und durch. Wie schrecklich, dass sie so etwas erlebt hatte. Sie war so freundlich und warmherzig, kümmerte sich um andere Menschen. Und half ihnen. Eine solche Lebensgeschichte hatte sie nicht verdient.
Emery und Bailey weinten beide, und ich stellte fest, dass auch meine Wangen feucht waren. Unsere Blicke trafen sich, und wir spürten eine unausgesprochene Verbindung zwischen uns.
»Lange Zeit habe ich mir die Schuld gegeben. Ich wollte mich selbst dafür bestrafen, dass ich Tony getötet und Julia nicht beschützt hatte. Ich glaubte, nichts Gutes mehr verdient zu haben und zur Buße ein asketisches Leben führen zu müssen.«
»Jess«, stieß ich schluchzend hervor. Sie schien in meinem Kopf, in meinem Herzen zu sein, und ich fühlte mich nicht mehr allein.
Sie stand auf, kam zu mir herüber, ging vor mir in die Hocke und nahm meine Hände in ihre. »Ich habe Cooper beinahe in den Wahnsinn getrieben, weil ich Angst hatte, mich ihm anzuvertrauen. Ich befürchtete, er würde dann erkennen, dass er eine bessere Frau als mich verdient hatte. Aber es ist ihm gelungen, mir die Wahrheit zu zeigen. Seine Liebe und seine Stärke haben mir dabei geholfen, den Frieden zu finden, von dem ich dachte, dass er mir nicht zusteht. Aber ich habe ihn verdient.« Sie zog meine Hände an ihre Brust und schaute mich flehentlich an. »Es bricht mir das Herz, dass du auch glaubst, kein gutes Leben verdient zu haben. Das tust du, Dahlia. Die Schuldgefühle werden nicht über Nacht verschwinden – vielleicht nie«, flüsterte Jess. »Nicht ganz. Aber Michael zu lieben und von ihm geliebt zu werden wird alles jeden Tag ein bisschen leichter für dich machen. Weißt du, was meine Rettung war?«
Ich schüttelte wortlos den Kopf; meine Gefühle schnürten mir die Kehle zu.
»Cooper. Das Bewusstsein, ihn glücklich zu machen. Zu wissen, dass er mich braucht. Das war meine Erlösung.« Sie sah mich entschlossen an. »Ich glaube nicht, dass du dich beweisen oder etwas wiedergutmachen musst. Aber ich weiß, du glaubst es. Also … lass dich von Michael retten.«
Ich rutschte von meinem Sessel, schlang die Arme um sie und atmete tief ihre Kraft ein. Wenn Jessica Huntington-Lawson es geschafft hatte, nach diesen schrecklichen Erlebnissen eine so starke Kämpferin zu werden, dann würde mir das auch gelingen.