Michael wünschte, er könnte jetzt ins Cooper’s gehen, um seine Sorgen zu ertränken, anstatt dort den abweisenden Koch Crosby befragen zu müssen. Das war bisher die einzige Spur, der er nachgehen konnte. Cooper hatte ihn angerufen und ihm berichtet, dass Crosby möglicherweise Jackson gesehen hatte. Da er sich aber nicht hundertprozentig sicher war, wollte er nicht zur Polizei gehen und den Beamten ihre Zeit stehlen.
Michael betrachtete das jedoch nicht als Zeitverschwendung.
Er ging jedem Hinweis nach, der ihn weiterbringen könnte.
Cooper nickte ihm zu, als er das Lokal betrat. Michael nahm wahr, dass es in der Bar plötzlich still wurde und alle Augen auf ihn gerichtet waren, als Cooper durch den hochklappbaren Teil der Theke ging und ihm mit einer Geste bedeutete, ihm in den hinteren Bereich der Bar zu folgen.
»Er nimmt es mir übel, dass ich dich angerufen habe«, sagte Cooper, während er Michael einen kurzen Gang entlang in die Küche führte.
Crosby bestätigte das sofort, als er Michael sah. »Ich kann Cops nicht ausstehen«, stieß er hervor und rüttelte einen Metallkorb mit Pommes frites in der Fritteuse.
Nachdem Michael am Morgen Dahlia seine Gefühle offenbart hatte, war er nicht in der Stimmung für solche Bemerkungen. »Sagen Sie mir einfach nur, was Sie gesehen haben.«
Crosby starrte Cooper an. »Ich habe doch gesagt, dass ich mir nicht sicher bin.«
Michael schnippte ungeduldig vor Crosbys Gesicht mit den Fingern. »Beantworten Sie meine Frage«, forderte er schroff.
»Deshalb kann ich Cops nicht leiden«, murmelte Crosby. »Keine Manieren.«
»Wie witzig, das ausgerechnet von dir zu hören, Crosby. Beantworte Detective Sullivans Fragen, oder ich hole Isla.«
Michael hatte keine Ahnung, warum die Drohung, eine der Kellnerinnen hereinzuholen, den Koch beeindrucken sollte, aber sie zeigte Wirkung. Er fluchte leise und schaute Michael an wie ein bockiger Schuljunge. »Ich habe einen Wohnwagen drüben in Oak Meadows.«
Michael nickte; da er ganz Hartwell nach Jackson abgesucht hatte, war ihm die Gegend bekannt.
»Heute Morgen noch vor der Dämmerung habe ich jemanden gesehen, der sich aus Willy Nettles’ altem Trailer geschlichen hat.«
Michael warf einen Blick zu Cooper hinüber.
»Er ist vor acht Monaten gestorben«, erklärte Cooper. »Seine Tochter lebt in New York. Offensichtlich ist sie noch nicht dazu gekommen, den Wohnwagen zu verkaufen.«
Dieser Mistkerl. Michael hatte den kompletten Bezirk nach ihm abgesucht, sie hatten eine Fahndung für die gesamte Ostküste herausgegeben, und nun stellte sich vielleicht heraus, dass dieser Scheißkerl sich die ganze Zeit direkt vor ihrer Nase versteckt gehalten hatte.
»Warum habe ich das nicht erfahren?«
Cooper verzog das Gesicht und schaute Crosby an. »Bitte sag mir, dass du von dem leeren Trailer nichts gewusst und deshalb geschwiegen hast.«
Der Koch runzelte die Stirn. »Wenn mir etwas merkwürdig vorgekommen wäre, hätte ich es berichtet. Außerdem wissen wir gar nicht, ob ich tatsächlich Freddie Jackson gesehen habe.«
»War es ein Mann oder eine Frau? Wie groß war die Person? Wie gebaut?«
»Es. War. Dunkel.« Crosbys Antwort klang herablassend.
Michael hatte Mühe, die Geduld nicht zu verlieren.
»Aber Sie haben jemanden gesehen. Dann müssen Sie doch wissen, wie groß die Person war.«
Der Koch trat unbehaglich von einem Bein auf das andere. »Es war ein Mann. Mehr weiß ich nicht.«
Michael nickte ihm kurz zu, drehte sich um und zog sein Handy hervor. Jeff meldete sich nach dem zweiten Klingelton.
»Ich habe eine Spur. Pete Crosby hat einen Mann beobachtet, der heute Morgen vor Anbruch der Dämmerung den leer stehenden Trailer von Willy Nettles in Oak Meadows verlassen hat. Es ist nicht sicher, dass es Jackson war, aber wir sollten das überprüfen.«
»Ich schicke zwei Deputys los.« Jeff seufzte. »Wenn dieser Mistkerl die ganze Zeit über in der Stadt war …«
»Ich weiß.« Michael war ebenso frustriert wie sein Boss. »Ich fahre jetzt dorthin.«
Sie legten auf, und Michael folgte Cooper aus der Küche.
»Ich bin froh, wenn diese Sache vorbei ist«, meinte Cooper.
»Ja, ein Mörder auf freiem Fuß verscheucht alle Touristen.«
Cooper beobachtete, wie Michael sich mit der Hand über den Nacken fuhr.
»So habe ich es nicht gemeint«, erklärte er besorgt dreinblickend. »Alles in Ordnung, Mike?«
»Mir ging es schon besser.« Gemeinsam schoben sie die Türen zum Gastraum auf.
Michael wünschte, er wäre im Flur geblieben.
An der Bar stand ein Mann, die Lippen gespitzt und den finsteren Blick auf Bryn, einen von Coopers Barkeepern, gerichtet. Es war Michaels Vater.
Was zum Teufel machte Aengus Sullivan in Hartwell?
Sein Dad wandte ruckartig den Kopf zu ihm um.
Michael hatte das Gefühl, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegziehen.
Aengus schlenderte um die Theke herum und blieb vor ihm stehen, und Michael kämpfte gegen das Bedürfnis an, das Weite zu suchen. Wie immer. Bevor Aengus zu sprechen begann, wusste er bereits, dass er betrunken war. Es war ein verdammtes Wunder, dass er in diesem Zustand den langen Weg von Delaware bis hierher geschafft hatte.
Alkohol war auch der Grund, warum er zu seinem Sohn gefahren war, der ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Es war lächerlich.
Mit seinem Dad in einem Raum sein zu müssen war für Michael unerträglich. So wie er jetzt aussah, hätte niemand geglaubt, dass er einmal ein sehr attraktiver Mann gewesen war. So gut aussehend, dass er Michaels Mom, das hübscheste Mädchen in Southie, um den Finger gewickelt hatte. Michael verabscheute es, seinem Vater so ähnlich zu sehen, und war dankbar dafür, durch die Gene seiner Mutter ihr blondes Haar geerbt zu haben.
Nur ein kleines Merkmal, das ihn äußerlich von dem Arsch unterschied, der nun vor ihm stand.
Natürlich war Aengus Sullivan nicht mehr der Mann, der er einmal gewesen war. Sein Gesicht war vom Rauchen abgehärmt, und seine Trinkerei hatte ihm einen dicken Bauch eingebracht.
»Was willst du hier?« Michael war erleichtert, dass seine Stimme ruhiger klang, als er sich fühlte.
Sein Vater schnitt eine verächtliche Grimasse und erwiderte laut: »Du bist in den Nachrichten zu sehen. Mein verdammter nichtsnutziger Sohn hat es in die Nachrichten geschafft. Und alle fragen mich, warum zum Teufel mein Sohn in dieser schäbigen kleinen Stadt seine Dienstmarke als Detective, auf die er sich so viel einbildet, unter Wert verkauft.«
»Meine Güte«, murmelte Cooper hinter ihm.
Michael spürte, wie sein Nacken heiß wurde, und er unterdrückte das Verlangen, auf seinen Vater loszugehen. War er tatsächlich so wirr im Kopf, dass er so weit gefahren war, um seinen Sohn zu beschimpfen? »Sprich leiser.«
Aengus verzog den Mund. »Ich weiß, warum du hier bist.«
Bevor Michael etwas erwidern konnte, wurde der Abend noch schlimmer. Die Eingangstür flog auf, und Dahlia kam, gefolgt von Bailey, hereingestürmt.
Gütiger Himmel.
Sein Vater wandte sich um, neugierig, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, und entdeckte Dahlia. Der Ausdruck der Erleichterung auf ihrem Gesicht verwandelte sich in Verwirrung, als sie Aengus erkannte.
»Wenn man vom Teufel spricht.«
»Dad.« Michael packte ihn am Arm und drehte ihn zu sich zurück. »Ich bin im Dienst, also lass uns nach draußen gehen. Du kannst mir sagen, warum du hierhergekommen bist, und dann wirst du meine Stadt wieder verlassen.«
»Deine Stadt?« Er brach in schallendes Gelächter aus, und in der Bar wurde es still.
Michael kniff sich in den Nasenrücken, als könnte er damit seine Kopfschmerzen abstellen und gleichzeitig seinen Vater verschwinden lassen.
»Wegen dieser Tussi hinter mir bist du in dieses kleine Drecksloch am Meer gezogen …«
»Pass auf«, warnte Michael ihn.
Aengus grinste hämisch, als Dahlia näher kam, und musterte sie geringschätzig. »Und deine Mom hat mir gesagt, dass diese Frau nicht einmal etwas von dir wissen will. Du hast dir immer eingebildet, du seist besser als ich, aber das bist du nicht. Und nun hast du einen Job aufgegeben, der mich hätte stolz auf dich machen können, und das nur, um einem Weib an der Ostküste hinterherzujagen und an einem Mordfall herumzupfuschen. Ich bin hier, um dich zur Vernunft zu bringen. Komm zurück nach Boston, Mikey. Hör auf, dich zum Narren zu machen, und gib deinem Vater endlich einmal einen Grund, auf dich stolz sein zu können.«
Noch bevor Michael einen Gedanken formulieren konnte, baute sich Dahlia vor Aengus auf.
»Wie können Sie es wagen?«, fauchte sie.
Er feixte und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie hob die Hand vor sein Gesicht, um ihn daran zu hindern.
»Jetzt bin ich dran. Das ist meine Stadt. Und Sie haben kein Recht, in meine Stadt zu kommen und den Mann, den ich liebe, zu beschimpfen und zu beleidigen, einen Mann, der sich hier für uns den Arsch aufreißt. Haben Sie mich verstanden? Sie wissen gar nicht, was einen guten Menschen ausmacht, deshalb erkennen Sie auch keinen. Sie haben keine Ehre. Und es steht Ihnen nicht zu, irgendetwas von Michael zu fordern, nach allem, was Sie ihm angetan haben. Es ist vollkommen unwichtig, ob Sie stolz auf ihn sind. Haben Sie jemals etwas geleistet, was ihn auf Sie hätte stolz machen können?«
Ihr Geständnis, dass sie ihn liebte – sie hatte es seinem Vater gesagt, nicht ihm –, verwirrte Michael und verzögerte sein Reaktionsvermögen. Sein Vater hatte Dahlia bereits an den Handgelenken gepackt, um ihr eine Erwiderung ins Gesicht zu schleudern.
Eine Sekunde nachdem sein Vater auf Dahlia losgegangen war, befand sich sein Gesicht bereits auf dem Bartresen, und Michael legte ihm Handschellen an. »Du bist betrunken«, sagte er laut, damit die Gäste verstanden, warum er handgreiflich geworden war. Sein Herz raste vor Wut. »Ich werde dich zur Ausnüchterung ins Bezirksgefängnis bringen, und anschließend schiebst du deinen Arsch in dein Auto und verschwindest von hier.«
Michael beugte sich vor und flüsterte Aengus ins Ohr: »Wenn du noch einmal etwas anfasst, was mir gehört – und damit meine ich auch Mom –, dann mache ich dich fertig.« Er zog ihn nach oben, und sein Dad versuchte, sich gegen seinen Griff zur Wehr zu setzen.
»Soll ich ihm eine verpassen?« Cooper sah so aus, als würde ihm das großes Vergnügen bereiten.
Michaels Grinsen war eher eine Grimasse. »Kann ich ihn in dein Büro bringen, bis ein Deputy ihn abholt? Ich muss jetzt zu diesem Trailer fahren.«
Cooper nickte, und Michael zerrte seinen sich mit aller Kraft wehrenden Dad den Flur hinunter. Er schob ihn in das Büro, und Cooper schloss die Tür hinter ihm ab. Die Schreie des Betrunkenen verfolgten ihn auf dem Weg den Gang entlang.
Verdammt, er zitterte.
»Alles in Ordnung?«
»Wegen ihm?« Michael zuckte mit den Schultern. »Ich lasse ihn schon seit Jahren nicht mehr an mich herankommen«, log er.
»Nein, ich meinte, wegen Dahlia.«
Er starrte auf die Tür, die ihn wieder zu ihr führen würde. »Die Frau macht mich fertig.«
Cooper nickte mitfühlend. »Das kenne ich.«
Er wappnete sich und betrat die Bar, wobei er es zu vermeiden versuchte, in Dahlias große besorgte Augen zu schauen. Rasch ging er an ihr vorbei zur Tür hinaus. Er befürchtete, sich nicht in ruhigem Ton mit ihr unterhalten zu können, und außerdem wurde er von allen Gästen angegafft.
Was Dahlia seinem Dad an den Kopf geworfen hatte, war großartig, aber das, was ihn betraf, hätte sie ihm sagen sollen. Deshalb zweifelte er daran, dass sie es ernst gemeint hatte.
War es nur Mitleid?
Hatte sie all das nur gesagt, weil er ihr leidtat?
»Michael!«
Er lief weiter die Promenade entlang. Im Augenblick musste er zu viel Schmerz verbergen, und Dahlia gelang es meistens, einen Zugang zu ihm zu finden.
»Michael!« Sie griff ihn am Arm, und als er herumwirbelte, brach irgendetwas in seinem Inneren auf. Ihr schönes Gesicht war angespannt vor Kummer. »Sprich mit mir.«
»Worüber?«, stieß er hervor. »Über diese schreckliche Szene dort drin? Darüber, dass du diesem betrunkenen Schwachkopf die Meinung gesagt hast, weil du Mitleid mit mir hattest?« Er beugte sich vor, um ihr seinen Zorn ins Gesicht zu knurren. »Ich brauche dein verdammtes Mitleid nicht.«
Dahlia war bestürzt. »Das war kein Mitleid. Es war die Wahrheit.« Sie griff nach ihm, doch er schüttelte sie ab. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein hartnäckiger Ausdruck ab. »Ich habe heute erkannt, dass ich das, was ich dir am Morgen gesagt habe … Nun, ich muss dagegen ankämpfen. Ich war es einfach nur so leid, mich immer schuldig zu fühlen, und ich habe geglaubt, wenn ich mit dir zusammen wäre, würde dieses Gefühl nie verschwinden. Doch jetzt weiß ich, dass ich loslassen muss. Michael, es tut mehr weh, ohne dich zu sein. Viel mehr.«
Alles, was sie sagte, sollte ihm eigentlich die Welt bedeuten. Genau das hatte er sich gewünscht. Doch er hörte immer noch die Stimme seines Dads, und plötzlich erschienen ihm die letzten Wochen in einem ganz anderen Licht. Er war fest entschlossen gewesen, die Frau, die er liebte, nicht loszulassen, aber jetzt kam er sich vor wie ein Hund, der an ihrer Tür gekratzt und um ein paar Essensreste gebettelt hatte.
Nun stellte er alles infrage.
Liebte sie ihn wirklich so sehr, wie er sie liebte?
Würde er immer darum kämpfen müssen, dass sie sich ihm öffnete?
Würde sie ihm immer das Gefühl geben, versagt zu haben … so wie sein Dad es tat?
»Ich muss los«, murmelte er. »Ich bin im Dienst.«
Michael fühlte sich ein wenig benommen und schwindlig, als er sich zum Gehen wandte, aber er wusste, dass sie ihn nicht zurückhalten würde. Sie würde nicht um ihn kämpfen.
»Michael.«
Er zögerte bei dem bittenden Ton ihrer Stimme.
»Ich weiß, wie weh es dir tut, was er gesagt hat. Das verstehe ich besser als jeder andere Mensch. Wenn du über den Schmerz dieser schrecklichen Szene ein wenig hinweggekommen bist und mich wieder klarer sehen kannst, dann werde ich hier sein. Dieses Mal für immer.«
Ihre Worte berührten ihn beinahe so, als hätte sie ihn umarmt und ihren Kopf an seine Schulter gelegt. War das genug? Konnte er sich darauf verlassen, dass sie nicht morgen früh aufwachen und sich daran erinnern würde, Dillon eine unsinnige Art von Buße zu schulden?
Erschöpft und resigniert machte Michael sich auf den Weg.
Er hatte eine Aufgabe zu erledigen.
Einen Mörder zu fassen.
Das war zumindest etwas, was er konnte.
Alles andere würde warten müssen.
Ausnahmsweise würde sie für ihn Geduld aufbringen müssen.