Kapitel dreiunddreißig

DAHLIA

Ich hatte meine Panik gut unter Kontrolle, als ich meinen alten Mini auf dem Parkplatz abstellte und ausstieg. Was für ein Tag – er schien kein Ende zu nehmen. Am Morgen das Gespräch mit Michael, später Jessicas herzzerreißende Enthüllungen und die damit verbundene Erkenntnis sowie die drängende Änderung meiner Sichtweise, die Begegnung mit Aengus Sullivan und dann Michaels Zorn und Frustration – das alles hatte mich sehr mitgenommen.

Nachdem uns Jessica ihre Geschichte erzählt hatte, war ich nach Hause gefahren, um zu duschen und mich umzuziehen. Ich war in meinem Apartment auf und ab gelaufen und hatte hin und her überlegt, wie ich auf Michael zugehen und was ich ihm sagen sollte. Schließlich hatte ich beschlossen, zu ihm zu fahren und ihm zu gestehen, dass ich ihn liebte. Im Revier hatte man mir mitgeteilt, dass er ins Cooper’s gerufen worden war. Der Deputy hatte irgendetwas davon gemurmelt, dass Michael an diesem Tag offensichtlich sehr begehrt war, und als ich im Cooper’s auf Aengus Sullivan traf, der seinen Sohn wüst beschimpfte, ergab das Sinn.

Und ich war wütend geworden.

Oh Mann, ich hatte noch nie jemanden so verletzen wollen wie Michaels Vater.

Wie konnte er es nur wagen! Ich kochte immer noch vor Wut, als ich das Haus betrat.

Michael war böse auf mich, aber das nahm ich ihm nicht übel. Selbst wenn ich ihn hätte anschreien wollen, hätte ich es nicht fertiggebracht. Weil ich ihn verstand. Sehr gut sogar. Wenn sich ein Elternteil so verhielt wie Michaels Vater, spielte es keine Rolle, wie alt man als Kind war. Es tat weh, und der Schmerz hielt einen eine Weile gefangen.

Doch er würde es überwinden. Ganz sicher.

Wir würden es gemeinsam schaffen.

Zum ersten Mal verspürte ich Hoffnung.

Ganz ehrlich, ich hatte keine Panik. Ich war …

Ein erstickter Schrei zu meiner Linken riss mich aus meinen Gedanken, während ich die Treppe hinaufstieg. Stirnrunzelnd drehte ich den Kopf zu Ivys Apartment und spitzte die Ohren.

Ein lautes Splittergeräusch, gefolgt von einer tiefen Baritonstimme, jagte mir einen Schauder über den Rücken.

Ivy.

Verdammt. Dieser Tag nahm wirklich kein Ende.

Rasch öffnete ich die Riemchen an den Knöcheln und zog meine Schuhe aus, damit ich mich unbemerkt zurück nach unten schleichen konnte. Ich zuckte zusammen, als meine Füße den kalten Fliesenboden berührten, und huschte durch den Gang zu Ivys Apartment. Das Ohr an die Tür gepresst, hörte ich wieder die gedämpfte Stimme eines Mannes. Er sprach jetzt lauter, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Doch sein Tonfall klang sehr erregt.

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass es besser sei, mich gegebenenfalls wegen meines neugierigen Verhaltens von ihr anschreien zu lassen, als meinen Verdacht zu ignorieren, dass Ivy in Schwierigkeiten stecken könnte. Ich drehte den Türknauf und hielt den Atem an, als er sich mit einem leisen Klicken bewegen ließ. Vorsichtig schob ich die Tür auf. Nun hörte ich die Stimmen laut und deutlich.

»Verarsch mich nicht«, befahl eine männliche Stimme. »Ich weiß, dass du Geld hast. Dein Freund hat dir nach seinem Tod doch bestimmt eine Menge hinterlassen.«

Entsetzen ergriff mich.

Diese Stimme kannte ich.

Es war Freddie Jackson.

Ivy klang ungerührt. »Selbst wenn ich Geld hätte, könnte ich einen solchen Betrag nicht sofort überweisen. Beim Online-Banking gibt es ein Limit von zehntausend Dollar.«

»Dann hast du aber bestimmt etwas, was ich verpfänden kann. Schmuck oder so. Ich brauche Geld, um von hier wegzukommen.«

Einen Moment lang dachte ich darüber nach, wie jemand, der sich einer Verhaftung entzogen hatte und einer polizeilichen Fahndung entkommen war, so dumm sein konnte. Panik und Verzweiflung machten aus manchen Menschen Vollidioten.

Doch es machte sie auch gefährlich, und Freddie hatte bereits einen Mord begangen.

Bei dem Gedanken daran überfiel mich Furcht.

Ivy war mit einem Mörder dort drin.

Vorsichtig schob ich die Tür noch weiter auf und schlüpfte in die Wohnung. Auf dem Boden lag ein dicker Teppich, der meine Schritte dämpfte, als ich an der Wand entlangschlich. Wie bei meinem Apartment führte auch hier ein kurzer Flur ins Wohnzimmer.

Mein Herz raste, und meine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt. Ich schluckte heftig, ignorierte den kalten Schweiß unter meinen Armen und zwang mich dazu, um die Ecke zu spähen.

Freddie stand in der Mitte des Raums. Er trug ein Hemd und eine Jeans, die ihm viel zu groß waren, und auf dem Kopf eine tief in die Stirn gezogene Baseballkappe.

Und er hielt eine Waffe auf Ivy gerichtet.

Ivy stand in einer Jogginghose und einem T-Shirt vor ihm und sah nicht so gelassen aus, wie ihre Stimme klang. In ihren dunklen Augen zeichnete sich Furcht ab. Der geflieste Kamin hinter ihr war mit Glassplittern übersät.

»Gib mir das Geld, dann haue ich ab. Wenn ich nichts bekomme, schieß ich dir eine Kugel in den Kopf. Ohne zu zögern. Ich habe nichts zu verlieren.«

»Ich … Ich … Ich rufe meinen Bankmanager an«, sagte Ivy und nickte langsam. »Es kann allerdings ein paar Tage dauern.«

»Hast du mir nicht zugehört, du dumme Schlampe?« Er spannte den Hahn seiner Waffe. »So viel Zeit habe ich nicht.«

Plötzlich übernahmen meine Instinkte die Kontrolle.

Ohne weiter darüber nachzudenken stürzte ich mich auf Freddie Jackson, um zu verhindern, dass er auf Ivy schoss. Wir knallten auf den Boden, und Freddie stieß wüste Flüche aus. Seine Waffe fiel auf den dicken Teppich.

Adrenalin raste durch meinen Körper, während ich mich daraufstürzte und dabei mit Freddies Hand zusammenstieß. Der kleine Mistkerl war stärker, als er aussah. Wir begannen, miteinander zu ringen. Ich schrie vor Wut auf, nahm alle meine Kraft zusammen und …

BUMM!

Ein quälender Schmerz durchzuckte meine Schulter, ich fiel nach vorne und krümmte mich. Mein Hals und mein Arm brannten wie Feuer, und ich konnte kaum mehr atmen.

»Dahlia McGuire.« Etwas Feuchtes, Schleimiges traf meine Wange, und ich begriff trotz meiner Schmerzen, dass er mich angespuckt hatte.

Als ich wütend den Kopf hob, spürte ich eine warme Flüssigkeit von meiner Schulter tropfen. Blut.

Dieser Arsch hatte mich angeschossen.

Er setzte sich rittlings auf mich und zielte mit der Waffe auf mein Gesicht.

»Kommst du dir dabei männlich vor? Mörder!« Ich spuckte ihn ebenfalls an und biss dann vor Schmerz die Zähne zusammen.

Er verzog zornig das Gesicht. »Das passiert mit …« Überraschung zeichnete sich auf seiner Miene ab, und er verdrehte die Augen.

Dann brach er über mir zusammen und rollte bewusstlos auf den Teppichboden.

Schockiert blinzelte ich nach oben zu Ivy, die ihren Oscar in der Hand hielt.

»Hast du … Hast du ihn mit einem Oscar erschlagen?«

Ivys Antwort hörte ich nicht mehr. Vor meinen Augen schwirrten schwarze Punkte. Viele schwarze Punkte, bis es ganz dunkel um mich wurde.

In meinen Ohren ertönte ein lästiges Piepen, das mich aus dem Schlaf riss. Mit meinem Bewusstsein kehrte auch der unerträgliche Schmerz zurück. Ich stöhnte und schlug mühsam die Augen auf, um zu sehen, was mit meiner Schulter los war. Michaels Gesicht tauchte verschwommen vor mir auf.

Michael?

Gegen meinen Willen fielen mir die Augen wieder zu.

»Dahlia, es wird alles wieder gut«, hörte ich eine mir unbekannte Stimme sagen. »Wir sind auf dem Weg ins Krankenhaus. Halt durch.«

Noch einmal zwang ich mich dazu, die Augen zu öffnen. Ich wollte dem Unbekannten mitteilen, dass jemand meine Schulter in Brand gesteckt hatte, und ihn bitten, etwas dagegen zu tun, aber die Schmerzen waren so stark, dass ich nicht sprechen konnte. Michaels Gesicht tauchte wieder auf, dieses Mal näher.

Jemand drückte meine Hand.

Michael?

Er beugte sich über mich. »Ich bin hier, Darling. Gib nicht auf, ja? Gib niemals auf.«

Ich wollte »in Ordnung« murmeln, aber bevor ich die Worte über die Lippen brachte, verschlang mich die Dunkelheit wieder.