Dieses Piepen. Himmel, das nervte. Als ich dieses Mal wieder zu mir kam, war der Schmerz in meiner Schulter nicht mehr ganz so schlimm. Schon viel besser.
Meine Lider aber waren schwer, und es dauerte eine Weile, bis es mir gelang, sie offen zu halten. Ich blinzelte in das Licht der Neonröhren über mir.
Dann sah ich Michael. Er saß zusammengesunken auf einem Stuhl neben mir; seine Augen waren geschlossen, und er wirkte trotz seiner natürlichen Bräune sehr blass. Ich fragte mich, was er in meinem Schlafzimmer tat. Und ich bemerkte, wie hoch mein Bett plötzlich war.
Und dieses Gepiepse.
Meine Güte, diese Pieptöne.
Ohne den Kopf zu heben, schaute ich mich in dem Raum um und begriff, dass ich in einem Krankenhausbett lag.
In meiner Hand steckte eine Nadel mit einem Tropf. Was …
Ein lauter Knall dröhnte in meinen Ohren, und ich zuckte zusammen.
Es war eine Erinnerung. Nur eine Erinnerung.
Freddie Jackson hatte auf mich geschossen!
Vor Empörung bewegte ich mich, und sofort explodierte ein Schmerz in meiner rechten Schulter. Dieser Mistkerl!
Michael wachte mit einem Ruck auf und starrte mich mit großen gehetzten Augen an.
»Hey«, flüsterte ich.
Und dann geschah etwas, was ich bisher noch nie gesehen hatte.
Michael Sullivan beugte seinen Kopf über meinen Schoß und begann zu weinen.
Das tat mir weh. Ich streckte meinen unverletzten Arm aus und fuhr ihm mit den Fingern beruhigend durchs Haar. »Baby«, wisperte ich. »Alles in Ordnung, es geht mir gut.«
Er erschauerte bei meiner Berührung, und ich spürte, dass er angestrengt versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Schließlich setzte er sich auf, fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und sah mich aus tränenfeuchten Augen an, bevor er aufstand, sich über mich beugte und mich küsste.
Ich schmeckte das Salz seiner Tränen auf meiner Zunge.
Er löste sich von mir. »Tu mir das nie wieder an«, sagte er mitgenommen.
Ich legte ihm eine Hand an die Wange. »Ich liebe dich.«
Sein Versuch, seine Emotionen zu beherrschen, machte meine Liebe zu ihm noch stärker. Obwohl das eigentlich kaum noch möglich war.
»Ich liebe dich auch«, erwiderte er heiser. »So sehr, dass es mich irgendwann umbringen wird.«
Ich lachte und zuckte zusammen, als der Schmerz nach oben in meinen Nacken schoss. »Ich wurde angeschossen«, erklärte ich entrüstet.
Michaels Miene verfinsterte sich. »Dieser kleine Scheißkerl wird dafür büßen.«
Das Bild, wie Ivy ihm die Oscar-Statue über den Kopf gezogen hatte, tauchte vor mir auf. »Ivy hat ihn nicht getötet?«
Trotz seines Zorns, den ich förmlich spüren konnte, lächelte Michael. »Die Statue wiegt über acht Pfund und hat ihm eine schwere Gehirnerschütterung eingebracht, aber gestorben ist er nicht. Allerdings befindet er sich jetzt in Gewahrsam.«
»Solltest du nicht dort sein, um ihn zu vernehmen?« Ich fuhr ihm mit den Fingern über die Lippen, und er legte seine Hand über sie.
»Ich bin jetzt da, wo ich sein soll. Jeff führt die Vernehmung durch. Ich muss ihn gleich anrufen – ich habe ihm versprochen, ihn zu benachrichtigen, sobald du zu dir kommst.«
»Wie lange war ich bewusstlos?«
»Du bist direkt in den Operationssaal gebracht worden.« Michael warf einen Blick auf die Wand hinter mir, wo sich wahrscheinlich eine Uhr befand. »Das ist schon einige Stunden her.« Er küsste mich zärtlich. »Ich muss einer Schwester Bescheid geben, dass du wach bist. Und ich muss zu Bailey und deinen anderen Freundinnen. Cooper und Vaughn haben sie alle in die Cafeteria geschickt, weil sie mich hier verrückt gemacht haben.«
Ich lächelte ihn müde an. Das konnte ich mir gut vorstellen.
»Ich habe deinen Dad angerufen«, fügte er hinzu. »Er ist auf dem Weg hierher.«
Oh Gott. Mein Dad. »Er macht sich sicher Sorgen.«
»Natürlich, er ist dein Vater.« Michael küsste mich noch einmal. »So«, flüsterte er mit seinem Mund an meinen Lippen. »Ich gehe jetzt.« Er gab mir noch einen Kuss.
»Michael …« Ich versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich gehe nicht weg. Wenn du wiederkommst, werde ich hier sein, das verspreche ich dir.«
Seine Kinnmuskeln zuckten. »Was ich auf der Promenade zu dir gesagt habe … Ich habe es nicht so gemeint.«
»Schhh, das weiß ich. Doch ich meine es ernst. Ich werde für immer auf dich warten, Michael Sullivan.«
Er schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Ich gehöre dir schon vom ersten Tag an.«
Nach der Arztvisite verstand ich, warum Michael so bestürzt gewesen war. Ich hatte sehr viel Blut verloren und eine Transfusion bekommen müssen. Aber glücklicherweise war es ein glatter Durchschuss. (Sie hatten die Kugel in Ivys Teppich gefunden.) Ich hatte eine Gewebeverletzung erlitten, aber ich war jung und gesund, und der Arzt war zuversichtlich, dass alles komplett ausheilen würde.
Nachdem der Doktor gegangen war, drängten sich Bailey, Jess, Emery, Cooper, Vaughn, Iris, Ira und Ivy in meinem Krankenzimmer zusammen, und Michael stand an meinem Bett. Aber nicht lange. Die Schwester kam herein, während meine Freundinnen auf mich einredeten und mich umsorgten, und forderte meine Besucher auf, zu gehen.
Iris griff rasch nach meiner freien Hand, bevor die Schwester sie hinausscheuchen konnte. »Ich kann dir nicht genug für das danken, was du für Ivy getan hast.«
»Mir geht es ebenso.« In Iras Augen schimmerten Tränen.
»Gern geschehen.« Ich gab mich cool und lässig.
Ivy, die viel wacher und lebendiger aussah als in letzter Zeit, dankte mir auch, bevor sie ihren Eltern nach draußen folgte. »Du hast mir das Leben gerettet.«
»Und du mir meines«, erwiderte ich. Sie nickte stumm, aber ich hatte ihr noch etwas zu sagen. »Ivy.«
»Ja?«
»Vergeude es nicht. Es ist kostbar.«
Ivy nickte mir noch einmal leicht zitternd zu und verließ anschließend den Raum.
»Ich bleibe hier«, erklärte Bailey beharrlich.
»Nur drei Besucher auf einmal«, verkündete die Krankenschwester.
»Cooper und ich gehen gleich«, versuchte Vaughn die Schwester versöhnlich zu stimmen. »Können die Damen nicht hierbleiben? Sie sind wie Schwestern für Dahlia.«
»Zwei können bleiben. Oder alle drei, wenn der Detective geht.«
Michael straffte die Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ja, er würde mich so schnell nicht allein lassen.
»Ich kann gehen«, bot Emery an.
Vaughn sah sie leicht kopfschüttelnd an und wandte sich dann an die Krankenschwester. »Mabel, nicht wahr?« Er schenkte ihr sein seltenes, wunderschönes Lächeln. »Sie werden ihnen doch sicher nicht diesen Besuch verbieten wollen? Ihre beste Freundin wurde angeschossen, und sie machen sich große Sorgen um sie. Sie wollen sich nur versichern, dass es ihr gut geht.«
Mabel atmete unter seinem bezwingenden Blick tief aus. »Gut, sie können bleiben. Aber nicht zu lange. Miss McGuire braucht Ruhe.«
Cooper schlug Vaughn auf den Rücken und beugte sich zu seiner Frau vor, um ihr einen Kuss zu geben. Dann sah er mich an. »Bis bald, Wonder Woman.«
Ich verdrehte die Augen und nickte.
Vaughn überraschte mich mit einem Kuss auf meine Stirn. »Ich bin froh, dass es dir gut geht. Ich weiß wirklich nicht, was sie ohne dich täte.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Bailey.
Ich lächelte dankbar.
Nachdem die Männer – natürlich mit Ausnahme von Michael – gegangen waren, rückten meine Freundinnen ein paar Stühle an mein Bett. Sie versicherten sich, dass ich einigermaßen in Ordnung war, und berichteten mir von den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden. Ihre Stimmen umspülten mich wie ein entspannendes Schaumbad. Es war so tröstlich, alle meine Seelenverwandten bei mir zu haben, dass ich schon bald in einen heilsamen Schlaf fiel.
Geflüster drang in mein Unterbewusstsein und zog mich nach oben aus der Dunkelheit, bis sich meine Augenlider flatternd öffneten und ich ins Licht blinzelte.
Mein Blick wurde klarer, und als ich meine Umgebung besser wahrnahm, fiel mir wieder ein, dass Freddie Jackson auf mich geschossen hatte.
Bevor ich eingeschlafen war, waren meine Freundinnen und Michael bei mir gewesen.
Jetzt war ich plötzlich umringt.
Mabel hatte anscheinend den Kampf gegen das Durchsetzungsvermögen der McGuires verloren.
Trotz des brennenden Schmerzes in meiner Schulter lächelte ich beim Anblick meiner Familie.
Dad hatte auf dem Stuhl Platz genommen, auf dem Michael gesessen hatte, als ich zum ersten Mal wieder zu mir gekommen war. Er sprach leise über das Bett hinweg mit Darragh, der mit verschränkten Beinen an der Wand lehnte. Davina saß neben Dad, hatte die Knie an die Brust gezogen und schlief, den Kopf auf eine Hand gestützt.
Dermot lümmelte auf der anderen Seite meines Betts auf einem Stuhl, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schnarchte mit offenem Mund.
»Wie soll man sich bei diesem Lärm von einer Schusswunde erholen?«, sagte ich brummend.
»Dahlia!«, rief Dad lauter, als er es wahrscheinlich vorgehabt hatte. Er sprang auf, beugte sich über mich und legte seine Wange an meine. »Meine Güte, Bluebell, du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt.«
»Mir geht’s gut, Dad.« Ich klopfte ihm auf den Rücken.
Nachdem Darragh mich begrüßt hatte, waren auch Dermot und Davina aufgewacht und umarmten mich vorsichtig.
»Krista ist mit den Jungen in der Cafeteria«, erklärte Darragh. »Sie kommen gleich zurück.«
»Astrid ist beruflich unterwegs«, fügte Davina hinzu. »Aber sie fliegt noch heute hierher.«
»Ich … ähm … Ich habe es Mom erzählt«, sagte Dad zögernd. »Sie … Sie kommt nicht.«
Obwohl mich das nicht überraschte, versetzte es mir einen Stich. Die Ablehnung meiner Mutter würde immer eine tief in mir verborgene Wunde bleiben.
»Ich bin jetzt fertig mit ihr«, stieß Darragh hervor.
Ich zuckte zusammen. Das wollte ich nicht. »Dar, bitte nicht.«
»Nein, Dahlia. Wenn die eigene Tochter angeschossen wird, dann setzt man sich sofort in das nächste Flugzeug oder erkundigt sich zumindest, wie es ihr geht. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben.«
»Dar …« Dad schüttelte den Kopf. »Dahlia braucht Ruhe.«
Mein Bruder atmete entnervt aus. »Verdammt, tut mir leid, Schwesterchen.«
»Schon gut.« Dieses Thema war zu schmerzvoll. Ich wandte mich an Dad. »Wo ist Michael?«
Dad drückte meine Hand an seine Wange, und ich fühlte und sah, dass er lächelte. »Ich habe ihn dazu gezwungen, nach Hause zu fahren, um zu duschen. Das war vor zehn Minuten, also wird er vermutlich in weiteren zehn Minuten wieder hier sein.«
Auch wenn es selbstsüchtig sein mochte, freute ich mich darüber. Ich wollte ihn an meiner Seite haben. »Es tut mir leid, dass ich euch einen Schrecken eingejagt habe.«
»Das hast du allerdings getan«, erwiderte Dad. »Doch ich kann dir wohl kaum böse sein, dass du einer Frau das Leben gerettet und den Cops geholfen hast, einen Mörder zu fangen.«
Meine Ohren wurden heiß. »So, wie du das sagst, klingt das richtig cool.«
Alle lachten, und Davina stupste mich am Bein an. »Ich habe schon immer gesagt, dass du einen Heldenkomplex hast.«
Ich lauschte dem Wortgeplänkel meiner Familie, aber eine Weile später mussten wir die Schwester holen, weil ich starke Schmerzen hatte. Sie erlaubte meinen Verwandten zu bleiben und sagte kein Wort, als Michael wieder zurückkam und die Runde noch vergrößerte. Er küsste mich vor allen auf den Mund und schien sich dabei nicht an meinem Krankenhausatem zu stören.
»Hast du Hunger?«, fragte er.
Ja, ein wenig.
Michael fütterte mich mit ein paar Löffeln Götterspeise, und ich grinste bei jedem Happen und brachte ihn damit zum Lachen. Trotz meiner Schmerzen war alles gut. Ich war nicht mehr wütend, dass ich angeschossen worden war.
Ich war am Leben.
Meine Familie war bei mir.
Ich war verliebt.
Und ich fühlte mich stark durch die Macht des Verzeihens und der Hingabe.