Kapitel eins

DAHLIA

Hartwell, Delaware

Zwei Monate zuvor

Vor einigen Jahren, während einer kurzen Phase in meinem Leben, brauchte ich Alkohol, um meine Gefühle zu betäuben. Gin durchtränkte diesen riesigen, quälenden Kloß des Kummers in meiner Brust und lockerte den Klammergriff um meine Seele. Er brachte mich leichter durch den nächsten und den übernächsten Tag. Aber er dämpfte nicht nur meinen Kummer, sondern tötete auch alle anderen Gefühle ab. Und hätte mich beinahe umgebracht.

Nachdem ich aufgehört hatte zu trinken und wieder etwas empfinden konnte, musste ich mich in Geduld üben und auf die Zeit vertrauen. Und glücklicherweise erledigten die Zeit, der Abstand (und eine Therapie) das, was der Alkohol versucht hatte. Die Zeit linderte den Schmerz. Es gab Momente, in denen selbst das nicht klappte, aber meistens war ich relativ zufrieden.

Also habe ich es wahrscheinlich vergessen.

Ich erinnerte mich nicht mehr daran, dass einem das Leben keine Zeit gibt und keinen Abstand gönnt. Man kann sich nicht durchs Hier und Jetzt treiben lassen und davon ausgehen, dass man nicht doch irgendwann von vergangenen Ereignissen eingeholt wird.

So läuft es im Leben einfach nicht.

Und dann kam der Tag, an dem ich an diese Tatsache erinnert werden sollte.

Der Sommer neigte sich allmählich dem Ende zu. Ich sperrte meinen Andenkenladen mit angeschlossener Werkstatt zu. Er lag an der Uferpromenade in der Küstenstadt Hartwell in Delaware. Hartwell war zwar eine Stadt, doch eine sehr kleine und von einer entsprechenden Mentalität geprägt. Die Promenade war etwa eineinhalb Kilometer lang, und am nördlichen Ende lagen viele Geschäfte, darunter auch mein Shop, in dem ich Unikate verkaufte – nicht nur solche, die ich eingekauft hatte, sondern auch Schmuckstücke, die ich selbst entwarf und in meinem Atelier herstellte.

Wir Geschäftsinhaber an der Uferpromenade waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Meine beste Freundin war Bailey Hartwell. Ihr gehörte das Hart’s Inn, das sich direkt neben meinem Geschäft befand.

Ich schloss den Laden für eine Stunde, und Bailey hatte ihrem Geschäftsführer Aydan ihre Pension überlassen, also konnten wir mit unserer Freundin Emery Sanders, der Inhaberin von Emery’s Buchladen und Café, einen Kaffee trinken.

Normalerweise waren unsere Kaffeepausen ein Vorwand, um über alles und jeden zu reden, an diesem Tag allerdings ging es nur um Bailey. Ihre kleine Schwester hatte Probleme in der Stadt, und nun hatte Bailey auch noch begonnen, sich mit Vaughn Tremaine zu treffen. Das sorgte in unserem Ort für einigen Gesprächsstoff. Warum? Nun, hauptsächlich, weil alles, was Bailey anbelangte, von großem Interesse war. Als Nachfahrin der Gründerfamilie war sie hier ziemlich bekannt. Aber nicht nur das – sie wurde auch gemocht und respektiert. Als Vaughn Tremaine das alte Hart’s Boardwalk Hotel gekauft hatte und abreißen ließ, um dort das moderne Fünf-Sterne-Hotel Paradise Sands zu errichten, war Bailey darüber nicht glücklich gewesen. Sie hatte dafür gesorgt, dass der komplette Ort und Tremaine erfuhren, wie sehr sie das verurteilte, und daraus war ein Kleinkrieg zwischen ihr und dem Hotelier aus Manhattan mit dem unglaublichen Sex-Appeal entstanden.

Das allein sorgte schon für Gerede, doch richtig schockiert waren dann alle, als sie hörten, dass Bailey von ihrem Freund Tom, mit dem sie seit zehn Jahren eine Beziehung hatte, betrogen worden war. Nach der Trennung explodierte die Spannung, die schon lange zwischen Bailey und Tremaine gebrodelt hatte. Endlich gestanden sie sich ein, was ich schon immer vermutet hatte: Sie fühlten sich zueinander hingezogen.

Nachdem sie monatelang umeinander herumgeschlichen waren, waren sie nun schließlich ein Paar geworden.

Ich freute mich sehr für meine beste Freundin. Niemand hatte eine glückliche Beziehung mehr verdient als Bailey Hartwell.

»Bei Tom habe ich nie so empfunden«, erklärte Bailey, während wir unseren Kaffee schlürften. Wir saßen in dem erhöhten Bereich des Buchladens vor dem offenen Kamin, und das Licht, das durch die tiefen, flachen Fenster hinter uns hereinfiel, zeichnete einen kupferfarbenen Ring um ihr rotbraunes Haar. »Selbst am Anfang unserer Beziehung war ich eigentlich froh, dass wir immer einen gewissen Abstand gehalten haben. Mit Vaughn hingegen möchte ich jede Minute verbringen, denn in jedem Moment, in dem wir zusammen sind, entdecke ich etwas Neues an ihm – seine Marotten, seinen Sinn für Humor, seinen Übermut, seine Fehler. Und wisst ihr was? Ich mag alles an ihm – selbst seine Schwächen! Was ist los mit mir?«

»Du bist verliebt«, sagte Emery strahlend.

Ich grinste bei Emerys verträumtem Lächeln. In den neun Jahren, die ich nun in Hartwell lebte, war ich, offen gestanden, meist für mich geblieben. Emery war ein Jahr nach mir hierhergezogen, aber sie war so schüchtern und zurückhaltend, dass sie eigentlich niemand wirklich kannte. Doch dann kam im letzten Jahr Jessica Huntington nach Hartwell und freundete sich zuerst mit Bailey und dann mit Emery an. Sie hieß nun Jessica Lawson – sie hatte unseren Freund Cooper geheiratet, dem die Bar neben Emerys Buchladen gehörte. Jessica war eine der Ärztinnen in unserer kleinen Stadt, und wenn sie zwischen ihren Terminen Zeit fand, gesellte sie sich zum Kaffee zu uns. Im Augenblick verbrachten sie und Cooper jedoch ihre Flitterwochen in Kanada.

Mittlerweile waren wir alle vier beste Freundinnen. Emery kam nach und nach aus ihrem Schneckenhaus heraus, blieb aber trotzdem irgendwie noch ein Rätsel.

Ich wusste nur, dass sie von ihrer Großmutter eine Menge Geld und Immobilien, darunter auch den Buchladen, geerbt hatte. Sie war befangen, vor allem in Anwesenheit von Männern, was keinen Sinn ergab, denn sie war eine der schönsten Frauen, der ich je begegnet war. Das meine ich ganz ernst. Sie war groß und schlank mit Kurven an den richtigen Stellen, langem weißblonden Haar, das nur bei wenigen anderen Frauen echt war, und den feinen Gesichtszügen einer Disney-Figur. Coopers Schwester Cat sagte oft scherzhaft, Emery sehe aus wie Elsa aus Die Eiskönigin.

Emery glich nicht nur einer Disney-Figur, sondern war auch eine absolute Romantikerin. Immer wenn Bailey über Vaughn sprach oder Jess etwas von Cooper erzählte, erschien auf Emerys Gesicht ein schwärmerischer, sehnsüchtiger Ausdruck.

»Sollte er nicht eigentlich seine gesamte Zeit mit mir verbringen wollen?« Bailey riss mich aus meinen Gedanken über Emery.

»Sprich mit ihm darüber. Jetzt. Bevor es noch schlimmer wird«, riet ich ihr. Zwischen Bailey und Vaughn hatte es bereits viel zu viele Missverständnisse gegeben. »Jess würde dasselbe sagen, wenn sie hier wäre.«

Bailey kräuselte die Nase. »Ich weiß nicht …«

Nun, ich war mir sicher, und ich hatte kein Problem damit, ihr unverblümt zu erklären, wie ich darüber dachte. Glücklicherweise akzeptierte Bailey diesen Teil meiner Persönlichkeit. »Willst du wirklich einen Ehemann und Vater für deine Kinder, der nie zu Hause ist?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und straffte entschlossen die Schultern. »Gut. Ich werde mit ihm reden. Wahrscheinlich schreckt ihn das ab, doch ich werde es tun.«

»Nach all dem, was er dir gesagt hat, wirst du ihn damit sicher nicht vergraulen«, meinte Emery und nahm mir die Worte aus dem Mund. An Jess’ Hochzeitstag hatte Vaughn sich mit einer alten Flamme von Bailey geprügelt. Wie sich herausstellte, handelte es sich um seinen alten Freund aus der Highschool. Er beleidigte Bailey, und Vaughn verpasste ihm einen Faustschlag (man kann sich das kaum vorstellen!), und danach zählte Vaughn ihr auf eine unglaublich tolle Weise die Gründe auf, warum er sie liebte. Als sie uns berichtete, was er alles gemeint hatte, verliebte ich mich selbst ein bisschen in ihn.

»Deine unerträgliche Offenheit scheint ihn anzumachen«, neckte ich sie.

»Meine unerträgliche Offenheit?« Bailey deutete zuerst auf sich und dann auf mich. »Das sagt genau die Richtige!«

Ich lachte. »Wie auch immer. Rede mit ihm darüber.«

Ein Glöckchen klingelte, und Emery stand auf, um nachzusehen, ob sie sich im Laden um einen Kunden kümmern musste. Ich erläuterte Bailey noch einmal, wie wichtig ich ein solches Gespräch zwischen ihr und Vaughn fand. Schließlich musste meine Freundin doch wissen, dass sie Vaughn Tremaine damit auf keinen Fall vergraulen würde. Er schaute sie stets an, als sei sie der einzige Grund für seine Existenz.

»Sie möchten nur ein wenig stöbern, also bat ich sie, mich zu rufen, falls sie mich brauchen.« Emery gesellte sich wieder zu uns. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Wir haben über ein Gespräch mit Vaughn gesprochen, das möglicherweise meine Beziehung mit ihm beenden könnte. Oh, und darüber, dass meine Schwester anscheinend wie vom Erdboden verschluckt ist. Wenn ich sie nicht bald finde, werden meine Eltern sich in den nächsten Flieger setzen und hier auftauchen, um sich auf die Suche nach ihr zu machen, das schwöre ich euch.«

»Und wäre das so schlimm?« Für mich nicht. Es stand mir nicht zu, meine Meinung dazu zu äußern, aber Vanessa war eine geborene Unruhestifterin, und es gefiel mir nicht, dass sie Bailey möglicherweise Probleme bereitete, jetzt, wo meine Freundin gerade ihr Leben in den Griff bekam. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn Stacey und Aron Hartwell hierherkämen und Bailey die Suche nach Vanessa und damit die Verantwortung für sie abnähmen.

»Jetzt?«, fragte Bailey. »Ja. Ich möchte Vaughn näher kennenlernen, ohne dass mein Vater mir im Nacken sitzt. Ich liebe ihn, aber er ist der Einzige aus der Familie, der über Oliver Spence Bescheid weiß.«

Oliver Spence war ihr Exfreund, dem Vaughn eine verpasst hatte. Seine reiche Familie hatte während seiner Jugend jahrelang Urlaub in Hartwell gemacht, und als Bailey neunzehn war, hatte er ihr seine Gefühle gestanden. Und sie hatte sich sofort in ihn verliebt. Doch am Ende des Sommers hatte er ihr das Herz gebrochen, indem er ihr verkündet hatte, sie sei nicht gut genug für seine Familie. Mistkerl. Wenn ich damals schon mit Bailey befreundet gewesen wäre, hätte ich mir eine süße Rache für diesen hochnäsigen Arsch einfallen lassen. Wie zum Beispiel seinen Luxus-Sportwagen mit haufenweise Käse zu beladen – so viel Käse, dass er Tage dafür gebraucht hätte, ihn aus seinem Auto zu schaufeln. Und der Geruch wäre für immer an den Ledersitzen haften geblieben.

Leider war ich damals noch nicht in Hartwell, um einen so ausgeklügelten Racheplan für meine Freundin zu schmieden.

»Vielleicht hat er deshalb Vorurteile, und ich muss mir erst über meine Gefühle für Vaughn im Klaren sein, bevor ich mich damit beschäftigen kann, wie andere über ihn denken.«

Das hielt ich für Schwachsinn. »Oh, bitte, du weißt doch genau, was du für Vaughn empfindest.«

»Ich hau dich gleich.«

Ich grinste, streckte ihr die linke Wange hin und tippte mit dem Zeigefinger auf das Grübchen dort. »Nur zu! Das wäre die Krönung meines Tages!«

Baileys grüne Augen funkelten belustigt. »Ach, du bist einfach zu nett für diese Welt.«

Ich tat so, als sei ich stolz darauf. »Das ist mir bekannt.« Alle lachten.

»Miss.« Eine männliche Stimme übertönte unser Gelächter. Wir drehten uns alle um, als ein Mann die Treppe herauflief, gefolgt von einer hübschen kleinen Blondine. Irgendetwas an der Art, wie er sich bewegte, kam mir bekannt vor. Er richtete den Blick auf Emery. »Wir würden gerne ein paar Bücher kaufen, wenn’s recht ist«, sagte er mit einem starken Bostoner Akzent.

Nun wusste ich, woher er mir bekannt vorkam.

Der Schock, der mich traf, war so heftig, als hätte ich soeben eine Straße überqueren wollen, ein Auto übersehen und würde nun nach dem Aufprall plötzlich durch die Luft fliegen.

Nein.

Um Himmels willen, nein.

Was machte er hier?

Mein Herz klopfte so heftig, dass mir davon beinahe übel wurde. Eine Hitzewallung überrollte mich derartig schnell, dass mir sofort der Schweiß unter den Armen ausbrach. Ich war so fassungslos, dass ich mich nicht mehr rühren konnte und ihn nur stumm anstarrte.

Michael Sullivan.

Er war hier.

In Hartwell.

In Emerys Buchladen.

Er trug einen kurzen, stoppeligen Bart, und um seine Augen hatten sich Fältchen eingegraben, die früher nicht dort gewesen waren, doch er war es. Ich hätte ihn überall sofort erkannt.

In meiner Kehle stiegen Tränen auf, und mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, und plötzlich hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt wieder durchatmen zu können, allerdings dauerte diese Erleichterung nur einen Moment an und verflog. Und der Schmerz blieb.

Er lächelte zuerst Bailey und dann mich an.

Als sich unsere Blicke trafen, verschwand das Grinsen, und ich hatte das Gefühl, als würde sich ein schweres Gewicht auf meine Brust senken. »Dahlia?«

Wie kam er hierher?

Warum war er hier?

Geh weg, geh weg, geh weg!

»Michael«, stieß ich hervor.

Michael. Ich liebte diesen Namen. Ich liebte … Ich liebte … Ich …

Ich würde gleich durchdrehen.

Direkt vor ihm und der Blondine an seiner Hand.

Das wollte ich nicht.

Ich wollte das alles nicht.

Aber wir konnten nicht aufhören, uns anzustarren und uns mit Blicken zu verschlingen. Michaels Augen waren immer noch von einem wunderschönen dunklen Braun. Augen, in denen eine Frau versinken konnte. Sein blondes Haar war kürzer geschnitten als früher und wirkte dunkler, und seine kräftigen Schultern schienen noch breiter zu sein. Das enge T-Shirt, das er trug, ließ darauf schließen, dass er jetzt mehr Sport trieb. Er war auch damals schon durchtrainiert gewesen, doch nun war er noch muskulöser. Und das ließ ihn größer erscheinen. Michael war eins achtzig, kleiner als die Männer in meiner Familie, aber er hatte immer sehr maskulin und eindrucksvoll gewirkt.

Und daran hatte sich nichts geändert.

Michael, was tust du hier? Bitte geh weg.

Die Blondine (ich weigerte mich, sie direkt anzuschauen), zog an seiner Hand, und er unterbrach unseren Blickkontakt. Ich ließ die Schultern sinken und atmete tief durch. Aber schon richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Was machst du hier?«, wollte er wissen.

Was ich hier machte?

Im Ernst?

Ich bebte am ganzen Körper und schob rasch die Hände unter den Tisch, damit er das Zittern nicht sehen konnte. »Was machst du hier?«, entgegnete ich.

Was tust du hier? Verschwinde, Michael! Sofort!

Ich hoffte, dass er sich in den letzten neun Jahren telepathische Fähigkeiten angeeignet hatte.

»Wir sind im Urlaub«, erklärte die Blondine und schmiegte sich besitzergreifend an ihn. »Mike, wer ist das?«

Mike? Meine Familie nannte ihn auch so, doch mir gefiel es ganz und gar nicht, wenn man seinen so schönen Namen zu einem gewöhnlichen Mike abkürzte.

»Ähm, Kiersten, das ist Dahlia. Sie ist Dermots kleine Schwester.«

Dermots kleine Schwester? Ach ja? Wie witzig.

»Ich habe gedacht, sie sei tot«, erwiderte der Blondschopf.

Durch meine Brust schoss ein Schmerz, und Bailey drückte unter dem Tisch meine Hand. Diese Worte brachten mich dazu, die Blondine endlich anzuschauen. Sie war klein und schlank. Zierlich. Und sie wäre hübsch gewesen, hätte sie keine so verkniffene Miene aufgesetzt. Ich richtete den Blick wieder auf Michael. Er hatte dieser Person von Dillon erzählt. War sie wichtig genug, etwas über Dillon zu wissen, doch nichts über mich? Oder war ich einfach nicht mehr wichtig genug?

Angesichts seines düsteren Gesichtsausdrucks schnürte sich mir die Kehle zusammen. »Das war Dillon.«

Der Name schallte durch den Raum wie ein Pistolenschuss, und ich spürte Panik in mir aufsteigen. Vor meinen Augen tanzten kleine schwarze Punkte, und ich wusste, ich würde gleich vor ihm zusammenbrechen.

Auf keinen Fall.

Das durfte nicht passieren.

Ich hätte ebenso gut meine Brust aufschneiden und alle bitten können, nach den kleinen verschwundenen Stücken meines Herzens zu suchen.

»Ich muss gehen.« Ich stand auf und riss mich von Bailey los. Den Blick gesenkt, um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen, rannte ich so schnell ich konnte an Michael Sullivan und seiner blonden Freundin vorbei.

»Dahlia!«, rief er mir nach, als ich die Treppe hinunterlief. Der Ausgang schien noch so weit weg zu sein.

Ich hörte Bailey etwas sagen und dann Michaels tiefe Stimme, aber ich riss die Tür auf, ohne ihnen Beachtung zu schenken.

Ich war draußen.

Die salzige Meeresluft füllte meine Lungen, während ich die Promenade entlangstürmte. Ich hatte Angst, er würde mir folgen, und mein Herz raste. Ich rannte los, vorbei an den Sommertouristen, und an meinen Sportschuhen blieben Körnchen des widerspenstigen Sands kleben, der ständig vom Strand auf die Uferpromenade geweht wurde.

Eine leichte warme Brise fuhr durch mein langes Haar, und ich lief bis zu meinem Laden, als wäre der Teufel hinter mir her.

Die Panik und die Angst ließen erst nach, nachdem ich die Tür hinter mir abgesperrt hatte. Ich drehte das Schild nicht von »Mittags geschlossen« zu »Geöffnet« um und schaltete auch das Licht nicht an. Stattdessen hastete ich in den hinteren Bereich meines Shops in meine Werkstatt, wo mich die Dämonen der Vergangenheit zum ersten Mal seit vielen Jahren zu überwältigen drohten.

In Wahrheit hatten sie mich nie verlassen.

Michaels plötzliches Auftauchen hatte sie lediglich wieder aufgeweckt.

Meine Hände zitterten, und ich schluchzte ohne Tränen. Ich sah mich in meiner Werkstatt um und suchte nach etwas, was mich trösten und meinen Schmerz lindern könnte. Mit bebenden Fingern band ich mir meine Schürze um. Dann stöpselte ich mein Handy an den Lautsprecher an und machte Spotify auf, sodass ein Song von The Vaccines in voller Lautstärke ertönte.

Ich setzte mich an meine Werkbank und starrte auf die Silberohrringe mit Amethysten, an denen ich momentan arbeitete. Lang gestreckte Katzen mit Amethysten als Augen. Ich beugte mich darüber und versuchte, bei meiner Arbeit meine Gedanken zu verdrängen.

Ich konnte mich vor Michael verstecken, bis er Hartwell wieder verließ. Ganz einfach.

Es war ein Schock gewesen, ihn wiederzusehen.

Das Leben hatte mir einen Schlag in die Magengrube verpasst, aber ich wusste, dass es mir wieder gut gehen würde, sobald er weg war. Zeit und Abstand hatten mir bisher schließlich immer geholfen. Das würde auch dieses Mal wieder klappen.