Kapitel zwei

DAHLIA

Hartwell, Delaware

Gegenwart

Im Kamin in Emerys Buchladen knisterte ein Feuer, eine Wohltat an diesem kalten Oktobertag. An der Uferpromenade war es jetzt, Mitte Oktober, meist bewölkt und bereits sehr kühl, und obwohl wir alle unsere Läden das ganze Jahr über geöffnet hatten, begann nun für uns die ruhige Saison.

Glücklicherweise warf mein Laden (wie auch all die anderen Geschäfte hier) im Frühling und Sommer genügend ab, um mich durch die stille Jahreszeit zu bringen. Außerdem verkaufte ich meine selbst hergestellten Schmuckstücke an Boutiquen im ganzen Land und konnte damit mein Einkommen aufbessern. Diese ruhige Zeit brachte auch Vorteile mit sich: Ich hatte mehr Zeit für meine Freundinnen, konnte öfter bei Emery einen Kaffee trinken und mich auf den neuesten Stand der Dinge bringen lassen. Emerys Buchladen mit angeschlossenem Café war leer, bis auf mich, Emery, Bailey und Jessica.

Jess warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Emery stellte einen Teller mit Keksen auf den Tisch, wobei die vielen Silberarmbänder an ihrem Handgelenk klirrten, und ließ sich dann in dem Sessel nieder, der direkt neben dem Kamin stand.

»Hast du noch etwas vor?«, fragte ich Jess.

»Ach, das ist reine Gewohnheit.« Sie seufzte. »Unter der Woche schaue ich ständig auf die Uhr, und sonntags vergesse ich dann manchmal, dass ich nicht in die Praxis muss.«

»Ich freue mich, dass du hier bist«, sagte ich. »Ich brauche Unterstützung. Ich bin gerade dabei, Bailey ein bisschen zu verspotten, weil sie jetzt mit einem Mann verlobt ist, den sie früher einmal als den ›leibhaftigen Teufel‹ bezeichnet hat. Und Emery ist dafür viel zu nett.«

Emery schaute über den Rand ihrer Teetasse und riss die wunderschönen blauen Augen weit auf. »Das stimmt nicht«, sagte sie leise. »Ich kann mich über alles lustig machen. Nur darüber nicht.« Sie schenkte Bailey ein Lächeln. »Ich finde das großartig.«

»Ja, und schockierend«, fügte ich hinzu. »Beinahe so, als würde sich Buffy mit Spike einlassen. Unerwartet, aber auch sehr spannend.«

Bailey zog eine Augenbraue hoch. »Wahnsinnig komisch.«

Jess und ich tauschten ein Grinsen aus. »Finde ich auch.«

»Damit verrätst du nur, wie alt du bist.«

»Immerhin bin ich jünger als du.«

Bailey unterdrückte ein Lächeln. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir deine frechen Bemerkungen so oft gefallen lasse.«

»Hey, Vaughn ist sicher ein sehr heißer Typ, aber wir wissen beide, dass ich deine Seelenverwandte bin, Hartwell.«

»Ja, das ergibt alles Sinn.« Jess grinste. »Dahlia befürchtet, dass Vaughn ihr ihre beste Freundin wegnehmen könnte.«

»Das ist ganz unmöglich.« Ich stieß betont gleichgültig die Luft aus. »Ich bin hübscher und witziger als Vaughn Tremaine. Was ich Bailey gebe, kann niemand nachmachen oder überbieten.«

»Er verschafft ihr multiple Orgasmen.« Emery grinste. »Damit ist er wohl der Sieger.«

Ihre Bemerkung machte uns einen Moment lang sprachlos, doch dann brachen wir in Gelächter aus. Es war eigentlich nicht so komisch, aber aus Emerys Mund war es zum Schreien. »Oh Mann, Jess, du hättest Bailey nicht mit Emery bekannt machen sollen – sie verdirbt sie.«

»Auf eine gute Art und Weise«, verteidigte sich Bailey.

»Ich habe nur gesagt, was mir soeben durch den Kopf gegangen ist. Und ich fand es vollkommen in Ordnung, es vor euch laut auszusprechen.« Emery zuckte mit den Schultern.

Meine Neugierde war bereits geweckt worden, als Emery vor sieben Jahren hier aufgetaucht war und aus dem Burgerladen eine Buchhandlung gemacht hatte. Sie war jedoch so zurückhaltend und schüchtern gewesen, dass wir den Versuch, uns mit ihr zu befreunden, aufgegeben hatten. Doch dann hatte Jess den Weg geebnet, und nun waren wir alle gute Freundinnen. Bailey und ich hatten oft über unsere wachsende Neugierde gesprochen. Wir wussten nichts über Emery, und wir befürchteten, sie würde sich sofort wieder in ihr Schneckenhaus zurückziehen, wenn wir sie zu sehr bedrängten.

Doch ich hatte die intelligente Besitzerin des Buchladens mit der sanften Stimme lieb gewonnen. In ihren Augen lag eine Traurigkeit, die mich an meine eigene Melancholie erinnerte. Diese Frau hatte eine Geschichte zu erzählen, und vielleicht hatte sie auf Menschen gewartet, denen sie ausreichend vertraute, um sie ihnen mitzuteilen. Ich würde gerne zu diesen Menschen gehören.

»Also, Emery.« Ich versuchte, ganz beiläufig zu klingen. »Hast du das schon einmal erlebt? Jemanden wie Vaughn in deinem Leben gehabt?«

Ihre Wangen färbten sich rosa. »Ähm … nein.«

»Wer hat das schon?«, schnaubte Bailey. »Dieser Mann ist einzigartig!«

»Angeberin«, neckte ich sie.

»Nein?«, fragte Jess nach und ignorierte uns.

Emery schüttelte heftig den Kopf. »Nein.«

Das war alles?

Bailey zog die Nase kraus. »Es gab keinen Jungen, den du mochtest? Vielleicht einen Schwarm aus der Kindheit?«

»Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, und sie hat es mir nicht erlaubt, mich mit Jungs zu treffen.«

Jess, Bailey und ich tauschten einen Blick aus. Das erklärte alles. Na ja, zumindest einiges. »In Ordnung.« Ich stellte meine Kaffeetasse ab und wandte mich Emery zu, als mich meine Neugierde übermannte. »Du musst uns etwas über deine Großmutter erzählen und darüber, warum eine kluge, hübsche junge Frau …«

»Achtundzwanzig«, warf sie ein.

»Warum also eine Achtundzwanzigjährige so schüchtern ist, dass sie in einer Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, sieben Jahre lang braucht, um Freundschaften zu schließen.«

Emery zog die Augenbrauen nach oben. »Das stimmt nicht. Seit ich hier wohne, bin ich mit Iris befreundet.«

»Was?«, rief Bailey. »Das hat sie mir nicht erzählt!«

»Wahrscheinlich, weil sie weiß, wie neugierig du bist.« Emery zuckte zusammen. »Das habe ich jetzt nicht so böse gemeint, wie es sich angehört hat.«

Ich lachte. »Ich glaube, du hast es schon so gemeint, wie du es gesagt hast.«

Bailey streckte mir die Zunge heraus.

»Kinder!« Jess verdrehte die Augen. »Zurück zu Emery und ihrer Großmutter.«

»Ähm … Da gibt es nicht viel zu erzählen.« Emery kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe und stellte ihre Teetasse ab. Sie senkte die Lider mit den langen Wimpern und blickte auf den Couchtisch vor uns. »Meine Eltern und mein Großvater sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Sie sind mit dem Privatjet meines Großvaters verunglückt. Ich war damals in einem Sommercamp für Musikschüler in New York – ich spielte Cello. Ich war zwölf Jahre alt. Und dann … waren plötzlich nur noch ich und meine Großmutter da.« Sie sah uns direkt an. »Das bleibt aber bitte unter uns.«

Wir nickten alle, lehnten uns auf unseren Stühlen nach vorne und lauschten gespannt. Es überraschte mich nicht, dass Emery so früh ihre Eltern verloren hatte. Sie hatte, trotz ihres erstaunlich frechen Mundwerks, etwas Weltfremdes und eine gewisse Herzensreinheit an sich. Ich war mir sicher, Emery würde niemals jemanden verletzen, sondern im Gegenteil alles dafür tun, um zu helfen, wenn es nötig war. Eine solche Empathie sah man oft bei Menschen, die mit schlimmen Ereignissen und Kummer zurechtkommen mussten.

»Mein Großvater war Peter Paxton, der Gründer der Paxton Group.«

Wer?

Als sie unsere verständnislosen Blicke sah, fügte sie hinzu: »Zur Paxton Group gehören American AirTravel und Invictus Airlines. Die Invictus Vacation Group. Und Invictus Aeronautical.«

Meine Güte.

Das waren einige der größten Firmen in den Vereinigten Staaten. Die Paxton Group war offensichtlich ein Konzern, der Milliarden umsetzte. Dann waren wohl Paxton und damit auch Emerys Dad milliardenschwer gewesen.

Bedeutete das, dass …

Ich starrte Emery an.

Sie sah nicht aus wie eine Milliardärin.

Sie verhielt sich auch nicht so.

Allerdings hatte ich auch keine Ahnung davon, wie sich Milliardäre benahmen, denn ich hatte noch nie einen kennengelernt!

Als ihr klar wurde, dass wir sie verstanden hatten, errötete sie. »Ich war sehr privilegiert und bis zu diesem Zeitpunkt kein sehr nettes Mädchen. Ich habe es nicht anders gekannt. Wir haben auf einem Anwesen in der Nähe von New York gewohnt und hatten eine Menge Bedienstete, die alles für uns erledigten. Ich war ziemlich verwöhnt. Als meine Eltern starben, übernahm meine Großmutter ihre Anteile an dem Unternehmen. Es wird von einem Vorstandsvorsitzenden und einem Geschäftsführer geleitet, also kümmerte sich meine Großmutter um ihre eigenen Geschäfte im Immobilienbereich. Sie war …« Emery hielt inne und starrte auf den Boden. Ich beobachtete, wie sie ihre Hände knetete. »Sie war sehr streng. Ja, wirklich sehr streng.«

»Was ist passiert?«, fragte Bailey leise und gespannt. »Mit deiner Großmutter.«

Aus meiner Handtasche dröhnte plötzlich Whole Lotta Love von Led Zeppelin, und wir zuckten alle zusammen.

Jess warf mir einen missbilligenden Blick zu, und ich unterdrückte ein nervöses Lachen. »Tut mir leid.« Ich wandte mich zu Emery um und sah sie ernst an. »Ganz ehrlich.« Ich kramte in meiner Handtasche, um mein Handy abzuschalten, doch dann sah ich, dass der Anruf von meinem Dad kam.

Als Michael Sullivan vor zwei Monaten in Emerys Laden aufgetaucht war, war mir bereits der Verdacht gekommen, dass das kein Zufall gewesen war.

Der einzige Mensch in meiner Familie, der wusste, dass ich in Hartwell lebte, war mein Dad.

Ich rief ihn an und fragte ihn nach Michael, und er erzählte mir, dass Michael sich gerade von seiner Frau trennte. Er hatte ihm empfohlen, in Hartwell Urlaub zu machen – ohne Michael zu verraten, dass ich dort wohnte. Und mir hatte er verschwiegen, dass Michael auf dem Weg hierher war und mir die ganze Woche verderben würde. Mir war klar, was mein Dad sich von Michaels Urlaub erhofft hatte.

Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass Michael seiner Ehe noch eine Chance geben und gemeinsam mit seiner Frau hier einen romantischen Urlaub verbringen wollte. Für mich war es kein Schock, dass er verheiratet war. Schließlich war er ein guter Fang. Aber es bereitete mir quälende Schmerzen.

Es ist wohl verständlich, dass ich ziemlich sauer auf meinen Dad war.

Und ich liebte meinen Dad.

Ich betete meinen Vater an.

Er war der Einzige in der Familie, der mich wirklich verstand, und ich telefonierte alle zwei Tage mit ihm. Doch seit Michaels Erscheinen in Hartwell war die Stimmung zwischen uns irgendwie ungut. So unangenehm, dass ich bereits mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Boston zu fahren, um diese kleine Missstimmung zwischen uns zu beheben. Ich war schon seit neun Jahren nicht mehr in Boston gewesen, was zeigt, wie wichtig mir die Beziehung zu meinem Vater war.

Wenn mein Dad mich anrief, ging ich ans Telefon.

Immer.

»Entschuldigt bitte, Mädels, aber den Anruf muss ich annehmen.« Ich drückte auf die grüne Taste an meinem Telefon. »Hey, Dad. Was gibt’s?«

»Hallo, Bluebell.«

Die kräftige Stimme meines Dads mit dem starken Bostoner Akzent gehörte für mich üblicherweise zu den schönsten Klängen auf dieser Welt. Ich hatte im Laufe der Jahre meinen Akzent abgelegt, und wenn ich mit Dad sprach, erinnerte mich das immer an zu Hause.

Heute verspannte ich mich jedoch plötzlich. Nicht wegen des Kosenamens. Mein Dad hatte mich schon als Kleinkind Bluebell genannt, weil meine Augen genau die Farbe von Blauglöckchen hatten. Meine Geschwister hatten alle von meiner Mutter haselnussbraune Augen geerbt – nur ich hatte die Augenfarbe von meinem Dad. Und sein Grübchen.

Es war also nicht mein Spitzname, der mich einen Augenblick lang erstarren ließ, sondern der Ton in der Stimme meines Vaters. Etliche Szenarien spielten sich vor meinem geistigen Auge ab. »Geht es allen gut?«

»Ja, alle sind wohlauf. Aber ich muss dir etwas sagen, und es fällt mir sehr schwer, das am Telefon zu tun.«

Vor Angst war ich an meinem Stuhl wie festgewurzelt. »Dad …?«

Das leise Gemurmel meiner Freundinnen verstummte, und sie sahen mich besorgt an.

»Ich weiß, du bist eine erwachsene Frau und kannst sicher gut damit umgehen, aber … Nun ja, Bluebell, deine Mom und ich lassen uns scheiden. Sie ist letzte Woche ausgezogen.«

Ich hatte das Gefühl, als würde mein Herz plötzlich stillstehen. »Dad?«

Das verstand ich nicht.

Die Beziehung zu meiner Mutter war in die Brüche gegangen, aber bisher hatten Sorcha und Cian McGuire alle Probleme des Lebens gemeinsam gelöst. Wie konnten sie sich jetzt scheiden lassen?

Mein Dad liebte meine Mom.

Er liebte sie.

»Hat sie dich verlassen?«

»Wir haben diese Entscheidung in gegenseitigem Einvernehmen getroffen, Schätzchen. Zwischen uns hat es einfach nicht mehr geklappt.«

»Das begreife ich nicht.«

»Ich liebe dich, Dahlia, das weißt du. Aber wie ich bereits deinen Brüdern und Davina gesagt habe, ist das eine Sache zwischen eurer Mom und mir.«

Er klang erschöpft.

Und traurig.

Und niedergeschlagen.

Die Vorstellung, dass mein Dad sich so fühlte und er diese Sache mit meiner Mutter ohne mich hatte durchmachen müssen … Wer weiß, wie lange das schon so ging, und ich war nicht bei ihm gewesen …

Schuldgefühle stiegen in mir auf.

Ich stieß die Worte hervor, ohne darüber nachzudenken: »Ich komme nach Hause.«

Er seufzte. »Bluebell, das musst du nicht tun.«

»Doch.« Der Gedanke daran verursachte mir Übelkeit, aber ich musste meinen Dad sehen. Und ihn umarmen. Er besuchte mich, wann immer es ihm möglich war, aber das reichte nicht, und jetzt musste ich ihn in die Arme nehmen und mich vergewissern, dass es ihm gut ging. »Ich nehme den nächstmöglichen Flug – ich gehe gleich nach Hause, um alles in die Wege zu leiten, und rufe dich an, sobald ich weiß, wann ich fliegen kann.«

»Ich werde nicht versuchen, dir das auszureden; ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen, meine Kleine.« Als ich an seiner Stimme hörte, wie sehr er sich auf meinen Besuch freute, schob ich alle meine Bedenken vorläufig beiseite. Was auch immer ich bei meiner Rückkehr nach Everett empfinden und womit ich möglicherweise konfrontiert werden würde – das war es mir wert.

»Ich liebe dich, Dad.«

»Und ich liebe dich. Lass mich wissen, wann du ankommst.«

»Und wenn ich da bin, reden wir, ja?«

»Natürlich.«

Wir verabschiedeten uns voneinander, und ich war so bewegt, dass sich mir die Kehle zuschnürte.

Mein Dad hatte großen Kummer, und ich war nicht bei ihm. Ich blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, und wandte mich meinen besorgten Freundinnen zu. »Meine Eltern lassen sich scheiden. Ich muss nach Boston zurück, um mich um meinen Dad zu kümmern.«

Emery und Jess umarmten mich und sagten mir, wie leid ihnen das tue. Bailey griff nach meiner Hand und erklärte, sie würde mich nach Hause begleiten.

Sie war die Einzige, die meine Geschichte kannte.

Arm in Arm traten wir auf die Uferpromenade hinaus. Die Brise vom Meer fühlte sich beißend kalt auf unseren Wangen an. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinanderher.

»Dahlia, soll ich mit dir kommen?«, fragte Bailey schließlich.

Ich schenkte meiner besten Freundin ein schwaches Lächeln. »Danke. Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen, aber wahrscheinlich braucht mein Dad im Augenblick viel Ruhe.«

»Das verstehe ich. Aber was ist mit deinen Bedürfnissen?«

Ich schaute in Baileys besorgte grüne Augen. »Neun Jahre lang hat mein Dad meine Bedürfnisse über seine gestellt. Wahrscheinlich auch über die meiner Familie. Ich bin ihm das schuldig, Bailey – ich muss jetzt für ihn da sein. Ich kann es kaum glauben, dass er das alles ohne mich durchmachen musste.« Ich atmete zittrig aus. »Ich weiß, dass er meine Mom liebt. So sehr, wie du Vaughn liebst, und wie ich …«

»Michael.« Bailey zog mich an sich. »Und was ist mit Michael, Dahlia? Kommst du damit klar, wenn du ihm begegnest? Ihn mit seiner Frau siehst?«

Ich grub meine Finger in ihr T-Shirt, kämpfte mit den Tränen, die bei diesen Worten in mir aufstiegen, und erstickte beinahe daran.

Sie schlang ihre Arme noch fester um mich, als sie den Schauder spürte, der mich überlief.

Hier ging es um meinen Dad.

Und wenn mein Dad litt, dann litt ich auch.

Das war immer so, wenn es um Menschen ging, die mir am Herzen lagen.

Mein Vater brauchte mich jetzt, also musste ich mit der Tortur fertigwerden, Michael wiederzusehen. Obwohl ich bei dieser Vorstellung beinahe in Tränen ausbrach.

»Schon gut«, flüsterte ich. »Ich schaffe das.«

Meine beste Freundin fasste mich an den Oberarmen und neigte den Kopf zur Seite, um mir ins Gesicht zu schauen. »Ja, natürlich schaffst du das. Aber wir sollten uns um dein Make-up kümmern, bevor du abreist. Wenn du nach Boston zurückkommst, sollst du richtig gut aussehen – und sexy.«

Ich verdrehte die Augen und stöhnte. »Es geht nur um meinen Dad und um sonst nichts.«

Sie folgte mir, als ich weiter die Promenade entlangging. »Das heißt nicht, dass du dabei nicht gut aussehen kannst. Du würdest mir dasselbe raten, wenn es um Vaughn ginge.«

»Vaughn ist nicht verheiratet! Außerdem kehre ich wegen einer sensiblen Angelegenheit in meine Heimatstadt zurück, also ist deine Bemerkung ziemlich unpassend.«

Wir gingen schweigend an der italienischen Pizzeria Antonio’s vorbei, die unserer Freundin Iris und ihrem Mann Ira gehörte.

Als wir uns meinem Laden näherten, fragte Bailey: »Du nimmst aber doch das blaue Kleid mit, oder?«

Ich wusste genau, welches Kleid sie meinte, und warf ihr einen strengen Blick zu. Aber als ich dann noch einmal darüber nachdachte … »Welche Schuhe soll ich dazu einpacken?«

Bailey grinste, und wir diskutierten den ganzen Weg zu meinem hinter meinem Laden geparkten Wagen darüber, warum ich eingewilligt hatte, das blaue Kleid mitzunehmen. Und damit war es ihr gelungen, mich für den Moment von den Problemen meines Dads abzulenken.

Das war eines von Bailey Hartwells größten Talenten.