Das Haus meiner Kindheit sah viel kleiner aus, als ich es in Erinnerung hatte. Es war ein zweistöckiges Gebäude im Nordosten von Everett, das sich meine Eltern nicht hätten leisten können, wenn sie es nicht von meinen Großeltern geerbt hätten. Mein Großvater starb, als Dad noch ein Kind war, und nach Darraghs Geburt zogen er und meine Mom zu meiner Großmutter väterlicherseits in das Haus ein. Zwei Monate vor meiner Geburt starb Großmutter, also lernte ich sie nie kennen. In ihrem Testament bestimmte sie, dass Dad das Haus bekommen sollte.
Steinstufen führten zu der blauen Haustür hinauf. Dad hielt die weißen Holzschindeln sauber und strich sie alle paar Jahre neu, und die grauen Dachschindeln aus Schiefer hatte er, wie er mir erzählte, im letzten Jahr erneuert. Blaue Fensterläden zierten das Frontfenster und die beiden kleinen Fenster im Obergeschoss. Der Seiteneingang wirkte wie eine kleinere Ausgabe der Vordertür und führte in die Küche, den größten Raum des Hauses.
Die Küche war renoviert worden, und das Wohnzimmer war frisch gestrichen. Dennoch hing noch der gleiche Duft in der Luft, der schwer zu beschreiben war – es war eine Mischung aus verschiedenen Gerüchen, die das Haus im Laufe der Jahre angenommen und in den Wänden gespeichert hatte. Möbelpolitur, Moms Rostbraten und ein im Haus der McGuires einzigartiges Aroma.
Dad führte mich zu Dermots und Darraghs altem Zimmer. Früher hatte es hier gerochen wie in einem Umkleideraum für Jungen, und man hatte kaum einen Fuß vor den anderen setzen können, weil der Boden mit allen möglichen Sachen übersät gewesen war. Jetzt war es ein ordentlich aufgeräumtes Gästezimmer mit zwei Einzelbetten, auf denen einfaches graues Bettzeug lag.
»Ich habe mir gedacht, dieses Zimmer wäre dir lieber«, sagte Dad mit rauer Stimme.
Ich warf einen Blick über die Schulter auf die geschlossene Tür hinter uns. Dort befand sich das Zimmer, das ich mir mit Davina und Dillon geteilt hatte. Wir hatten ständig gestritten, weil wir dort eng zusammengepfercht waren. Dann ging Davina aufs College, und Dillon und ich blieben zurück.
Dad hatte recht. In diesem Zimmer wollte ich nicht schlafen.
»Danke.« Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ging in das frühere Zimmer meiner Brüder.
Dad legte meinen Koffer auf eines der Betten und drehte sich zu mir um. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie schön es ist, dich wieder hierzuhaben.«
Ich betrachtete ihn. Mein Dad gehörte zu den Männern, die mit zunehmendem Alter immer attraktiver wurden. Als Feuerwehrmann hatte er sich sein ganzes Leben lang fit gehalten. Er war vom Lieutenant zum Captain und dann zum stellvertretenden Leiter aufgestiegen und hatte nun seit fast einem Jahrzehnt den Posten als Leiter des dritten Bezirks. Mittlerweile war er sechsundfünfzig und stand kurz vor der Pensionierung, allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass mein Dad sich jemals zur Ruhe setzen würde.
Üblicherweise war Cian McGuire von einer Art strahlender Energiewolke umgeben. Bei seinem harten, gefährlichen Job hatte er viele tragische Dinge erlebt, aber das hatte weder seinem Gemüt noch seinem Sinn für Humor geschadet.
Doch nun schien diese Energie verschwunden zu sein. Das einzige Mal, dass ich meinen Dad bisher in diesem Zustand gesehen hatte, war nach Dillons Tod gewesen. Und selbst damals hatte er sich seinem Kummer nicht ergeben, weil er von dem Schlamassel abgelenkt war, den ich aus meinem Leben gemacht hatte.
Ich machte mir Sorgen um ihn. »Bist du deprimiert, Dad?«
Er verdrehte die Augen. »Ich neige nicht zu Depressionen.«
»Aber du bist traurig.«
»Ich bin seit achtunddreißig Jahren verheiratet, und nun geht diese Ehe zu Ende, Bluebell.«
Verdammter Mist. »Das tut mir leid.«
Als Antwort darauf nahm er mich in die Arme, und ich schmiegte mich an ihn. Nirgendwo fühlte ich mich geborgener.
»Danke, dass du deinen alten Vater besuchst. Ich weiß, es ist nicht leicht für dich, aber es ist an der Zeit, die Vergangenheit zu begraben, findest du nicht?«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, murmelte ich, das Gesicht an seine Schulter gedrückt.
»Wir werden es gemeinsam versuchen.« Seine Stimme klang belustigt. »Betrachte es einfach als Versuch, deinen Vater von dieser interessanten Wendung abzulenken, die sein Leben soeben genommen hat.«
Ich lachte leise und war trotz meiner Ängste froh, dass er seinen Sinn für Humor nicht verloren hatte.
Bevor ich ihm Fragen über die Trennung von meiner Mom stellen konnte, wurde die Haustür geöffnet und fiel lautstark ins Schloss. Ich zuckte zusammen und wich zurück.
»Dad, bist du zu Hause?« Ich erkannte die Stimme meiner älteren Schwester.
»Davina?«, flüsterte ich.
»Dad?«, rief eine Männerstimme.
»Darragh?«
Dad zuckte mit den Schultern und wirkte nur ein kleines bisschen schuldbewusst. »Ich habe ihnen gesagt, dass du kommst, und sie wollten beide hier sein.«
»Dad!«, schrie Davina.
»Hier oben«, erwiderte er.
»Ist Dahlia auch hier?« Ich konnte Darraghs Tonfall nicht so recht deuten.
»Ja.«
In meinen Ohren rauschte das Blut. Gleich würde ich nach neun Jahren meine Geschwister zum ersten Mal wiedersehen.
Nach neun Jahren.
War es tatsächlich schon so lange her? Es kam mir nicht so lang vor.
»Scheiße«, stieß ich hervor.
Dad drückte meine Schulter. »Das ist wie bei einem Heftpflaster, das man abreißen muss, Bluebell. Augen zu und schnell durch.«
Über die Jahre hinweg hatte Dad mir immer wieder Fotos von meiner Familie geschickt und mich in unseren wöchentlichen Telefonaten auf dem Laufenden gehalten. Darragh war siebenunddreißig und Sportreporter für den Boston Globe. Der Glückspilz hatte die Pats, die Sox, die Celts und die Bruins schon viele Male getroffen, und ich war sehr stolz auf ihn. Dad hatte mir erzählt, dass Darragh und seine Frau Krista (ich hatte sie kennengelernt, bevor alles den Bach hinuntergegangen war, und sie sehr sympathisch gefunden) sich ein paar Straßen weiter in Everett ein hübsches Häuschen gekauft hatten. Sie hatten zwei Söhne, Leo und Levi. Bei ihrer Geburt hatte ich meinen Laden zugesperrt, untröstlich, weil ich nicht bei ihnen sein konnte. Am Boden zerstört, weil ich sie niemals sehen würde. Ich ließ ihnen über Dad Geschenke zukommen, und das behielt ich auch an jedem Weihnachtsfest und an ihren Geburtstagen bei. Auch meinen Geschwistern schickte ich Päckchen, und Dad richtete mir immer ihren Dank aus, aber ich wusste nicht, ob sie ihn tatsächlich damit beauftragt hatten. Zumindest kamen die Präsente nie zurück.
Davina war die Zweitälteste und mittlerweile fünfunddreißig. Sie hatte eine sehr erfolgreiche Karriere als Investmentbankerin gemacht. Ich wusste zwar nicht, was das war, aber Davina konnte sich eine große Wohnung in Bunker Hill leisten. In den neun Jahren meiner Abwesenheit hatte sie einen Mann geheiratet, den ich nie kennengelernt hatte. Nach zwei Jahren ließen sie sich scheiden, und vor drei Jahren hatte meine große Schwester ihr Coming-out.
Sie zog mit Astrid zusammen, einer Frau, mit der sie bereits im College befreundet gewesen war. Es tat mir in der Seele weh, dass meine Schwester ihre Freundin schon seit Jahren liebte, es aber nicht hatte zugeben können. Dad meinte, Davina sei nun glücklicher als je zuvor, aber ich bedauerte es sehr, dass ich nicht für meine große Schwester da gewesen war, als sie mich gebraucht hatte. Vorwürfe machte ich mir vor allem, weil ich bei Davinas Coming-out meine selbst gewählte Isolationsblase nicht verlassen hatte.
Ich empfand Reue, weil ich meiner Familie nicht zur Seite gestanden hatte, und das betraf insbesondere meine beiden älteren Geschwister. Dermot war zwar ebenfalls älter als ich, aber nur achtzehn Monate, und war eher ein nerviger älterer Bruder für mich, während Darragh und Davina mir immer mehr als das bedeutet hatten.
Meine Eltern arbeiteten beide sehr viel, und daher hatten sich Darragh und Davina um uns jüngere Geschwister kümmern müssen. Mein großer Bruder und meine große Schwester hatten also einen Teil meiner Erziehung übernommen, und ich liebte sie heiß und innig.
Es machte mir Angst, ihnen jetzt wieder zu begegnen. Und ihre Enttäuschung und Empörung zu sehen.
Wie erstarrt schaute ich auf meine Füße. »Dad, ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Bluebell, sie sind nicht gekommen, um dich ans Kreuz zu nageln«, beruhigte er mich. »Sie sind hier, weil sie dich seit neun Jahren nicht mehr gesehen haben. Ich will nicht behaupten, dass sie nicht möglicherweise ein wenig verärgert und verletzt sind, aber es ist an der Zeit, daran zu arbeiten. Und die Kluft zu überwinden.«
Dad wartete meine Antwort nicht ab. Er griff nach meiner Hand und führte mich die Treppe hinunter. Meine Knie wurden weich, und ich fragte mich, ob sie mein flaches, abgehacktes Atmen hören würden.
Das Wohnzimmer war leer.
Sicher tat ich meinem Dad weh, als ich seine Hand drückte.
Mir war bewusst, dass ich mich wie ein kleines Mädchen an ihn klammerte, doch ich konnte ihn auf dem Weg in die Küche einfach nicht loslassen.
Tränen, die ich jahrelang zurückgehalten hatte, schossen mir in die Augen, als ich meinen Bruder und meine Schwester erblickte. Sie hielten Kaffeetassen in den Händen und lehnten sich an den Küchentresen. Von den Fotos wusste ich bereits, dass Darragh inzwischen meinem Dad sehr ähnlich sah. Und Davina glich meiner Mom, auch wenn ihr Stil ganz anders war. Mom hatten wir fast immer nur in ihrer Krankenschwesterntracht gesehen. Davina trug ihr Haar ähnlich wie ich – lange, zerzauste Wellen, allerdings ohne Pony. Die eng anliegende Jeans und das einfache schwarze T-Shirt passten zu dem stylishen Blazer mit Nadelstreifen. Ihre hübschen flachen Schuhe hatten sicher viel Geld gekostet. Eigentlich wirkte alles an meiner Schwester – von der legeren Kleidung bis zum dezenten Make-up – hochwertig und teuer.
Von Dad hatte ich meine Augenfarbe und das Grübchen auf meiner linken Wange geerbt und von meiner Großmutter väterlicherseits die kurvige Statur. Davina war (wie auch Dillon es gewesen war) hochgewachsen und schlank wie Mom. Mir hatte das Schicksal bedauerlicherweise weder Moms Größe noch ihre Figur mitgegeben.
Als ich die beiden musterte und feststellte, wie gut sie aussahen, erfüllte mich das mit Stolz. Wir kamen aus einer irisch-amerikanischen Arbeiterfamilie, und nun war mein großer Bruder Sportreporter für den Boston Globe, und meine große Schwester arbeitete in einem Büro im Bankenviertel. Und, was noch besser war, sie hatten beide ein erfülltes Privatleben. In mir stieg ein bittersüßes Gefühl empor. Ich hatte das alles versäumt, und das war allein meine Schuld.
Darragh stellte seine Tasse auf die Arbeitsfläche, und ich wappnete mich, als er zielstrebig durch die Küche auf mich zukam.
Ohne ein Wort zu sagen, zog er mich an sich und drückte mein Gesicht an seine warme Brust.
Er umarmte mich.
Tränen, die sich jahrelang in mir aufgestaut hatten, brachen nun hervor, und ich schlang meine Arme um seinen breiten Rücken und begann zu schluchzen.
»Schhh, kleine Schwester.« Er versuchte, mich zu beruhigen, und verstärkte seinen Griff.
Aber ich konnte nicht aufhören.
Heiße Tränen, in denen der ganze Schmerz eines Jahrzehnts lag, strömten mir übers Gesicht.
»Dahlia, bitte«, sagte er nach einer Weile mit erstickter Stimme.
Ich versuchte, mich zu beherrschen und mein Schluchzen zu unterdrücken. Schließlich verstummte ich, aber mein Körper bebte immer noch, während mir die letzten Tränen über die Wangen rollten.
Darragh schob mich sanft von sich, und ich ließ ihn los, um mir das Gesicht abzuwischen. Dad gab ihm ein Päckchen Taschentücher, und er reichte es mir, damit ich mir die Augen trocknen konnte. Sicher sah ich inzwischen aus wie ein Pandabär.
Mein Bruder wirkte angespannt, und seine haselnussbraunen Augen glänzten feucht.
Peinlich berührt von meiner Reaktion auf seine Umarmung, warf ich rasch einen Blick zu Davina hinüber und erstarrte. Sie konnte sich offensichtlich ebenfalls nicht zurückhalten und weinte leise.
Als ich ihren Schmerz sah, flossen auch bei mir wieder Tränen. »Es tut mir so leid.«
»Was tut dir leid?«, fragte sie gereizt und wischte sich übers Gesicht.
»Alles.«
»Nun, das ist das eigentliche Problem, oder? Du hast dir die Schuld für etwas gegeben, wofür du nichts konntest, und bist davongelaufen. Das werfe ich dir nicht vor, Dahlia. Aber ich kreide dir an, dass du die letzten neun Jahre meines Lebens verpasst und dafür gesorgt hast, dass ich in dieser Zeit nicht an deinem Leben teilhaben konnte.«
»Wir sollten uns setzen.« Dad legte mir eine Hand auf den Rücken.
Sein Vorschlag kam meinen zittrigen Beinen entgegen. Dad setzte sich neben mich, und Darragh nahm mit Davina gegenüber von mir Platz, nachdem er mir tröstlich die Schulter gedrückt hatte.
Ich liebte meinen großen Bruder wirklich sehr.
Erst jetzt wurde mir bewusst, wie schmerzlich ich ihn vermisst hatte.
»Wo bist du gewesen?«, wollte Davina wissen.
Ich öffnete den Mund, um ihr zu antworten, doch zu unser aller Überraschung kam mir Darragh zuvor. »Hartwell, Delaware.«
»Woher weißt du das?«, fragte Dad verblüfft.
Darragh warf ihm einen finsteren Blick zu. »Hast du tatsächlich geglaubt, ich würde mich auf dein Wort verlassen, dass es ihr gut geht? Ich liebe und respektiere dich, Dad, aber … sie ist meine kleine Schwester. Du hättest dir doch denken können, dass ich mich selbst davon überzeugen würde.« Er wandte sich an mich. »Ich habe einen Privatdetektiv beauftragt. Er hat dich in Hartwell ausfindig gemacht und mir berichtet, dass du in Ordnung seist, also habe ich es dabei belassen.«
Ich war schockiert. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich habe befürchtet, Dad würde dir davon berichten und du würdest dann wieder davonlaufen.«
Beschämt über diese Vermutung, schüttelte ich den Kopf. »Das hätte ich nicht getan, Darragh. Hartwell war zwar zuerst ein Versteck für mich, aber dann ist es zu meinem Heim geworden.«
»Das ist also jetzt dein Zuhause.« Davinas haselnussbraune Augen funkelten zornig, als sie sich zu unserem großen Bruder umwandte. »Hast du dir nie überlegt, dass ich wissen wollte, wo sie steckt?«
»Du wärst dorthin gefahren.«
»Natürlich!« Sie wandte sich an mich. »Ich hätte dich sofort an den Haaren nach Hause geschleift.«
»Davina«, mahnte mein Dad.
»Hör auf, sie in Schutz zu nehmen«, fauchte sie. »Sie ist eine erwachsene Frau und kann für sich selbst sprechen!«
»Davi«, flüsterte ich bekümmert.
»Nenn mich nicht so.«
Das traf mich wie ein Schlag in die Magengrube.
Davi war mein Spitzname für sie – nur ich nannte sie so.
»Meine Güte, Davina«, warf Darragh ein. »Wir waren uns doch einig, dass wir ihr das nicht antun wollten.«
»Das hätten wir schon vor langer Zeit tun sollen.«
Ich wollte, dass sie mich verstanden. »Ich konnte nicht nach Hause kommen.«
»Natürlich hättest du das tun können.«
»Nein, ich konnte nicht.«
»Doch.«
»Es war nicht möglich.«
»Aber natürlich.«
Ich verlor die Geduld. »Nein, ich konnte nicht!«, schrie ich.
Davina lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und riss die Augen auf.
»Es tut mir leid.« Ich verzog das Gesicht. »Ich … Ihr wisst ja nicht …« Nicht einmal mein Dad wusste es, und das machte es umso erstaunlicher, dass er sich all die Jahre um mich gekümmert und mich beschützt hatte.
Aber jetzt, da sich meine Eltern getrennt hatten und Mom nicht mehr hier war, konnte ich alles erklären. Mir wurde klar, dass ich nur aus diesem Grund stark genug gewesen war, um nach Hause zurückzukehren. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich meiner Familie gegenübertreten und das begreifen konnte.
Ich wusste, dass ich damit die vielen Jahre, in denen ich mich feige versteckt hatte, nicht auslöschen konnte, aber vielleicht konnte ich nun einige Fragen beantworten.
Also erzählte ich an einem ruhigen Sonntagnachmittag meiner Familie in dem Haus meiner Kindheit die ganze Geschichte. Es war schmerzhaft und schwierig, und ich fand es peinlich, das zugeben zu müssen, aber ich erzählte ihnen alles, weil ich sie zurückhaben wollte. Bevor ich sie wiedergesehen hatte, war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich mir das gewünscht hatte. Und wenn ich dafür nun alle Karten auf den Tisch legen musste, würde ich das tun.
Ich musste meine Mutter nicht mehr in Schutz nehmen.
Als ich meine Geschichte beendet hatte, wischte sich Davina schweigend ein paar Tränen von den Wangen, Darraghs Gesicht war blass, und er wirkte mitgenommen, und mein Dad … Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen.
Er schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und stürmte aus der Küche.
»Dad!« Meine Stimme war tränenerstickt. Ich wollte ihm nachlaufen.
»Nein.« Darragh streckte einen Arm über den Tisch und griff mich am Handgelenk. »Lass ihn gehen.«
»Warum hast du uns das nicht erzählt?« Davina schüttelte den Kopf.
»Weil sie nicht recht hatte, aber irgendwie doch. Und weil ihre Tochter soeben gestorben war und weil ich … Ich wollte nicht, dass ihr sie hasst.«
»Dafür ist es nun zu spät.« Davina verzog die Lippen.
Angst beschlich mich. »Davina, sie war nicht ganz bei Sinnen.«
»Ach ja? Und ist das immer noch so? Seit ich mein Coming-out hatte, tut sie nämlich so, als sei sie immer noch meine Mutter und als mache es ihr nichts aus, dass ich lesbisch bin, aber sie hat mich noch nie in meiner Wohnung besucht. Sie hat Astrid und mich noch nie zum Abendessen eingeladen, außer an Thanksgiving, wenn die ganze Familie hier war. Aber lassen wir einmal ihre heimliche Homophobie beiseite – sie hat dich aus ihrem Leben gestrichen. Sie spricht nicht über dich, lässt es nicht zu, dass andere dich erwähnen, und hat sich benommen, als wäre alles deine verdammte Schuld!« Davina schob ihren Stuhl vom Tisch zurück.
»Davina«, ermahnte Darragh sie.
»Nein!«, sagte sie schluchzend. »Ich hasse sie, Dar. Ich hasse sie.«
»Komm her.« Er stand auf und umarmte meine weinende Schwester. Mein armer Bruder. Ich fragte mich, ob er gewusst hatte, dass er den Großteil des Tages seine kleinen Schwestern würde trösten müssen.
Mir war klar, dass Davina nicht nur wegen mir weinte. Mein Herz war bereits zerrissen, aber Davinas Bekräftigung, dass meine Mutter mich aus ihrem Leben verbannt hatte, fühlte sich an, als hätte mir jemand ein Messer in den Bauch gerammt. Und nun wurde das Messer noch herumgedreht, als ich begriff, dass Mom nicht nur mich, sondern auch meine große Schwester sehr verletzt hatte. Davinas Beziehung zu Sorcha McGuire war der Auslöser für ihren Schmerz. Ich war nicht die einzige Tochter, die meine Mutter nicht akzeptieren konnte. Anscheinend hatte sie sich nicht wirklich mit Davinas Homosexualität abfinden können. Ich wusste, was es bedeutete, wenn man Moms eiskalte Missbilligung zu spüren bekam. Gleichgültig, ob man fünf, fünfzehn oder fünfzig Jahre alt war – das Gefühl, dass ein Elternteil einen nicht liebte oder akzeptierte, war eine der schlimmsten Verletzungen, die einem zugefügt werden konnten.
Ich wünschte, ich wäre für Davina da gewesen.
Es tröstete mich jedoch, dass sie und Darragh sich augenscheinlich sehr nahestanden. Sie waren füreinander da. Ich warf einen Blick über die Schulter auf die Tür, durch die Dad soeben hinausgestürmt war, und biss mir auf die Unterlippe. Plötzlich ergab die Trennung von Mom und Dad einen Sinn. Cian McGuire liebte seine Kinder mehr als alles andere auf dieser Welt. Wir waren sein Leben. Ohne Zweifel hatte die Art und Weise, wie meine Mutter zwei ihrer Töchter behandelt hatte, ihre Ehe belastet.
Und er hatte noch nicht die ganze Geschichte gekannt.
Bis heute.
Meine Besorgnis wuchs.
Vielleicht hätte ich doch schweigen sollen, um Dad nicht zu verletzen.
»Hör auf damit.«
Davinas scharfe Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie und mein Bruder lagen sich nicht mehr in den Armen. Stattdessen sah sie mich an, und auf ihrem Gesicht spiegelten sich unzählige Gefühle wider. »Sitz nicht so da und mach dir Sorgen darüber, dass du Dad die Wahrheit nicht hättest sagen sollen. Das war schon lange überfällig, und du hast das Richtige getan. Er ist nicht böse auf dich – er ist wütend auf sich selbst.«
»Ich weiß, wie sich das anfühlt, und, ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, er wäre wütend auf mich.«
Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln, das mein Herz schneller schlagen ließ. »Manche Dinge ändern sich nie. Ich bin dir immer noch böse, Dahlia, aber du bist nicht aus egoistischen Gründen davongelaufen. Du bist gegangen, weil du ihn beschützen wolltest – und uns vor der Wahrheit bewahren.«
»Stell mich nicht als edlen Charakter dar. Ich habe zu viel getrunken und brauchte eine Therapie.«
»Stimmt.« Sie ging um den Tisch herum und streckte mir eine Hand entgegen. »Doch jetzt verstehe ich die Gründe dafür. Ich nehme es dir immer noch übel, dass du nicht früher zurückgekommen bist, aber ich begreife nun, warum das so war.«
Ich ergriff ihre Hand, ließ mir von ihr hochhelfen und schlang meine Arme um sie, bis sie ein kurzes Lachen ausstieß. »Du hast mir gefehlt.«
»Du hast mir auch gefehlt, kleine Schwester.«
»Es tut mir leid, dass ich nicht für euch da war. Bei allem.« Ich schaute Darragh an. »Tut mir sehr leid.«
Er nickte. »Ich weiß.«
Schniefend trat ich einen Schritt zurück. »Wir haben einiges nachzuholen.«
»Allerdings«, stimmte Darragh mir zu. »Krista würde sich freuen, wenn du diese Woche zum Dinner kommst. Die Jungen können es kaum erwarten, ihre Tante Dahlia, von der sie jedes Jahr so tolle Geschenke bekommen, endlich kennenzulernen.«
Mir ging das Herz auf. »Sie wissen, wer ich bin?«
»Meine Güte, natürlich, Dahlia.«
Trotz meiner Vorfreude war mir ein wenig beklommen zumute. »Ich bin schon sehr gespannt auf sie. Dad hat mir Fotos von ihnen geschickt – ich hoffe, das macht dir nichts aus.«
»Ich habe ihm diese Bilder für dich gegeben.«
Unwillkürlich schluchzte ich noch einmal auf.
Jahrelang hatte ich mich davor gefürchtet, nach Hause zurückzukehren.
Nun konnte ich das nicht mehr begreifen.
Meine Familie war verdammt großartig!
»Wenn ich …« Ich hickste. »Wenn ich nicht … Wenn ich nicht aufhöre zu weinen …, dann bin ich sicher bald vollkommen ausgetrocknet!«
Meine Geschwister brachen in ein unangemessenes Gelächter aus, und ich warf ihnen einen zornigen Blick zu.
Davina legte mir einen Arm um die Schulter und zog mich an sich. »Wie schön zu sehen, dass unsere Dahlia immer noch eine Heulsuse ist.«
»Ich sehe furchtbar aus, oder?«
»Allerdings.«
Die Antwort löste bei mir eine weitere Tränenflut und bei meinen Geschwistern einen neuen Lachanfall aus.
Wie gemein.
Ich liebte sie wirklich sehr.
Nach einer Weile kam Dad wieder zurück; er schien sich beruhigt zu haben. Wir kannten ihn gut genug, um nicht weiter in ihn zu dringen. Er wollte nicht über seine Gefühle sprechen, und obwohl ich das sehr gerne getan hätte, ließ ich es lieber bleiben.
Eigentlich sollte nun zwischen Darragh, Davina und mir alles wieder in Ordnung sein, aber ganz so einfach war es nicht. Darragh hatte mir in dem Moment verziehen, in dem er mich wiedergesehen hatte. So war mein großer Bruder eben. Er glich in seinem Wesen so sehr meinem Vater, dass mich sein herzlicher Empfang nicht hätte verwundern sollen.
Und Davina verstand mich nun etwas besser und würde sich bemühen, mit allem klarzukommen. Doch es waren neun Jahre vergangen, in denen wir nichts vom Leben des anderen mitbekommen hatten, und als wir am Tisch saßen und uns unterhielten, entstanden einige peinliche Situationen, wenn jemand etwas aus der Vergangenheit erwähnte, womit die anderen nichts anzufangen wussten.
»Ich kann es nicht fassen, dass du all die Jahre den Laden von Tante Cecilia geführt hast«, murmelte Davina.
Als ich nach Dillons Tod an der Flasche hing, hatte Dad nur eine Möglichkeit gesehen, mich aus dieser Krise zu retten – er musste mich aus der Stadt bringen. Seine jüngere Schwester Cecilia hatte den Laden an der Promenade von ihrem ersten Mann geerbt, der ihr außerdem noch ein prall gefülltes Bankkonto hinterlassen hatte. Dad wusste, dass Cecilia mit dem Gedanken spielte, das Geschäft zu verkaufen, und überredete sie dazu, es stattdessen an mich zu verpachten.
Vor zwei Jahren starb diese wunderbare Frau auf einer Reise durch Europa und vermachte mir den Laden. Nun gehörte er mir.
»Du hast gesagt, Tante Cecilia habe das Geschäft verkauft.« Meine Schwester sah Dad mit zusammengekniffenen Augen an.
»Sie hat es an Dahlia verpachtet.«
»Und dann hat sie es mir in ihrem Testament vermacht.«
Davina riss die Augen auf. »Wie nett von ihr.«
»Sie war wirklich eine nette Frau. Sehr liebenswürdig.« Der Gedanke an Tante Cecilia machte mich traurig. Aus jeder Stadt, die sie besuchte, schrieb sie mir einen Brief. Und ich antwortete ihr per E-Mail, weil ich nie wusste, wann sie weiterreiste. Cecilia bevorzugte jedoch die alte Form der Kommunikation, und das fand ich sehr liebenswert.
»Ich kann es kaum erwarten, den Laden zu sehen«, erklärte Darragh. »Krista und ich würden gerne mit den Kindern in diesem Sommer dort Urlaub machen. Und ein wenig Zeit mit dir verbringen.«
»Warte mal, du gehst wieder zurück?« Davina runzelte die Stirn.
Mit einem Mal flammte die alte Verletzung zwischen uns wieder auf. Ich nickte zögernd. »Ich wohne dort.«
Bevor sie antworten konnte, flog die Haustür auf, und wir hörten schwere Schritte. »Dad!«
Dermot.
Mist.
Als wir heranwuchsen, stellte sich heraus, dass Darragh, Davina und ich etliche Charakterzüge von Dad geerbt hatten, während Dermot und Dillon eher Mom glichen.
Ich versteifte mich.
»Hier drin«, erwiderte Dad, und als Dermots Schritte sich näherten, wuchs spürbar die Anspannung am Tisch.
Und dann stand er vor uns.
Er ließ den Blick über den Tisch schweifen, bevor er mich ins Visier nahm. Dermots Wesensart glich zwar der meiner Mom, aber er sah aus wie mein Dad und Darragh. Als er mich sah, weiteten sich seine Nasenflügel.
»Mom hat dieses verdammte Haus erst vor fünf Minuten verlassen, und schon ist dieses Miststück wieder hier.«
Mein Brustkorb zog sich vor Schmerz zusammen.
Darragh sprang von seinem Stuhl auf. »Pass auf, was du sagst!«
»Ihr habt ihr vergeben?« Er starrte meine Familie an. »Sie ist abgehauen, hat uns völlig vergessen und dann Dad gegen Mom aufgebracht.«
»Oh, Dermot, hast du dich etwa von Moms miesen Lügen beeinflussen lassen? Du kannst dir anscheinend keine eigene Meinung bilden und hast keine Ahnung davon, was geschehen ist«, stieß meine Schwester wütend hervor.
»Mom war in den letzten neun Jahren hier. Doch jetzt ist sie plötzlich hereingeschneit und hat euch offensichtlich irgendeinen Mist über Mom erzählt, und ihr glaubt ihr?«
»Neun Jahre hin oder her – das ändert nichts an der Tatsache, dass ich Mom und Dahlia kenne … Ja, ich weiß, wem ich glauben kann.«
Dermot schüttelte empört den Kopf und wandte sich an Dad. »Das ist Moms Haus, und unabhängig davon, was zwischen euch im Moment abläuft, ist es eine verdammte Schande, dass du diesen Abschaum hier hereinlässt.«
Die Akzeptanz meines Bruders und meiner Schwester hatten mich zu Tränen gerührt, doch angesichts von Dermots Gehässigkeit erstarrte ich zu Eis. Ich ließ keine Gefühle zu, seine Worte waren zu verletzend. Da wir fast im gleichen Alter waren, hatten wir in unserer Jugend viel Zeit miteinander verbracht. Wir hatten gemeinsame Freunde gehabt und waren Freunde gewesen. Allerbeste Freunde.
Jetzt hasste er mich.
Dad erhob sich langsam von seinem Stuhl, und Dermot trat verunsichert einen Schritt zurück. Unser Vater wurde sehr selten wütend, aber wenn es einmal so weit kam, dann zeigte er nicht das für Iren typische Aufbrausen mit lauter Stimme und Flüchen.
Er wurde dann ganz ruhig.
»Das ist mein Haus.« Seine Stimme klang leise und bedrohlich. »Und das ist meine Tochter.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Entweder du respektierst das, oder du drehst dich jetzt sofort um und verschwindest von hier.«
Dermots Miene zeigte deutlich, wie verletzt er war. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Meine Güte, ihr seid alle blind.«
Damit stürmte er hinaus.
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich in der Küche aus, als Dad sich resigniert wieder an den Tisch setzte.
Ich betrachtete meine Familienmitglieder, die wiederum mich besorgt anstarrten.
Obwohl ich innerlich aufgewühlt war, versuchte ich, die Stimmung zu heben, und zuckte mit den Schultern. »Das war nicht so schlimm wie damals, als er einen Haufen Hundescheiße in Zeitungspapier gepackt und unter mein Bett gelegt hat.«
Wie ich gehofft hatte, lachten alle leise, erleichtert darüber, dass die Anspannung nachließ.