Kapitel vier

DAHLIA

Darragh und Davina wollten offensichtlich noch nicht nach Hause gehen. Nachdem sie ihre Partnerinnen Krista und Astrid am Telefon hatten wissen lassen, dass sie nicht zum Abendessen kommen würden, bestellten wir uns etwas zu essen von einem chinesischen Lokal. Mir kam es so vor, als befürchteten sie, ich würde wieder verschwinden, sobald sie mich verließen. Trotz meiner Selbstvorwürfe und der Gewissheit, dass es nicht einfach sein würde, die Vergangenheit zu bewältigen, wurde mir bewusst, dass mich mein Bruder und meine Schwester immer noch liebten.

Sie erzählten mir viel über ihr Leben und wollten alles über Hartwell wissen. Es machte mir großen Spaß, ihnen die Leute von der Promenade zu beschreiben, vor allem Bailey. Davina wurde jedoch sehr still, als ich von Bailey sprach, und das zeigte mir, dass sie immer noch ein wenig böse auf mich war. Bailey wusste viel mehr über mein Leben als alle anderen.

Nach allem, was ich ihnen in der Küche erzählt hatte, war es nicht verwunderlich, dass sie mich nicht nach meinem Liebesleben fragten. Wahrscheinlich hatten sie Angst, ich würde dann sofort wieder in Tränen ausbrechen. Doch das würde nicht geschehen. Auch wenn es sich nicht so angehört hatte, war ich darüber hinweg. Spätestens seit ich wusste, dass Michael verheiratet war.

Es war bereits nach zehn, als meine Geschwister aufbrachen. Wie es ihnen jetzt ging, wusste ich nicht, aber ich war emotional erschöpft. Wir tauschten Telefonnummern aus, und sie umarmten mich zum Abschied. Davina lud mich für Donnerstag zum Dinner bei sich und Astrid ein, damit ich nicht allein im Haus bleiben musste, wenn Dad arbeitete. Darragh hatte mich und Dad bereits für Mittwochabend zum Essen eingeplant.

Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, breitete sich Schweigen zwischen mir und Dad aus.

»Ich weiß. Du hattest recht«, sagte ich schließlich nach einem Blick auf seine Miene.

»Aber ich habe nicht gewusst, warum du weggelaufen bist, und es leuchtet mir ein, dass du jetzt, wo sie nicht mehr hier ist, zurückgekommen bist.« Mein armer Dad schien völlig entkräftet zu sein.

Ich wollte ihn nicht darin bestätigen, damit er sich nicht noch schlechter fühlte. »Dad, ich spiele bereits seit Monaten mit dem Gedanken, nach Hause zu kommen. Nachdem ich Michael gesehen hatte, habe ich erkannt, dass ich stärker bin, als ich dachte.«

»Du wärst also auch gekommen, wenn Mom noch hier wäre? Trotz allem?«

»Ich wäre wegen dir gekommen. Und wegen ihnen.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür, durch die meine Geschwister soeben das Haus verlassen hatten. »Du darfst sie nicht hassen, Dad.«

Er schüttelte den Kopf. »Du hättest es mir sagen sollen.«

»Dad …«

»Ich hasse sie nicht, aber ich bin wütend auf sie. Ich verstehe sie nicht.« Er fuhr sich langsam mit einer Hand übers Gesicht. »Ich bin müde, Bluebell. Bevor ich ins Bett gehe, möchte ich mir noch rasch das Spiel ansehen. Willst du es dir mit mir anschauen?«

Ich ging zu ihm hinüber und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Ich gehe schlafen. Gute Nacht, Dad. Hab dich lieb.«

»Ich hab dich auch lieb.«

Seine Stimme klang so verdrossen, dass sich mein Herz zusammenkrampfte. »Mir geht es gut, ganz ehrlich«, versicherte ich ihm lächelnd.

Er schien mir nicht zu glauben, aber auf seinem Gesicht spiegelte sich eine gewisse Entschlossenheit wider. »Ich weiß, du wirst es schaffen.«

Ich drückte seinen Arm, bevor ich mich umdrehte und mich auf den Weg ins Gästezimmer machte. Die Geräusche des Footballspiels drangen nach oben, und eine Welle von Erinnerungen erfasste mich. Unsere Familie war immer sportbegeistert gewesen. Ich persönlich war zwar nicht besonders an Sport interessiert, aber es hatte mir immer Spaß gemacht, wenn wir uns alle während der Footballsaison und zum Super Bowl versammelt hatten. Und ich hatte mich immer gefreut, wenn Dad uns jedes Jahr Tickets für das letzte Spiel im Baseballstadion Fenway besorgt hatte, um die Red Sox spielen zu sehen. Die Atmosphäre in Fenway war unbeschreiblich. Das Gelächter, der Geruch nach Bier, Hotdogs und Popcorn. Die Musik und die Stimme des Sprechers, die durch das Stadion hallten. Die Männer und Frauen, die mit starkem Bostoner Akzent auf der Tribüne ihre Waren anpriesen: »Bier! Hier gibt’s Bier! Hotdogs! Holt euch einen Hotdog!«

Bei der Erinnerung an die Momente, in denen wir alle zusammen gewesen waren, durchfuhr mich ein noch stärkerer Schmerz als zuvor.

Mein motorisches Gedächtnis führte mich automatisch zu dem Schlafzimmer, das ich mir in der Jugend mit meinen Schwestern geteilt hatte. Erst als ich die Tür bereits geöffnet hatte und über die Schwelle treten wollte, fiel mir ein, dass ich nicht hier schlafen würde.

Ich hielt den Atem an. Mom hatte den Raum unverändert gelassen. Mir wurde ein wenig übel, und Tränen schossen mir in die Augen. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie Dillons Seite des Zimmers belassen hätte, wie sie war, und meine Dinge entfernt hätte, doch auch mein Bereich sah aus wie früher.

An der Wand über meinem Bett hingen immer noch die alten Fotos.

Ich betrat zögernd das Zimmer, wobei ich es vermied, zu Dillons Ecke hinüberzuschauen. Mein Herz pochte heftig, und ich fühlte mich unwillkürlich zu den Bildern hingezogen. Meine Wände waren voll mit Fotos, alten Zeichnungen und Bildern von mir. Auf der Kommode neben meinem Bett standen immer noch alte Parfümfläschchen und Make-up-Döschen. Ich ließ mich langsam auf das Bett sinken und betrachtete mit einem Kloß im Hals die Fotos.

Auf einigen war ich mit meiner Familie zu sehen. Davina und ich saßen am Küchentisch, Darragh stand dahinter und legte die Arme um uns. Dad und ich vor dem Stadion Fenway. Dermot und ich in seinem Wagen, nachdem ich die Führerscheinprüfung bestanden hatte. Ich hatte den Kopf an die Brust meines großen Bruders gelegt, und er strahlte fröhlich in die Linse.

Als mir das Foto von Mom und mir ins Auge fiel, krampfte sich mein Herz zusammen. Ich war sechzehn und für eine formelle Tanzveranstaltung gekleidet. Mom schien mich mit ihrer Umarmung fast zu erdrücken, und wir lachten beide in die Kamera.

Das konnte ich nicht länger ertragen, also wandte ich mich rasch den anderen Fotos zu, die ebenfalls jede Menge Erinnerungen weckten. Auf allen war ich zu sehen – mit Gary, Michael, Dillon, Dermot und unseren Freunden.

Mein Blick blieb an dem einzigen Foto hängen, das ich von mir und Michael zu zweit besaß. Wir saßen in Angie’s Diner neben der Hauptstraße, und er hatte hinter mir einen Arm auf der Lehne der Sitzecke ausgestreckt. Wie immer fühlte ich mich zu ihm hingezogen und lehnte mich an ihn, ohne es zu bemerken. Jemand hatte das Foto geschossen – ich glaube, es war Dermot –, als wir uns unterhielten und nicht auf die Kamera achteten. Nachdem ich das Foto gesehen hatte, wollte ich es unbedingt behalten.

Wegen der Art und Weise, wie Michael mich anschaute. Und ich ihn.

Meine Güte, war es wirklich so offensichtlich gewesen? Ich schloss die Augen.

Als ich sie wieder aufschlug, fiel mein Blick unwillkürlich auf Dillons Seite des Zimmers. An der Wand hingen Poster ihrer Lieblingsbands, auf ihrer Kommode stapelten sich Liebesromane und Make-up-Döschen.

Plötzlich sah ich sie glasklar vor mir, und eine Welle von Erinnerungen überrollte mich …

Meine kleine Schwester schien bei unserer Rückkehr von der Party glücklich und erschöpft zu sein, aber dieses Gefühl teilte ich nicht mit ihr, als ich ihr in unser Zimmer folgte.

»Psst«, ermahnte ich sie, als ihr Gesang immer lauter wurde, und schloss rasch die Tür hinter uns. »Willst du etwa, dass Mom uns hört?«

Dillon zuckte lächelnd mit den Schultern und setzte sich auf ihr Bett, um sich die Schuhe auszuziehen. »Ich bin neunzehn und habe gerade mit meiner großen Schwester ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Das ist doch kein Verbrechen!«

Ich lachte leise. »Sei still!«

»Was ist denn heute Abend los mit dir? Du benimmst dich, als wärst du vierzig geworden.«

Ich ließ mich auf mein Bett fallen, starrte an die Decke und dachte über meine schreckliche Geburtstagsfeier nach. In der Wohnung von einem von Garys Freunden in Southie hatten sich viel zu viele Leute versammelt, und mein Freund war bereits betrunken gewesen, als wir dort ankamen. Zuerst hatte er ständig an mir herumgefummelt, bis Michael, der bemerkte, wie unangenehm mir das war, ihn schließlich davon abhielt. Den Rest des Abends hatte Gary mit einer anderen geflirtet, wenn er sich nicht gerade wie ein besoffener Vollidiot benahm. Ich hasste es, wenn Gary sich betrank – er war dann ein vollkommen anderer Mensch.

Trotzdem hatte ich Spaß gehabt. Den Großteil des Abends hatte ich mit Michael in einer Ecke verbracht und mit ihm geredet und gelacht. Dillon hatte sich immer wieder zu uns gesellt, aber meistens waren wir zu zweit gewesen, und das hatte mir sehr gefallen. Tatsächlich hatte ich mir gewünscht, dass der ganze Raum voller Leute verschwand und ich mit Michael allein sein konnte.

Er hatte sich den Abend extra freigenommen, um auf meine Geburtstagsfeier kommen zu können.

Immer wenn ich an ihn dachte, spürte ich, wie sich tief in meinem Inneren etwas zusammenzog. Und das empfand ich auch, wenn ich mit ihm zusammen war und er mir dieses jungenhafte Lächeln schenkte.

Schuldgefühle überrollten mich. Doch ich versuchte, sie rasch zu unterdrücken, denn ich war mir ziemlich sicher, dass Gary, mit dem ich nun seit acht Monaten zusammen war, mich betrog.

Er simste und telefonierte heimlich und machte seit einiger Zeit »Überstunden« in der Werkstatt.

»Im Ernst, was ist los, Dahlia?«, fragte Dillon. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du hast deinen ganzen Geburtstag mit Mike und mir anstatt mit Gary verbracht.«

»Du hast doch gesehen, wie betrunken Gary war«, sagte ich aufstöhnend und setzte mich auf. Ich brauchte dringend jemanden, mit dem ich reden konnte, und da Davina ständig bei irgendeiner Finanzgesellschaft arbeitete, war meine kleine Schwester meine engste Vertraute geworden. »Ich glaube, er betrügt mich.«

Dillon kräuselte ihre hübsche Nase. »Mit dieser Schlampe, mit der er heute Abend geflirtet hat? Nein, er war einfach nur betrunken.«

»Nein, nicht mit der.« Obwohl – was wusste ich schon? »Er verhält sich in letzter Zeit sehr merkwürdig. Wenn er eine SMS bekommt, versteckt er sie vor mir, und anstatt die Abende mit mir zu verbringen, macht er immer öfter Überstunden in der Werkstatt.«

»Oh.« Dillon seufzte. »Dann solltest du mit ihm reden. Acht Monate sind schließlich eine lange Zeit.«

Beinahe hätte ich gelacht. Im Großen und Ganzen gesehen waren acht Monate eigentlich gar nichts. »Und wie er sich heute Abend benommen hat! Er hat sich auf das Gesicht eines Freundes gesetzt und gefurzt.«

Dillon stieß ein lautes Lachen aus. »Ja, ich gebe zu, dass das eklig war.«

»Eklig? Dill, wir reden hier von einem fast dreiundzwanzigjährigen Mann.«

»Das klingt so, als hättest du bereits eine Entscheidung getroffen.«

Das war tatsächlich so.

Als ich mich umdrehte und die Fotos an der Wand betrachtete, blieb mein Blick an der Aufnahme von Michael und mir im dem Restaurant hängen. Dermot hatte es ein paar Wochen zuvor geknipst. Wie konnte es sein, dass niemand sah, was ich für den besten Freund meines Freundes empfand? Es strahlte mir förmlich aus den Augen. Und falls dieses Foto etwas aussagte, und auch dieser Abend und alle Begegnungen zwischen Michael und mir, bei denen wir allein gewesen waren, etwas bedeuteten, dann empfand er ebenso wie ich.

Ich wusste, dass er das tat.

Ich war bis über beide Ohren in den besten Freund meines Freundes verliebt.

Sollte Gary mich wirklich betrügen, war alles möglich, und Michael hätte keine Gewissensbisse, wenn er sich mit mir treffen würde, oder?

Die Sehnsucht in mir war kaum zu ertragen. Bei dem Gedanken, dass ich vielleicht nie mit Michael zusammen sein würde, stiegen mir Tränen in die Augen, obwohl ich sonst nicht bei jeder Kleinigkeit losheulte.

Oh Gott, ich hatte mich total in ihn verliebt.

Schon damals in der Galerie hatten wir uns zueinander hingezogen gefühlt.

»Du wirst dich von ihm trennen, richtig?«, fragte Dillon.

Ich biss mir auf die Unterlippe und wandte mich ihr zu. »Zuerst möchte ich mich vergewissern, dass er mich tatsächlich betrügt, und dann werde ich Schluss mit ihm machen.«

»Gut. Du hast einen besseren Mann als ihn verdient.«

Ich schenkte meiner Schwester ein schwaches Lächeln. Die ganze Sache lag mir schwer im Magen – ich hasste Konfrontationen, obwohl ich eigentlich gut damit umgehen konnte. Vor allem, wenn es Personen betraf, die mir nicht viel bedeuteten. Bei Menschen, die ich liebte, zerriss es mir dabei das Herz.

»Da wir gerade davon sprechen, was man Gutes verdient hat …« Dillon strahlte mich mit weit aufgerissenen Augen aufgeregt an. »Ich werde Mike bitten, mit mir auszugehen.«

Was?

Ich war sicher, dass ich mich verhört hatte und schüttelte den Kopf. »Was hast du vor?«

»Ich werde mich mit Michael verabreden.« Sie zog ihre Pyjamashorts und ein Top an und legte sich ins Bett. Ganz gelassen. Als ob sie nicht soeben meine Welt erschüttert hätte.

»Warum?«, flüsterte ich.

Dillon lachte leise. »Warum? Nun ja, weil … weil er gut aussieht und witzig und nett ist. Und weil ich mir ziemlich sicher bin, dass er mich mag.«

Nein. Nein. NEIN! AUF KEINEN FALL!

Michael war nicht an Dillon interessiert.

Nein.

Was zum Teufel?

»Ist er nicht … ist er nicht ein bisschen zu alt für dich?«

»Dahlia, er ist dreiundzwanzig«, schnaubte meine Schwester.

»Er wird im Juni vierundzwanzig.« Genauer gesagt am 26. Juni. »Und du bist gerade neunzehn geworden.«

»Das ist kein großer Altersunterschied. Und du weißt, dass ich für mein Alter schon sehr reif bin.«

Nein, ich wusste nur, dass sie das glaubte.

Panik drückte mir den Brustkorb zusammen, und ich konnte mich nicht mehr bewegen.

»Mach dir keine Sorgen, das wird sich nicht darauf auswirken, dass du mit Gary Schluss machen willst. Tatsächlich glaube ich, dass Mike der Meinung ist, du solltest dich von Gary trennen. Er war heute Abend wirklich sauer. Deinetwegen. Ich meine, Gary war an deinem Geburtstag so besoffen, dass sein bester Freund dich nach Hause fahren musste. Das geht doch nicht.«

Viel schlimmer war jedoch, dass meine kleine Schwester ein Auge auf den Mann geworfen hatte, in den ich verliebt war.

Als plötzlich Dillons Schnarchen durch das Zimmer tönte, stand ich auf und zog langsam meinen Schlafanzug an. Ich fühlte mich, als hätte mich ein Lkw überfahren. Im Bett starrte ich stundenlang an die Decke und versuchte verzweifelt, in den Schlaf zu finden. Es gelang mir erst, nachdem ich mir eingeredet hatte, dass Michael Sullivan sich auf keinen Fall mit meiner Schwester verabreden würde.

Nie im Leben!

»Bluebell, wach auf.«

Die Stimme meines Dads riss mich aus einem tiefen Schlaf. Stöhnend zwinkerte ich gegen das dämmrige Licht und sah, wie er sich über mich beugte.

»Daddy?«

Er schaute mich traurig an. »Was tust du hier?«

»Wie bitte?«

Als ich begriff, dass ich nicht träumte und in meinem alten Zimmer eingeschlafen war, setzte ich mich so rasch auf, dass sich der Raum um mich drehte.

»Komm, Bluebell. Du musst ins Bett gehen.«

Immer noch schlaftrunken, ließ ich mich von meinem Dad in das alte Zimmer der Jungen führen. Er zog die Decke von Darraghs früherem Bett zurück, half mir, mich hinzulegen, und deckte mich bis zum Hals zu. Nach einem Kuss auf die Stirn wünschte er mir leise eine gute Nacht.

Ich glaube, ich habe eine Antwort gemurmelt, bevor ich wieder in tiefen Schlaf versank.