5. Kapitel
„Babe, babe, los, beweg dich!” Cora drehte sich um und war von den Lichtern geblendet. Sie hatte das Studio betreten und war sofort von dessen hektischen Energie überwältigt.
„Aus dem Weg! Beweg sich!”
Desorientiert trat Cora einen Schritt zur Seite und bemerkte dann den gestressten Kameramann, der versuchte, an ihr vorbei zu kommen.
„Entschuldigen Sie, bitte", sagte sie und ging ihm noch weiter aus dem Weg. Im Vorbeieilen schüttelte er über sie den Kopf. Unsicher stand sie da, sah in die eine und die andere Richtung bis ein kleiner, aber gut gebauter Mann zu ihr kam.
„Cora Vestian?”
„Ja."
Der Mann grinste breit. „Armand.” Er hatte ein frisches Gesicht, dunkles Haar und olivfarbene Haut mit spitzen Wangenknochen und blitzenden schwarzen Augen. Sie hätte nicht gedacht, das jemand außerhalb der Siebziger einen Schnurrbart zuwege bringen könnte, doch an ihm sah er schneidig aus. Zusammen mit seiner großrahmigen schwarzen Brille, den engen Jeans mit Hosenträgern über einem gestreiften Pariser Vintage-Hemd, sah er unglaublich cool aus und war zudem noch attraktiv.
Cora zog am Saum ihres weißen T-Shirts und rieb ihre Hände an ihren einfachen, schwarzen Leggings. Markus hatte sie gefragt, welche Garderobengrundausstattung sie gerne hätte und sie hatte um das absolute Minimum gebeten und bestand darauf, dass sie sich selbst darum kümmern würde, sobald sie ihren ersten Gehaltsscheck erhielt. Doch vielleicht hätte sie die Bluse und den Rock tragen sollen, die er ihr am ersten Tag gegeben hatte.
Armand streckte eine Hand aus und als sie sie ergriff, um sie zu schütteln, hob er sie an seine Lippen und küsste ihre Fingerknöchel. „Enchanté. Danke, dass Sie einem Kerl in der Stunde der seiner Not aushelfen. Bringen wir Sie zur Haar- und Make-up-Stylist.“ Er nahm ihren Arm und führte sie zu einem Stuhl vor einer Reihe von Spiegeln, die alle mit Glühlampen beleuchtet waren, am entlegenen Ende des Raums.
„Armand!” Ein anderer Mann rannte mit einem Tablet in der Hand auf Armand zu. „Es ist ein Desaster! Der Reißverschluss hat das Maxikleid der Nymphe eingerissen. Ihre Titten hingen heraus. Und es ist Zephoria. Also gibt es in New Olympia nicht genug Klebeband, die Dinger drinnen zu behalten, wenn der Reißverschluss des Kleides nicht sicher festgezogen ist.
Armand hob eine schwere Augenbraue und lächelte in Coras Richtung. „Die Arbeit eines Designers ist niemals getan.” Dann sah er zu einem dünnen Mann mit Geheimratsecken, der neben Coras Stuhl schwebte. „Mr. Ubeli sagte, dass Miss Vestian mit dem größten Respekt behandelt werden soll. Verstanden?”
Cora spürte eher, als dass sie sah, dass der andere Mann bei Markus Namen sofort aufmerksam wurde. „Ja, Sir.”
Zu Cora sagte Armand: „Entspannen Sie sich und sein Sie Sie selbst.” Er beugte sich hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sein Aftershave war männlich und so komplex, wie der Rest von ihm. „Sie werden sich sensationell da draußen machen, Schätzchen. Das weiß ich.”
Damit war er gegangen und Cora blieb zurück, fühlte sich äußerst überwältigt und fern ihres Elements.
Zuerst kamen die Haare, ein ausgiebiger Prozess von Lockenwicklern, Gelen und Sprays. Während ihr Haar „gemacht" wurde, beschäftigte sich der Make-up-Künstler mit ihr.
Er murmelte was von guter Knochenstruktur und klassischen Wangenknochen, sprach aber während der ganzen Stunde, in der er an ihr arbeitete, nie direkt mit ihr. Zwei Stunden nachdem sie sich auf den Stuhl gesetzt hatte, waren ihr Haar und ihr Make-up endlich fertig.
Cora betrachtete sich im Spiegel und war verblüfft. Sie war mit weißem Make-up mit violetten Schattierungen bedeckt und einer Puder-Abdeckung, die ihrem Gesicht, ihrer Brust und ihren Armen einen schillernden Glanz verlieh. Markantes Lila, Silber und schwarzes Make-up umgaben ihre Augen und als I-Tüpfelchen die längsten, falschen Wimpern, die sie je gesehen hatte. Es fühlte sich seltsam an, wenn die Wimpern bei jedem Blinzeln gegen ihre Wangen flatterten.
Ihr Haar fiel in dunklen Wellen über ihre Schultern, hier und da waren kleine Strähnen hochgesteckt, die einen wilden, himmlischen Effekt kreierten.
Sie sah so absolut nicht nach ihr selbst aus.
„Perfekt”, sagte der Visagist und schwang sie aus ihrem Stuhl. „Bringen wir Sie zur Garderobe.“
Zur Garderobe . Cora konnte nur innerlich den Kopf schütteln. Das fühlte sich ganz so an, als würde sie „sich herausputzen“ spielen. Hatte sie wirklich erst vor drei Tagen die laufende Nase eines Kleinkindes abgewischt? Obwohl sich das bei weitem realer angefühlt hatte.
Dies war eine Traumwelt. Ein seltsames Reich voller schöner, elfenhafter Wesen, die zu groß, zu dünn und ständig grantig waren. Abgesehen von Armand hatte sie den ganzen Tag über nicht eine Person lächeln gesehen.
Der Assistent, der sie einkleidete, benahm sich so unpersönlich wie die Typen vom Haar- und Make-up-Styling. Das Kleid selbst aber war toll. Ein Wickelkleid in Silber-, Kohle- und Lilatönen aus Stoffen, die durchsichtig wie Wolken waren und den Effekt fallenden Wasser besaßen. Sie gab einen wohligen Laut von sich, drehte sich und sah zu, wie das Material um sie herum schwebte. Armand war ein Genie.
Der Assistent war weniger glücklich. Mit einer Reihe von Flüchen trat er näher, um etwas festzustecken, doch er traf Coras Haut.
Autsch! Cora zuckte hoch.
„Verdammt. Steh still. Dann werde ich dich verdammt noch mal nicht wieder aus Versehen piksen. Alles nur verdammte Amateure”, zischte er leise. „Wo zum Teufel haben sie die hier bloß gefunden?”
Cora erstarrte und biss die Zähne zusammen.
Es ist ein Gehaltsscheck. Grinse und ertrage es für den Gehaltsscheck .
Sie wartete darauf, dass er erneut zu ihr kam, entweder mit mehr Nadeln oder weiteren Beschimpfungen. Doch ein anderer Assistent wandte sich vom Kleiderständer ab und zog einen anderen Mann mit sich. Er flüsterte eindringlich.
„Mr. Ubeli”, waren die einzigen Worte, die Cora aufschnappte, während sie wartete und versuchte, ein tapferes Gesicht zu machen. Der erste Assistent kehrte zurück und beendete schweigend und steif seine Arbeit. Der Zweite verschwand und tauchte mit einer Flasche Wasser wieder auf.
„Die Lichter können richtig heiß werden“, erklärte er. Cora sah, dass keinem der anderen Models Wasser gebracht wurde, doch sie nahm es. Sie wurde an die Seite dirigiert, um ihren Auftritt abzuwarten.
„Aber nicht hinsetzen“, lautete die letzte Anweisung des Assistenten. „Zerknittere nicht das Gewebe." Sie hob ihren Daumen, doch er war schon weg.
Mit Kleidern gewickelt ,wie die einer griechischen Statue, und der Wasserflasche in der Hand fühlte sie sich wie die Freiheitsstatur.
Doch sie musste nicht lange warten.
„Baby, da bist du ja...” Ein Fotograf winkte ihr zu. „Du bist die Nächste.“
Cora nickte und lief eilig los. Ein anderes Model, das gerade von seinen Kleidern befreit wurde, drehte seinen Kopf. „Wow“, sagte sie als Cora aufstand. „Du siehst echt cool aus. Wen sollst du darstellen?“
„Äh… keine Ahnung.“ Cora trat zur Seite als zwei Männer einen riesigen Spiegel vorbeischoben. Das Ding war 1 Meter 80 groß und auf seinem Sockel mit Rädern und dem Goldrahmen war er noch viel größer. Sie hielten vor ihr an und unterbrachen so die Unterhaltung mit dem anderen Model.
Cora starrte auf das Spiegelbild einer bemerkenswerten, in Roben gekleideten Frau. Vorhin konnte sie nur ihr Gesicht Schminkspiegel sehen, doch jetzt traf sie die Wirkung des Ganzen.
Mit Kohle verdunkelte Augen starrten sie an. Ihr Haar umhüllte sie, lenkte jedoch nicht vom leuchtenden, violetten Glanz ihrer Haut ab. Die Farbtöne des Kleides hoben nur den Glanz ihrer blassen Haut noch mehr hervor.
Sie sah größer aus als das Leben. Mächtig . Von dem Gedanken überrascht, zwinkerte sie. Noch nie zuvor hatte sie dieses Adjektiv verwendet, um sich selbst zu beschreiben.
„Also dann, wenn das nicht die Göttin ist.“
Cora drehte sich um und erblickte ein vertrautes Gesicht, dessen Lippen zu einem halben Lächeln hochgezogen waren.
Markus.
Der Raum um sie herum, vor einer Sekunde noch Chaos, verschwand. Als sie zurücktrat, um hinter den Spiegel zu schauen, sah sie den nackten Rücken eines anderen Models. Der Assistent half ihr mit dem unteren Teil ihres Kostüms, während beide eilig weggingen. Cora blickte erneut in den Spiegel als Markus hinter ihr näher kam. Das Lächeln entschwand und stattdessen war in seinen Augen die Intensität eines Jägers zu erkennen.
„Markus", hauchte sie, und ihr Magen fühlte sich seltsam abgesackt an.
Er betrachtete sie von oben bis unten. Mit seinem attraktiven Gesicht und seinen wohl geformten Wangenknochen sah er selbst wie ein Model aus. Er war nicht hübsch, doch die Stärke und Symmetrie seiner Gesichtszüge waren mächtig. Zeitlos. Neben ihm waren normale Kerle horrend hässlich – bis man erkannte, dass sie es nicht waren. Sie sahen normal aus und Markus war ein Gott. Normale Sterbliche kamen an ihn nicht heran.
Ihr Magen vollführte eine traurige, kleine Spirale. Markus passte hier besser rein als sie.
Mit wenigen Schritten hatte er die Distanz zwischen ihnen überwunden. Sie starrte ihn im Spiegel an. Als er direkt hinter ihr war, sahen sie beide wie ein Schnappschuss aus irgendeinem Modemagazin aus. Er trug ein graues langärmliges Hemd. Er trug oft Grau oder andere dunkle Farben. Er trug keine Jacke und die Glätte des Hemdes konnte die Konturen seiner Muskeln nicht verbergen. Er war so stark . Er hatte nicht die Figur, die man bei einem Geschäftsmann erwarten würde.
Markus Wange verzog sich zu einem seiner charakteristischen halben Lächeln. Oh nein, er hatte bemerkt, dass sie ihn unter die Lupe nahm.
Sie spürte, wie sich ihre Wangen erhitzten und betrachtete alarmiert ihr eigenes Gesicht im Spiegel, doch endlich war ihre Röte Dank des Make-ups nicht erkennbar.
Aber als sie in den Spiegel sah… oh Scheiße! Da war richtig viel zu sehen.. Ihr Kleid war vielleicht fantastisch, doch dieser dünne Stoff war praktisch durchsichtig. Hatte Markus es bemerkt?
Schnell verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust. „Ich wusste nicht, dass du hier sein würdest.“
„Mache ich dich nervös?“ flüsterte er, und sie spürte die Wärme seines Atems an ihrem Ohr, während sein Blick ihre Person im Spiegel aufspießte.
Selbst mit über der Brust verschränkten Armen waren die Konturen ihres Körpers durch das hauchdünne Kleid deutlich erkennbar. Ihre Hüften. Die Linien ihrer Innenschenkel.
Markus lehnte sein Gesicht über ihre Schulter, sodass ihre Gesichter Seite an Seite, Wange an Wange waren.
Cora fühlte sich durch sein Starren wie paralysiert.
„Du bist eine Göttin", hauchte er.
„Du solltest mich nicht so nennen..."
Markus drehte sie zu sich. „Sieh mich an.”
Da sie es nicht ertragen konnte, zu gehorchen, starrte sie auf sein Hemd. Er hatte die oberen beiden Knöpfe geöffnet, was ihr einen Blick auf die gemeißelte Linie seiner Brust mit einem Haarflaum gewährte. Es war so…maskulin .
Als er ihr Kinn anhob, damit sie ihn ansah, konnte sie der geformten Linie seines Halses bis hoch zu seinem Kiefer und schließlich über die markanten Züge seines Gesichts verfolgen
„Perfekter Körper, perfekte Haut“, murmelte er. „Wie könntest du da keine Göttin sein?“
„Das ist sehr süß, aber du musst nicht...“, begann sie.
„Nein, Engel. In einer Sekunde wirst du da draußen laufen und jeder wird wissen, wie schön du bist.“
Ihre Augen wandten sich rasch ab.
„Sieh mich an.” Er nahm sie in seine Arme, damit sie ruhiger wurde. Nach einer langen Pause sagte er: „Schön.“
Sie lachte nervös. Markus lächelte und hielt sie enger. „Ich werde Armand sagen, dass er mir etwas schuldet, weil ich ihn dich ausleihen ließ. Nicht einen... drei oder vier Gefallen.”
Cora war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Borgen . Als besäße Markus sie. Der Gedanke sollte sie beunruhigen, doch alles, was sie denken konnte, war: ja, bitte . Wie das wohl wäre, zu einem Mann wie Markus Ubeli zu gehören?
Erneut betrachtete Cora sich und Markus im Spiegel, ein umwerfendes Paar aus einer Zeitschrift. Die Lippen der Frau im Spiegel waren leicht geöffnet, während der Mann seine Augen über ihre nackten Schultern und den Hals gleiten ließ. Als er den Kopf hob, war sein Blick kühl, doch seine Augen glühten. Sie verzehrten sie.
„Göttin”, flüsterte er erneut.
„Königin der Toten, wir sind bereit für Sie...“ Eine Frau mit einem Tablet trat hervor, sah die beiden und trat einen Schritt zurück. „Oh, Mr. Ubeli, ich wollte nicht stören.”
„Nein, nein”, rief Markus zurück. „Sie ist bereit.”
Cora fühlte sich noch immer paralysiert, doch irgendwie zwang sie ihre Füße trotzdem, sich vorwärts zu bewegen. Weg von ihm. Wie? Sie war sich nicht sicher. Sie konnte sogar sprechen. „Königin der Toten?” fragte sie die Frau mit dem Tablet. „Meinen Sie mich?”
Die Frau nickte.
„Komm, finde mich auf der After-Show-Party”, rief Markus. „Ich werde nach der Show warten.”
Ohne zurückzublicken trat Cora durch die Tür in die Lichter hinaus.
Anschließend blieben ihre Augen von den Kameras geblendet. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, dass sie über den Laufsteg gegangen war. Alles, worauf sie sich konzentrieren konnte war, nicht in den hochhackigen Schuhen, in die man sie gesteckt hatte, zu stolpern. Sie ging zum Ende des Laufstegs und posierte, so wie es ihr ein Assistent gesagt hatte, und die Explosion der Blitzlichter ließ sie fast erblinden. Doch sie hatte sich aufs Stichwort umgedreht und schaffte es, hinter der Bühne nicht über sich selbst oder eines der anderen Models zu stolpern, also gewonnen .
Und jetzt die Afterparty. Einer der Assistenten hatte Cora ein Kleid zum Umziehen gebracht. Der Assistent hatte gesagt, es sei von Armand, doch die stummen Blicke, die Cora von all den anderen Models bekam, ließen sie vermuten, dass es tatsächlich von Markus war.
Was tust du da? fragte sie sich, während sie mit der Modellgruppe und Armands Gefolge und Show-Assistenten einen Straßenblock weiter ging, dort, wo die Afterparty stattfand. Glaubst du ernsthaft, dass er nichts im Gegenzug für all die sogenannten „Geschenke“ erwarten wird?
Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass Männer pathologisch unfähig waren, vertrauenswürdig zu sein. Sie wollen immer nur eins, und nur diese eine Sache. Darum behalte ich dich hier, wo es sicher ist.
Aber… wäre es so schlecht, wenn Markus sie auf diese Weise begehren würde? Sie brauchte keine Geschenke. Es würde genügen, wenn er an ihr interessiert wäre. Er brauchte nichts anderes zu tun.
Oh, und die Art, wie sie sich fühlte, wenn er sie auch nur ansah…
Und außerdem hatte er nichts versucht. Nichts, wie „das Eine“, das Männer angeblich nur wollten. Wenn Markus ein schlechter Mann wäre, hätte er schon hunderte Male versuchen können, sich ihr aufzudrängen, wenn er sie ganz allein in seinem Penthouse hatte. Das hatte er nicht getan. Weil er ehrbar war. Er war ein guter Mann. Und gütig und großzügig und ansehnlich und...
Sie kamen auf der Afterparty an und wenn sie glaubte, die Show und die Vorbereitungen dafür waren überwältigend, erkannte sie schnell, dass es nichts war im Vergleich dazu, wenn die New Olympians wirklich mit dem Feiern loslegten.
Die Party fand auf einer sagenhaften Dachterrasse statt. Der Abend war kühl, doch überall auf der Terrasse gab es kleine Heizöfen, die sie warm hielten, und alle um sie herum schienen in Feierlaune zu sein. Laut Frühkritiken und den sozialen Netzwerken war die Show offensichtlich ein Erfolg auf der ganzen Linie gewesen.
Um sie herum lachten und plauderten die Menschen und Cora lächelte, doch sie schien nie über die Witze über dieses oder jenes Model oder diesen oder jenen Schauspieler Bescheid zu wissen.
Und alles, was man servierte war Champagner und anderen Alkohol. Cora war ausgetrocknet und hätte für ein Glas Wasser sterben können.
Sie machte sich auf die Suche nach einem, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief.
„Cora! Liebling!”
Armand kam zu ihr rüber und ergriff ihre Hand. „Unsere berühmte Königin der Toten im Fleisch. Ich fragte mich, wohin du gegangen bist. Komm, komm, es gibt so viele Leute, denen ich dich vorstellen will.“
Und für die nächsten dreißig Minuten befand sich Cora in einem Wirbelwind aus Vorstellungen, Namen und Gesichtern, von denen sie wusste, dass sie sich die nie merken würde. Sie versuchte erfolglos, zu widersprechen als Armand sie als Markus Mädchen vorstellte.
Endlich gelang es Cora, sich mit einer Entschuldigung von Armands Seite zu entfernen und nach dem Wasser zu suchen, das sie nun noch verzweifelter brauchte.
Sie bat den Barkeeper um eine Tasse und hatte gerade den ersten, erstaunlich erfrischenden Schluck genommen, als sich vor ihr ein Schatten auftürmte, sodass sie sich beinahe am letzten Schluck verschluckte.
„Hallo, Göttin."
Markus.
Sie rollte mit den Augen und hustete in ihren Ellbogen. Etwas Wasser war in die falsche Kehle geraten, da sie derart überraschte war, ihn zu sehen.
Wie konnte er sich nur immer so an sie ran schleichen?
„Keine Göttin mehr“, brachte sie schließlich hervor, als sie endlich ihre Atmung wieder unter Kontrolle hatte. Sie nahm einen weiteren Schluck Wasser. „Nur die gute, alte ich.“ Sie hob ihre Hände. Tra-rah , hier bin ich , wie ein Trottel.
„Da bin ich anderer Ansicht.“
Sie schüttelte ihren Kopf und konnte ihm noch nicht einmal in die Augen sehen. Sie hatte ihn erst vor einigen Stunden zuletzt gesehen, doch erneut war sie überwältigt. Jedes Mal. Wie könnte sie es nicht sein? Er war der Inbegriff von Macht und männlicher Schönheit. Platos zu Fleisch gewordene Form des perfekten Mannes.
„Cora”, rief er sanft. „Sieh mich an.”
Sie gehorchte. Sie konnte ihm nicht sagen, dass sie ihn nicht direkt ansehen konnte, da seine Perfektion sie sonst wie die Sonne verbrennen würde. Sie sah in seine Augen und hieß das innere Flattern willkommen, eintausend Schmetterlinge, die mitten in ihr eine Party feierten.
„Wie gefällt dir die Party?”, fragte er mit Fältchen um die Augen. So als wüsste er, welchen Einfluss er auf sie hatte, und es gefiel ihm.
Die glitzernde Terrasse erstreckte sich vor ihnen. Ein juwelenblauer Pool in der Mitte war beleuchtet und überall standen schöne Menschen zusammen und plauderten schön.
„Alles ist so wunderschön.“ Cora neigte ihren Kopf zur Seite.
„Aber?”
Cora blinzelte. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, irgendwelche Unzufriedenheit durchblicken zu lassen. Sie wusste, dass all dies als Bonbon gedacht war. Ein Model zu werden. Auf diese schicke Afterparty zu gehen. Es war ein Aschenbrödel-Augenblick, und sie wollte nicht undankbar erscheinen… vor allem, da sie neben all den Extras auch noch dafür bezahlt wurde.
„Werde mir jetzt nur nicht schüchtern“, sagte er. Dies war ein weiterer Grund, warum sie ihn nicht ansehen konnte. Sein intensiver, fordernder Blick brachte immer die Wahrheit ans Tageslicht.
Sie neigte sich näher zu ihm. „Das ist nicht gerade meine Szene. Ich fühle mich irgendwie als...“ Sie sah alle wieder an. „Ich weiß nicht… als wäre ich eine Wissenschaftlerin und dies sei ein soziologisches Experiment. Und ich bin versteckt, um diese schönen Menschen in ihrem natürlichen Umfeld zu beobachten. Ich habe das Gefühl, ich sollte mir Notizen für eine Zeitung oder so machen.“
Markus zog eine Augenbraue hoch.
„Wie sie.” Cora nickte in Richtung eines besonders ausgezehrten Models, das sie seit gut einer Stunde faszinierte. „Spezies Modelsapian Domesticus, etwa 95 Pfund. Isst niemals wirklich Nahrung, sondern hält sie zwischen Zeigefinger und Daumen und tut so, als würde sie für achtunddreißig-ein-halb Minuten daran knabbern. Dann legt sie sie beiläufig auf den Tablett eines vorbeigehenden Kellners und beginnt die ganze Scharade erneut mit einem anderen Happen. Und bring mich bloß nicht dazu, mit den Paarungsritualen anzufangen.“
Markus lachte schallend und sah sich selbst erstaunt an.
Und dann, zu Coras Überraschung, umfasste er ihre Taille und zog sie von der Bar, an der sie standen, weg und hinüber in eine Ecke im Schatten, die von zwei großen eingepflanzten Palmen verdeckt wurde. Es gab gerade genug Licht, um das Funkeln in seinen Augen zu erkennen.
„Ich mag dich.” Er sprach es so feierlich aus, dass Cora nicht sagen konnte, ob er darüber glücklich war oder nicht. Cora war definitiv froh, das zu hören. Besser gesagt, sie war hoch erfreut.
„Wirklich?” quiekte sie.
Dies brachte das halbe Lächeln hervor, nach dem sie schnell süchtig geworden war. „Wirklich.”
Er lehnte sich näher zu ihr, wobei sich sein Gewicht verlagerte und so ihren Rücken gegen die Gebäudewand drückte.
Warte. War er wirklich kurz davor…?
Seine Lippen waren sanft auf ihren, doch nur für einen Augenblick. Wie alles an ihm, wurden seine Lippen schnell fordernd.
Und Cora war derart hilflos, dass sie nichts anderes tun konnte als zu gehorchen.
Beim Luft holen öffneten sich ihre Lippen und er ergriff die Gelegenheit, um seine Zunge in ihrem Mund zu versenken.
Sie war noch nie geküsst worden, wirklich geküsst, und... Sie hob ihre Arme und schlang sie um Markus breite Schultern, und sei es nur, um sich an etwas festzuhalten und sich selbst zu erden, denn sie hatte das Gefühl, dass sie hinauf schweben und davon fliegen könnte.
Er küsste sie bewusstlos. Ihr Magen flippte mit jedem kraftvollen Wisch seiner Zunge. Cora konnte nicht anders, als ihre Brüste hoch und gegen seine Brust zu wölben. Oh, ihr Götter, hatte sie das wirklich getan?
Sie versuchte, sich zurückzuziehen, aber Markus legte seine Hand um ihre Taille zwischen ihr und der Wand und presste sie noch fester an seinen Körper.
Ihre Augen öffneten sich schlagartig. Er war… Sie konnte seine... seine Steife fühlen. Zwischen den Küssen rang sie nach Luft und als er sich endlich zurücklehnte und ihr Gesicht in seine starken Hände nahm, drückte sie ihre Wange gegen seine Berührung und blinzelte verwirrt zu ihm auf.
Auf seinem Gesicht lag ein befriedigtes Lächeln.
Würde er sie jetzt mit nach Hause nehmen und… und Liebe mit ihr machen? Das würde als Nächstes geschehen, nicht wahr? Obwohl er etwas von ihr weggerückt war, konnte sie ihn noch immer spüren.
Sie wusste nicht viel über Sex, aber sie wusste, dass sie ihn wollte. Sie wollte alles, was Markus zu geben hatte.
Noch nie zuvor hatte sie so empfunden. Seine Gegenwart überrollte sie, war überwältigend und es wurden keine Gefangenen gemacht. War das Anziehung? Oder etwas mehr? Jedes Molekül in ihr bebte und war bereit.
Markus dominierte ihre Sinne, machte sie schwindlig. In ihrem Kopf schrillten die Alarmglocken. Lass ihn herein und er wird deine Welt regieren. Markus war nicht die Art Mann, die etwas nur halb machte. Seine Kontrolle über sie wäre absolut, aber sie würde das nicht hassen. Sie würde darin schwelgen.
Es war zu viel. Es war so schnell geschehen. Schwindlig, schloss sie ihre Augen.
Nun wusste sie, warum die Dichter von „in Liebe verfallen“ sangen. Weil es sich anfühlte, als würde sie fallen. Ein wilder, freier und fürchterlicher Absturz. Und sobald man fiel, war es vorbei. Es gab kein Zurück mehr.
„Cora, geht es dir gut?“
Sie nickte mit noch immer geschlossenen Augen. Sie konnte ihn nicht ansehen Es war, als würde sie in die Sonne starren.
„Cora. Sieh mich an. Versteck dich nicht.“
Sie hob ihr Kinn und blinzelte ihn an. „Du machst mir Angst“, flüsterte sie.
Er zog eine Augenbraue hoch. „Nun, du bist mir immer als ein intelligentes Mädchen vorgekommen.“
„Was passiert jetzt?“
Er schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und sie zitterte vor Vergnügen bei dieser Berührung. Seine Augen flackerten und sofort wollte sie erneut ihre Brust gegen seine pressen.
Wie würde sich wohl seine Hände auf ihr anfühlen? Sie hatte nicht vergessen, wie er sie vorhin im Spiegel von oben bis unten betrachtet hatte. Er war ein derart intensiver Mann. Wie würde es sich anfühlen, wäre all diese Intensität auf sie gerichtet? Nichts, das zwischen ihnen wäre. Keine Kleidung. Keine Vortäuschungen. Keine Jahre.
„Jetzt...“ Er beugte sich vor und presste seine Lippen wieder auf ihre für den kürzesten Kuss, bevor er zurückwich. „...bringen wir Aschenbrödel nach Hause, damit sie etwas schlafen kann, bevor sie sich noch in einen Kürbis verwandelt.“
Er lehnte sich zurück und nahm ihren Arm.
„Ich glaube nicht, dass das Märchen so ablief“, murmelte sie. Als er begann, sie durch die Menge zu führen, endeten Unterhaltungen und Augenpaare wandten sich ihnen zu, die Menge teilte sich wie das Rote Meer als sie hindurchgingen.
Warum behandelten sie ihn alle auf diese Weise? Sie blickte zu Markus auf, doch sein Gesicht war kalt wir Marmor. Wenn sein Arm nicht so warm und sicher auf ihrem gelegen hätte, wäre sie bei diesem Anblick vielleicht erschaudert. Sie blickte kurz in einige der Gesichter in der Menge.
In diesen Gesichtern war mehr als Respekt. Da war Angst.
Wer war Markus Ubeli, abgesehen von dem Mann, der ihr Leben umgekrempelt hatte? Wollte sie das wissen? Oder eine verstörendere Frage: War es für sie von Bedeutung, solange sie privat den Mann hinter der Maske sehen konnte?
Während der ganzen Heimfahrt war sie angespannt-Schrägstrich-schwindlig. Sharo fuhr sie, und als sich eine Scheibe zwischen dem Fahrer- und dem Rücksitz schloss, war sie sicher, dass Markus sie wieder küssen würde. Das tat er aber nicht. Er legte einen Arm um sie und spielte während der Fahrt nach Hause gedankenverloren mit ihrem Haar. Es war still bis auf die Musik von Rachmaninow, die durch den Wagen hallte.
Sie verzog das Gesicht als der Wagen nach einer nur zehn-minütigen Fahrt anhielt, Sharo ausstieg und ihre Tür öffnete.
Markus zog sich von ihr zurück und sie sah ihn verwundert an. „Wir sind noch nicht am Crown, oder?“ Früher an diesem Tag hatte es mehr als eine halbe Stunde gedauert, um vom Hotel zum Veranstaltungsort der Modenschau zu gelangen. Zugegeben, da war Verkehr gewesen, doch sie hatten diese Distanz ganz gewiss nicht so schnell zurückgelegt, oder doch?
Sie sah aus dem Fenster und nein, das historische Hotel war nirgendwo zu sehen.
„Ich habe ein Apartment für dich besorgt“, sagte Markus.
Sie drehte sich ruckartig auf dem Sitz und sah ihn mit weit offenen Mund an. Das Penthouse im Crown war eine Sache. Offensichtlich hatte er es immer in Reserve gehabt, aber noch ein Apartment? Für sie ?
„Markus, ich kann nicht...”
„Du kannst“, er legte eine Hand auf ihren Rücken, um sie zum Aussteigen aus dem Auto zu bewegen. „Und du wirst. Stell dir vor, es sei Haushüten. Meine Sekretärin ist den Sommer über im verlängerten Urlaub in Europa. Du wärest eine Hilfe, wenn du hierbliebest. Du kannst die Blumen gießen.“
Doch als Cora oben ankam, fand sie keine Blumen vor. Was sie fand, war ein luxuriöses, voll möbliertes Apartment mit drei Schlafzimmern und einem fantastischen Blick auf den Park.
„Das ist unglaublich.“ Sie ging durch die riesigen Räume. Ihre Füße versanken im dichten Teppich. Markus stolzierte hinter ihr, die Hände in den Taschen, ein halbes Lächeln lag schief auf seinem atemberaubenden Gesicht.
Cora hielt am Kamin an und ließ ihre Hand nervös über die marmorne Zierleiste gleiten. So ein Apartment in solch einer Gegend musste monatlich mehrere zehntausend Dollar kosten. In diesem überwältigenden Luxus fühlte sie sich klein.
„Es ist zu viel. Ich kann nicht...“ Ihre Stimme erstarb als ihre Augen Markus intensiven Blick trafen. Er hatte ihr schon so viel gegeben.
„Du kannst und du wirst. Bleib hier. Bleib sicher.“ Er sah aus, als würde er mehr sagen, doch die Vordertür öffnete sich. Einige Augenblicke später erschien Sharo. Er nickte ihr zu und reichte Markus einen Umschlag.
Markus öffnete ihn und sah kurz hinein. Sein Lächeln wurde haiähnlich, zufrieden. „Noch eine Sache, Engel.“ Er hielt ihr den Umschlag hin. Sie nahm ihn mit zitternder Hand.
Darin befanden sich Geldscheine. Knackig grüne Scheine, die sich im weißen Umschlag stapelten. Die Zahl auf den Scheinen ließ ihre Knie weich werden. „Was ist das?“
„Deine Bezahlung. Du hattest mir erzählt, dass deine ehemaligen Arbeitgeber dir etwas schuldet.“
„Haben sie, aber...“ Ihre Finger glitten durch das dicke Bündel für eine Blitzzählung. „Das ist zu viel. Es ist sehr viel mehr...“
„Sie haben dir nicht genug bezahlt. Sharo hat sich ein wenig mit ihnen unterhalten und sie haben ihren Fehler eingesehen.“
Das Geldbündel umklammernd, mehr Geld als sie je gesehen, geschweige denn in ihren Händen gehalten hatte, ließ ihre Sinne schwinden.
„Eine Unterhaltung mit ihnen geführt?“ Der große Mann sah sie teilnahmslos an. Nach dem, was sie über Sharo wusste, war er kein großer Redner. Bedeutete dies…?
„Sie haben...“ sie hielt inne, bevor sie sagte: „ihnen doch nicht wehgetan?“ Sie konnte doch nicht einfach fragen, ob er Paul zusammengeschlagen hatte, oder? „Geht es ihnen gut?“
Sharo hob sein Kinn. „Sie senden ihre Entschuldigung. Sie wollten, dass Sie wissen, dass sie eine Eheberatung aufsuchen, die Arbeitsstunden reduzieren und mehr Zeit mit ihrem Sohn verbringen wollen.“
„Oh. Gut.“ Sharo hatte mit ihnen gesprochen. Oder wenigstens hatten sie mit ihm gesprochen. Sagten ihm all dies und bezahlte ihr ihren Verdienst in knisternden Einhunderdollarscheinen aus. Sie starrte das Geld in ihrer Hand an, als wäre es eine Schlange.
„Siehst du, Engel?“ murmelte Markus. „Sie werden dich nicht mehr belästigen.“
Sharo war weg und es waren nur noch sie beide da. Er kam näher und ihre Welt verengte sich auf seine Umrisse, groß und beeindruckend, umwerfend in einem dunklen Anzug. Ihre Sinne waren erfüllt von seiner Nähe, der Nachmittagsschatten umfing sein Kinn, sein köstliches Aftershave. Ihre Unsicherheit verschwand.
„Du willst mir danken?“
„Danke“, hauchte sie, trunken von seiner Nähe. Tief in ihrem Inneren flüsterte eine kleine warnende Stimme, doch der Rest von ihr war bereits zu weit gegangen. Ihr Herz pochte in ihrer Brust, wild, aber glücklich. Glücklich gefangen.
„Nein, Baby.“ Markus blieb stehen, so nah, dass, sollte er noch einen Schritt vorwärts machen, ihre Brustwarzen seinen Anzug erneut streifen würden. Die winzige Alarmglocke verstummte abrupt. „Ich meine, willst du mir wirklich danken?“
„Ja?“
„Dann bleib hier. Lebe in diesem Apartment. Genieße es. Und esse morgen Abend mit mir.“
„Morgen“, flüsterte sie. Sein dunkles Haar fiel über seine Augenbrauen, wodurch die harten Flächen seines Gesichts gemildert wurden. Sie schwankte.
„Morgen“, flüsterte er und trat zurück, wodurch er ihre Trance beendete. Sie hoffte, er würde bleiben, doch er schenkte ihr nur dieses verdammte halbe Lächeln und sagte: „Gute Nacht, Göttin.“
Sie blieb zurück und wollte ihn so verzweifelt, als er sich zurückzog und die Vordertür hinter sich schloss. Nachdem sie eingerastet war, ließ sie sich dagegen fallen und hob ihre Hände an ihre Lippen, ihr Gesicht, fuhr durch ihr Haar.
Alles, was sie wusste, war, dass heute Nacht etwas Großes mit Markus Ubeli passiert war und dass ihr Leben nie wieder dasselbe sein würde.