Eine große Holztür ging auf, und die Wärter stießen mich vorwärts. Meine Beine gaben bei dem unerwarteten Stoß nach, und ich fiel hin. Glühender Zorn flutete durch meine Adern. Mit geballten Fäusten zwang ich mich, den Oberkörper vom Boden hochzustemmen. Im Mund schmeckte ich Blut, und mir wurde klar, dass ich mir im Fall die Lippe aufgeschlagen hatte. Ich spürte es kaum. Alles an mir fühlte sich taub an. Mir war, als sei gar keine Zeit vergangen, bis die Wärter wiedergekommen waren, um mich zu holen.
Ich war ohnmächtig geworden. Als ich wieder zu mir kam, zerrte man mich zurück in dieses Gebäude.
Ich hatte Mühe, zu sehen, was vor mir war. Mein verfilztes Haar und mein Bart bedeckten den Großteil meines Gesichts. Ein Aufblitzen von Weiß fiel mir ins Auge, während die Tür hinter mir zuschlug. Ich wusste, dass die Wärter gegangen waren, aber ich war nicht allein. Ich konnte spüren, dass noch jemand hier war.
Ich schob mir das Haar aus dem Gesicht. Das helle Licht über mir ließ mich zusammenzucken, doch ich versuchte mich auf dieses Aufblitzen zu konzentrieren. Nach viermal Blinzeln kam eine Gestalt in Sicht … eine Gestalt, die ich so gut kannte wie mich selbst.
Oder zumindest hatte ich das immer geglaubt.
Judah saß auf einigen hohen Stufen auf der anderen Seite im Zimmer und grinste. Seine Arme lagen lässig auf den gebeugten Knien. Sein langes braunes Haar war gepflegt, und sein Bart war inzwischen so lang geworden, wie ich ihn immer trug. Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich hatte gehofft, dass unsere Anhänger seine Verkleidung durchschauen würden. Aber er sah genau wie ich aus. Und als er nun vor mir saß, mit einem Schimmer von Stolz in den Augen, wusste er, dass ich es auch sah.
Judahs Plan hatte funktioniert.
Judah war Prophet Cain.
Angespornt durch den Willen, nicht den Kampfgeist zu verlieren, zwang ich meine geschwächten Arme, mich hochzustemmen, bis ich aufrecht saß. Ich atmete schwer, denn meine Kraft war aufgebraucht, doch ich ließ meinen Bruder nicht aus den Augen.
Und er wandte keine Sekunde den Blick von mir ab.
Eine verwirrende Mischung aus Gefühlen schwoll in mir. Judah war mein Bruder, genau wie ich in dieses Leben geboren. Wir waren dazu geschaffen, die Führer des Ordens zu sein. Man trennte uns von unseren Eltern, als wir noch jung waren, zu jung, um uns an sie zu erinnern. Wir hatten stets nur einander gehabt. Er war mein Lebenselixier, mein bester Freund … er war mein Zwillingsbruder. Doch als ich ihn jetzt ansah, schien er für mich Welten entfernt von dem Bruder zu sein, den ich im Herzen bewahrte. Der Zwilling, dem ich einst so nahe gewesen war, entglitt mir immer mehr. Ich wusste, wie es sich aufhalten ließe, aber ich … konnte es einfach nicht.
»Judah«, sagte er, und seine Stimme hallte von den dicken Steinwänden wider. Trotz meiner Erschöpfung hob ich ruckartig den Kopf.
Judah.
Er hatte mich Judah genannt. Sein Wahn war noch schlimmer, als ich befürchtet hatte.
Mein Körper vibrierte vor Zorn, als ich seinen eigenen Namen aus seinem Mund hörte. Ich leckte mir über die trockenen und rissigen Lippen. Dann schluckte ich, nur um die Kehle etwas zu befeuchten, und widersprach heiser: »Cain.« Judahs dunkle Augen blitzten wütend auf. Doch das trieb mich bloß weiter an. »Cain«, wiederholte ich. »Mein Name ist … Cain.«
Judahs Grinsen verschwand, und er versteifte sich. Langsam legte ich mir die Hand aufs Herz. »Ich bin der Prophet … nicht du … nicht … du …« Er lief knallrot an.
Unfähig, die Hand weiter zu heben, ließ ich sie sinken. Judah sah zu, wie sie kraftlos neben mir herabfiel. Die Röte in seinen Wangen schwand wieder, und er beugte sich vor. Die Anspannung im Raum wurde stärker, als er mich anstarrte, und die Luft fühlte sich zu heiß zum Atmen an.
Einige Sekunden lang sagte er gar nichts, sondern sah mir nur in die Augen. Schließlich verzogen sich seine Lippen zu einem breiten, grausamen Lächeln. »Weißt du, Bruder, als wir Kinder waren, war ich überzeugt, dass du der größte Mensch auf Erden seist. Noch mehr als Onkel David.«
In meinem hastigen Ausatmen konnte ich ein schwaches, heiseres Pfeifen hören, den Beweis, dass die Prügel ihren Tribut von meinem Körper forderten. Meine Kehle war rau und wund, aber was noch mehr wehtat, war der Schmerz in meinem Herzen, als ich die Wehmut nach vergangenen Zeiten in Judahs Stimme hörte. Weil ich mich daran erinnerte. Ich erinnerte mich daran, wie er mich stets angesehen hatte, wenn wir als Kinder auf dem perfekt getrimmten Rasen der Gemeinde in der Sommersonne lagen. Dann redeten wir davon, wie ich eines Tages aufsteigen würde, mit meinem Bruder an meiner Seite. Immer an meiner Seite, wie Gott es vorgesehen hatte. Ich schloss die Augen. Damals waren wir unschuldige Kinder, die die Welt durch eine rosarote Brille sahen. Wir hatten keine Ahnung von dem Weg, der vor uns lag, die tückischen Pfade, über die wir wandeln würden.
Es war seltsam. Ich konnte nach wie vor die Aufregung, die wir damals empfanden, in mir aufsteigen fühlen. Ich dachte an meine Angst vor meinem persönlichen Weg: der Prophet zu werden.
Aber ich hatte immer gewusst, dass ich es schaffen konnte, weil ich ihn hatte.
Doch nur wenige Monate nach meinem Aufstieg waren wir plötzlich nicht mehr unzertrennlich. Unsere Bindung aneinander wurde zerschmettert durch seine Gier. Ausgelöscht durch seinen Hochmut … zerstört durch sein Verlangen nach Rache.
Mit zusammengebissenen Zähnen und vor Hass immer steifer werdenden Muskeln fuhr Judah fort: »Aber als wir älter wurden, hast du mich bloß noch frustriert. Wir haben beide die Heilige Schrift studiert, allerdings konnte ich die Lektionen viel schneller als du aufnehmen. Wir wurden gleich erzogen, doch nur du wurdest nie bestraft. Du hast einen Fehler nach dem anderen gemacht; hast dich durch Predigten geholpert und dich durch unsere heiligen Passagen hindurchgetastet wie ein blinder Narr.« Judah legte den Kopf schief und musterte mit zusammengekniffenen Augen meine tätowierten Arme. Die Hangmen-Tattoos. Ich wusste, er hasste es, dass ich sie hatte. Ich wusste, er hasste es, dass ich erwählt worden war, um die Aufgabe zu erfüllen, die unser Onkel für so wichtig erachtet hatte.
Er hatte es gehasst, dass er nicht ich war.
Ein seltsamer Ausdruck trat in sein Gesicht. Und ausnahmsweise konnte ich nicht einschätzen, was er dachte.
»Dann hat unser Onkel dich ausgesandt, um die Männer des Teufels zu infiltrieren.« Judah seufzte. Er rieb sich übers Gesicht, genau wie ich es immer tat. Dann schüttelte er den Kopf … genau wie ich immer. Er musste meine Gewohnheiten und Eigenheiten studiert haben.
Eine Frage stellte ich mir unentwegt: Wie lange hatte er die Übernahme schon geplant? Lange genug, um jede Bewegung von mir zu studieren. Lange bevor ich ihm Grund dazu gab. Mir gefror das Blut in den Adern. Mein Bruder, mein Zwilling … anscheinend hatte er die ganze Zeit an mir gezweifelt.
»Weißt du, als du aus der Gemeinde geschickt und bei diesen Männern eingeschleust wurdest, war ich erleichtert«, sagte er. »Meine Tage verbrachte ich in Isolation. Ich studierte eifrig und wurde mit jedem Tag stärker in meinem Glauben, besser informiert über unsere Bewegung. Ich festigte meine Fähigkeit, unsere Anhänger anzuführen.« Judah stand auf.
Ich musste den Kopf nach hinten legen, um zu ihm aufzublicken, als er über mir aufragte. In seinen Augen sah ich den Rausch der Macht, den ihm das brachte. Der wahre Prophet, der zu Füßen des beiseitegeschobenen Bruders kniete.
Er grinste selbstgefällig. Dann ging er in die Hocke, auf Augenhöhe zu mir. »Ich konnte nie begreifen, wieso unser Onkel dich, seinen ›erwählten Erben‹, in die Klauen Satans geschickt hat.« Er senkte die Hand und fuhr das Tattoo von Hades auf meinem Unterarm nach. »Aber jetzt weiß ich es.« Judah nickte, als würde er sich selbst davon überzeugen, dass, welche Theorie auch immer er im Kopf hatte, sie richtig war. »Er hat dich auf die Probe gestellt. Er wollte sehen, ob du dem Einfluss des Teufels widerstehen kannst.« Judah ließ meine Hand fallen und zuckte lässig mit den Schultern. »Wie sich herausstellt, konntest du es nicht.«
»Oh doch«, widersprach ich. »Ich habe fünf Jahre lang unter ihnen gelebt. Ich habe Informationen gesammelt, und ich habe uns stark gemacht. Ohne diese Informationen wären wir in unserer Mission gescheitert!« Ich zuckte zusammen, weil meine Kehle vor Schmerz pochte. Aber ich schob das beiseite und fuhr fort: »Du wärst in nur wenigen Wochen unter diesen Männern umgekommen. Du bist zu schwach. Ich dagegen blieb stark. Ich tat das, was ich für unsere Sache tun musste.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Ich habe für sie getötet. Ich habe Leben genommen, unschuldige Leben. Du wärst daran zerbrochen!«
Judahs Miene veränderte sich nicht, aber an der Anspannung um seine Augen sah ich, dass meine Worte ins Schwarze getroffen hatten.
»Du bist nicht stark geblieben, Bruder«, antwortete er höhnisch und unterdrückte seinen Zorn. »Du bist gefallen. Du hattest eine Verfluchte in deinen Händen und hast sie gehen lassen, weil du glaubtest, dass du sie liebst.« Er legte den Kopf schief. »In Wahrheit standst du nur unter ihrem Bann, wie alle anderen. Wie alle schwachen Männer, die bereits zuvor zu Fall gekommen waren. Deine Schwäche hat diese Männer in unsere Gemeinde geführt und unseren Erlöser getötet.«
Hass auf Judah tobte in mir. Er hatte keine Ahnung, wovon zur Hölle er da redete!
Judah beugte sich vor. »Und selbst dann, als ich dir alle drei brachte, sie dir sozusagen auf dem Silbertablett servierte, konntest du sie nicht festhalten. Stattdessen hast du sie gehen lassen. Du warst geblendet von ihrer Schönheit, schon wieder, geleitet von Lust und Sünde. So ein Verhalten, Bruder, deutet nicht auf einen Propheten hin.«
Ich wollte etwas sagen, doch er fiel mir ins Wort. »Auf der Heimfahrt wurde mir klar, warum du zu den Hangmen gesandt worden warst.« Er spielte mit mir, indem er mich auf Knien auf seine Schlussfolgerung warten ließ. »Weil unser Onkel wusste, dass du fallen würdest. Er wusste, dass das Böse dich beeinflussen würde.« Judahs Augen schimmerten vor Selbstgerechtigkeit, und er nickte. »Er hat dich weggeführt, damit ich in Abgeschiedenheit bleiben konnte. Er wusste, dass du eine Ablenkung für mich bist.« Ein langsames Grinsen spielte um seine Lippen, und mir gefror das Blut in den Adern. »Am Ende war ich der ausersehene Prophet. Dies alles war für mich bestimmt. Das ist mir jetzt alles klar.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten, als ich endgültig die Fassung verlor, und sagte: »Du predigst nichts als Hass! Ich kann dich in meiner Zelle hören. Du hast der Herde die Entrückung verkündet. Das Ende aller Tage. Du hast Panik verbreitet!«
»Weil es so ist, Bruder. Die Zeit ist gekommen«, erwiderte er ruhig.
Frustriert schüttelte ich den Kopf. »Das wäre von Gott verkündet worden. Du hättest eine direkte Offenbarung vom Herrn erhalten. Du kannst das nicht einfach von allein verkünden! Du kannst nicht unschuldige Leben in Gefahr bringen, weil du nach dem Blut der Hangmen gierst!«
Judah grinste breit, und mir wurde es schwer ums Herz. »Das habe ich«, sagte er stolz. »In dem Augenblick, als du vom Glauben abfielst, indem du die Verfluchten Schwestern in der Fabrik freigelassen hast, fühlte ich die Veränderung in mir. Ich fühlte die Bürde der Führerschaft von deinen Schultern auf meine fallen. Und seitdem habe ich eine Offenbarung nach der anderen von Gott erhalten, genau wie unser Onkel so viele Jahre lang.« Judah nickte langsam. »Und ich wurde angewiesen, unser Volk auf die Entrückung vorzubereiten. Es ist Zeit, Bruder. Die Zeit, auf die wir uns unser Leben lang vorbereitet haben, ist gekommen.«
Ich war total geschockt. Ich studierte Judahs Gesicht und suchte darin nach Täuschung, nach einem Beweis dafür, dass er log. Aber ich sah nur Wahrheit und Überzeugung in seiner Miene. Ich schüttelte den Kopf, denn ich war unfähig, es zu glauben. Er konnte es nicht sein … nein, das war nicht möglich …
Judahs Hand legte sich hart auf meine Schultern. »Bruder«, sagte er sanft. In einem Moment hatte sein Blick sich von hart zu freundlich verändert, von wütend zu liebevoll … vom Propheten zu meinem Bruder.
Ich wollte antworten, seine Hand abschütteln und ihm sagen, dass ich wusste, dass er log. Doch ich tat es nicht. Denn ich kannte ihn. Ich wusste, wann mein Zwilling log … Ich wusste nicht … ich konnte mich nicht konzentrieren … er sah aus, als würde er die Wahrheit sagen … mein Kopf tat zu sehr weh, und meine Instinkte ließen mich im Stich …
»Bruder«, versuchte Judah es wieder. Diesmal blickte ich ihm müde in die Augen. »Heute ist der vierzigste Tag deiner Züchtigung. Du hast für deine Schwäche und dein Fehlurteil gebüßt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es sind fünfunddreißig.« Ich wusste nicht, wieso ich mit ihm darüber stritt – wie viele Tage vergangen waren, war überhaupt nicht wichtig. Aber ich brauchte einfach etwas, das real war. Denn für mich war nichts mehr real. Nichts.
An meiner Wand waren fünfunddreißig Striche.
Nicht vierzig.
Fünfunddreißig.
»Du warst nicht immer bei Bewusstsein, Bruder. Einige Bestrafungen haben dich für lange Zeit außer Gefecht gesetzt. Eher am Anfang, als deine Fahnenflucht noch frisch und die Züchtigung strenger war. Jetzt sind es vierzig Tage und vierzig Nächte, wie unsere heiligen Bücher es fordern. Ich habe mich von dir ferngehalten, während du dich deiner Bestrafung stelltest. Für deine Sünden musste Buße getan werden, genau wie in unserer Kindheit. Isoliert von denen, die du liebst. Heute bin ich hier, um dich deine Taten bereuen zu sehen und dich zurück in den Schoß der Gemeinde zu bringen.« Seine Züge wurden sanfter. »In meine Arme und mein Vertrauen.«
»Ich soll meine Taten bereuen?«, fragte ich verwirrt. Alles in mir fühlte sich taub an: Haut, Fleisch und Knochen. Aber unter seinen Worten fing mein Kopf wieder zu pochen an.
»Ja«, sagte Judah sanft. »Deine Sünden. Dass du den Glauben an den Orden verloren hast … an mich.« Meine Eingeweide verkrampften sich, als er mich mit so viel Mitgefühl anstarrte. Als seine Züge weicher wurden. Als er mich ansah wie ein Bruder.
Judahs Hand griff nach unten und nahm meine. Ich starrte auf unsere verschränkten Hände – meine schmutzig und verletzt, seine makellos. Ich unterdrückte einen Schrei, als seine Finger sachte meine Hand drückten, und blickte ihm in die Augen. Seine braunen Augen funkelten. »Judah«, keuchte ich heiser und spürte, wie mein Kampfgeist schwand.
»Bereue deine Sünden, Bruder, bitte. Bitte … ich …« Er räusperte sich. »Ich brauche dich an meiner Seite.« Er lachte leise. »So wie es immer für uns war … wie es immer sein sollte. Brüder, verbunden durch Gott, Blut und Glaube.«
Ich war müde. So müde. Seine Hand lag in meiner, und die Wärme seiner Zuneigung sickerte in meine Haut. Ich wollte nicht mehr allein sein. Ich hatte es satt, allein zu sein.
»Ich will nicht mehr allein sein«, flüsterte ich.
Judah drückte seine Stirn an meine. »Dann sei es nicht, Bruder. Komm zurück zu uns. Befreie dich aus Satans Klauen und kehre zurück zu uns. Du hast hier bei mir ein Zuhause. Ein Zuhause, das auf deine Rückkehr wartet. Bereue deine Sünden, Bruder … sprich nur diese befreienden Worte aus.«
Meine Lippen zuckten, als ich meine Entschlossenheit schwinden fühlte. Ich wollte wieder eine Familie. Ich wollte geliebt werden. Ich wollte wieder vollständig sein.
Judah hielt den Atem an, als ich den Mund aufmachte … aber es kam nichts heraus. Stattdessen rasten mir Bilder durch den Kopf. Lichtblitze von Handlungen, die ich hier in Neu Zion gesehen hatte. Judahs Videos von Kindern, die verführerisch tanzten. Judah, der mich einlud, mir eines als Gefährtin zu wählen. Die Erweckungen, an denen Judah, wie ich wusste, teilgenommen hatte. Sex mit kleinen Mädchen. Der Sex, die Akte erwünschter Verderbtheit. Ich konnte die Narbe im Gesicht der Verfluchten Delilah sehen, als stünde sie vor mir – ihren furchtsamen, verängstigten Blick.
»Bruder, hör mir zu«, fuhr Judah fort, und sein Griff um meine Hand wurde immer fester. »Es war einfach nur verkehrt herum. Ich bin der Prophet, und du bist die Hand des Propheten. Deshalb hattest du immer Schwierigkeiten, alles zu meistern. Weil wir für andere Rollen bestimmt sind.«
Judah setzte sich auf Augenhöhe vor mir hin. In dieser Höhe wirkte er mir wieder gleichgestellt. Aber ich wusste, dass das nicht möglich war. Zu viel war geschehen, zu viele Dinge hatten Flecken auf meinem Glauben hinterlassen, als dass alles wieder werden konnte wie zuvor.
Nichts konnte wieder dasselbe sein. Das Wissen, das ich nun hatte, sorgte dafür.
»Nein«, flüsterte ich niedergeschlagen, bevor mir überhaupt klar wurde, dass ich es laut ausgesprochen hatte. Ich hob den Blick und sah, dass Judah mich eindringlich musterte. »Nein«, sagte ich wieder, nachdrücklicher diesmal, und fühlte Adrenalin durch meine Adern rauschen, das meine Knochen zum Leben erweckte und mich wieder klarsehen ließ.
»Nein, was …?«, fragte Judah stirnrunzelnd.
»Nein zu allem. Ich werde nichts bereuen.« Judah wollte seine Hand wegziehen, aber ich hielt sie fest. »Und was sollte ich auch bereuen: dass ich uns gerettet habe? Die Verfluchten Schwestern zu behalten hätte dazu geführt, dass die Hangmen noch einmal in unsere Gemeinde eingefallen wären. Alle Verfluchten Schwestern sind verlobt, verheiratet oder schwanger. Sie sind nicht länger spirituell rein genug, um die Braut des Propheten zu sein, selbst wenn wir sie zurückhätten.« Ich sog einen dringend nötigen Atemzug ein und fuhr fort: »Und ich werde nicht dastehen und zulassen, dass Kinder von erwachsenen Männern geschändet werden, Judah. Ich glaube immer noch an alles, an unsere Sache. Aber ich werde die Praktik der Erweckungen beenden. Es ist … barbarisch. Es ist schlichtweg falsch!«
»Nein«, antwortete Judah mit zusammengebissenen Zähnen. »Es ist der Weg des Propheten, der ihm von Gott offenbart wurde!« Er stand auf und riss seine Hand los.
Ich rang mit mir, was ich als Nächstes sagen würde. Ich wusste, welche Wirkung es haben würde … Aber ich entschied, es dennoch auszusprechen. »Ich glaube nicht, dass diese Praktik von Gott offenbart wurde. Wie könnte irgendein Gott das gutheißen?«
Judahs Pupillen weiteten sich. »Gerade jetzt?«, fragte er, taumelte rückwärts und sank auf die Steinstufen. Er kniff die Augen zusammen, als er mich musterte, als würde er einen Fremden vor sich sehen. Seine Miene wurde finster. »Gerade jetzt entscheidest du, die Schriften infrage zu stellen, in unserer wichtigsten und bedeutsamsten Zeit? Wenn ich dich am meisten brauche?«
Ich starrte wortlos zurück.
Judahs Lippe zuckte aufgebracht. »Sag mir«, forderte Judah und machte eine Kunstpause, »hättest du Erfolg darin gehabt, die Verfluchte Salome dazu zu bringen, dass sie in der Gemeinde bleibt – würdest du dann dasselbe empfinden?«
Mir war, als hätte mein Zwilling mich in den Bauch geschlagen. Er wusste, welche Gefühle ich Mae gegenüber gehegt hatte. Und nun richtete er das gegen mich. Judah beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Und? Würdest du?«
Und ich dachte wahrhaftig über seine Frage nach. Ich stellte mir Maes wunderschönes Lächeln vor, ihr langes dunkles Haar und ihre eisblauen Augen – das, was mir immer am besten an ihr gefallen hatte. Doch dann schloss ich die Augen und sah sie in Styx’ Armen. Ich sah, wie sie ihn anschaute. Und ich sah, wie sie mich inzwischen anschaute. Mit Mitleid, vielleicht sogar Hass.
Nie mit Liebe und Respekt.
Was zur Hölle soll ich bloß tun?
In meinem Kopf herrschte völlige Verwirrung. Ich versuchte mir vorzustellen, ich sei mit Mae verheiratet, hier in Neu Zion. Ich hätte nie eine andere genommen. Doch Mae hätte dieses Leben nie ertragen. Sie hasste diesen Ort, und ich hatte sie einst innig genug geliebt, um das nicht für sie zu wollen.
Zur Hölle, ich hatte überhaupt keine Ahnung mehr, was ich empfand. Je länger ich in dieser Zelle gelegen hatte, erfüllt von Leid und Schmerz, umso mehr hatten sich meine Gefühle für sie abgekühlt. Wer wollte schon jemanden, der einen verabscheute? Wer wollte eine Frau, die sich von allem angewidert fühlte, was man war?
Mae hatte mich als Freund gewollt, und ich war ihr immer nur in den Rücken gefallen. In meinem Bauch machte sich ein dumpfer unerträglicher Schmerz breit. Außer meinem Bruder war sie der einzige Mensch gewesen, dem ich vertrauen konnte.
Und im Moment brauchte ich einen Verbündeten.
Ich holte langsam und mühevoll Luft und begegnete dem Blick meines Bruders. »Ich hätte sie nie festgehalten.« Judahs Kopf ruckte nach hinten: Ich hatte ihn geschockt. Und so wie ich keine Lüge in seinen Offenbarungen gefunden hatte, wusste ich, dass er keine Lüge in meinen Worten wahrnahm. »Sie war nie für unsere Welt bestimmt.«
Judah schien die Wut förmlich auszustrahlen. Sie begann als gedämpftes Glühen und wuchs zu einem Schmelzfeuer. »Warum?«, brüllte er und erhob sich von den Stufen wie ein Dämon aus der Hölle. »Warum bist du so? Wir wurden für dieses Leben geschaffen, aber du kehrst dem Pfad und deinen Anhängern den Rücken. Deinem Bruder! Wofür?«
Ich sagte nichts. Judah ging zu mir und packte mich am Arm, sodass mir der Schmerz bis in die Fingerspitzen fuhr. Doch Judahs Blick ruhte wieder auf meinen Tattoos. »Das hätte ich nie im Leben geglaubt, aber du wurdest wirklich verdorben. Wärst du noch rein in deinem Glauben, würdest du dich nicht mit so viel Bosheit dagegen wehren.« Er bückte sich und fragte völlig gefühlskalt: »Willst du zurück in die Zelle? Willst du, dass die Züchtigung weitergeht? Willst du allein sein für den Rest deines sündigen Lebens?«
Ein Aufflackern des alten Judah blitzte in den Augen meines Bruders auf. Begraben unter all der Macht in seinen Händen, unter dem Glauben, der ihn abschirmte wie ein Schutzschild, flehte er mich aufrichtig an, alles zu bereuen. In diesem Moment verstand ich, dass er genau so viel Angst hatte, in seiner Führung zu scheitern, wie ich sie gehabt hatte.
Judahs Hand glitt über meinen Arm und landete wieder in meiner Handfläche. Ich schluckte den Ansturm der Rührung hinunter, der mich überfluten wollte. Eine ganze Weile hatte ich mich nach dem Glauben an andere verzehrt. Seine Hand war eine Rettungsleine. Ich war am Ertrinken, und er versuchte verzweifelt, mich zu retten.
Wir hatten immer nur versucht, einander zu retten.
»Bereue deine Sünden, Bruder«, flehte Judah mit leiser und schmerzerfüllter Stimme. »Gemeinsam können wir unser Volk groß machen. Wir können die Gläubigen auf die Entrückung vorbereiten. Der Himmel ist unser.« Er umfasste meine Finger fester und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
»Wenn das Ende aller Tage gekommen ist, werden wir trotzdem zugrunde gehen. Wir haben keine reine Verfluchte Schwester, die uns durch eine Heirat rettet. Wir sind so oder so verdammt, Judah. Alles ist verloren. Es ist vorbei.« Sekunden der Stille vergingen.
»Nein, das stimmt nicht«, sagte er. Ich erstarrte. Judah seufzte aufgeregt auf. »Ich habe eine andere gefunden.«
Ich hob ruckartig den Kopf und suchte seinen freudigen Blick. »Was?« Ich war so schockiert, dass meine Stimme ganz rau klang.
Judah legte die Hände auf meine Schultern. »Bereue deine Sünden, Bruder. Noch ist nicht alles verloren. Alles verläuft genau nach Plan. Unsere Anhänger trainieren und lernen zu kämpfen. Die Geschöpfe des Teufels werden uns nicht finden, bevor wir uns erheben.« Er blickte mir in die Augen und wiederholte: »Bereue deine Sünden. Bereue deine Sünden und kehre zurück, um an meiner Seite zu stehen. Das war immer die Bestimmung für dich und mich. Lass es uns so beenden, wie wir es begonnen haben. Gemeinsam.«
Da ich unter Schock stand, brachte ich kein Wort heraus. Ich wollte Ja sagen. Ich wollte ihm zustimmen. Ich wollte im Herrenhaus baden, schlafen, essen. Ich wollte alles, was mein Bruder machte … doch nicht so, wie er es tat.
Das konnte ich nicht.
Ich entzog mich seiner Berührung. »Ich werde meine Taten nicht bereuen. Ich hatte recht. Unsere Praktiken müssen sich ändern. Die Verfluchten Schwestern gehören nicht hierher zu uns.«
Mit einem Schlag war der liebevolle Bruder, den ich kannte, verschwunden, und an seiner Stelle stand wieder der falsche Prophet. Judah stand auf und wandte sich von mir ab. In seiner Haltung lag nichts als Gefühlskälte. »Bruder Michael! Bruder James!«, rief er. Die Tür hinter mir ging auf. Es brach mir das Herz, aber ich blieb still. Judah sprach die Männer hinter mir an: »Er weigert sich, seine Taten zu bereuen. Er ist ein Sünder, und seine Züchtigung muss fortgesetzt werden.«
»Ja, Prophet«, antwortete Bruder Michael. Ich starrte meinen Bruder an und wollte unbedingt, dass er mich ansah. Doch er tat es nicht. Er ging hinaus, ohne noch einmal zurückzublicken.
Große Hände legten sich um meine Arme, und ich wurde auf die Füße gezerrt. Ich biss mir auf die Zunge, um einen Schmerzschrei zu ersticken. Der Wächterjünger zerrte mich in die Züchtigungskammer und mühte sich damit ab, meinen schlaffen Körper zu tragen. Ich war größer und breiter gebaut als beide Männer. Aber ich war geschwächt. Ich konnte mich nicht wehren.
Wie jeden Tag wurde ich gezwungen, stehen zu bleiben, und dann kamen die Schläge. Fäuste rammten sich in meine Rippen, die Nieren, den Brustkorb … aber ich empfand gar nichts.
Ich zwang mich, stehen zu bleiben. Heute ließen sie mein Gesicht in Ruhe, aber bei jedem Schlag, bei jedem Treffer, lächelten sie, und ich sah die Verachtung in ihren Mienen. Doch ich konnte sie nicht hassen. Einst war ich wie sie gewesen. Sie glaubten an unsere Sache, zu einhundert Prozent. In ihren Augen war ich ein Sünder, der vom Teufel vom rechten Weg abgebracht worden war.
Vielleicht war ich ja einer.
Ich wusste, dass der Teufel real war. Panik packte mich. Vielleicht war ich ja dem Teufel zum Opfer gefallen. Vielleicht war meine Seele ja dazu bestimmt, in der Hölle zu schmoren.
Ich wusste es einfach nicht. Doch während ich mir diese Frage immer wieder stellte, wurde mir klar, dass es mich in diesem Moment auch nicht kümmerte.
Bruder Michael verpasste mir einen letzten schnellen Schlag in den Rücken, und ich fiel zu Boden, als meine Knie unter dem Schmerz einknickten. Ich presste die Handflächen auf den Steinboden und rang nach Luft.
Bruder Michael und Bruder James zerrten mich wieder auf die Füße und schleiften mich aus der Züchtigungskammer. Ich zitterte bei jedem Schritt. Und mit jedem weiteren Schritt wurde mein Zorn stärker. Ich konnte fühlen, wie er meinen ganzen Körper packte und Bitterkeit wie eine Infusion in meine Adern sickerte.
Die Tür zum Zellenblock ging auf. Ich spürte, dass jemand in der Nähe war, hob den Kopf und sah zwei neue Wärter am Eingang stehen. Beide hatten dunkles Haar und dunkle Augen. Muskelbepackt, das Haar kurz geschnitten und dunkle Bartstoppeln an den Wangen. Sie sahen aus, als seien sie verwandt. Beide hielten eine AK-47 in den Händen und trugen die typische schwarze Kleidung mit den schweren Stiefeln der Wächterjünger. Sie nickten den Wärtern, die mich festhielten, zu. Als ihre Blicke auf mich fielen, verzogen sie die Lippen vor Abscheu.
Während ich zurück in meine Zelle geschleift wurde, fielen mir ein älterer Mann und eine ältere Frau auf, die am Ende des Korridors Essen zubereiteten. Beide blickten in meine Richtung, wandten sich aber hastig ab, als die Wärter am Eingang befahlen: »Weitermachen!«
Die Wärter warfen mich in meine Zelle. Als meine Wange auf den Steinboden prallte, konnte ich meine Wut nicht länger unterdrücken. Angetrieben von dem Rest Adrenalin in meinen Adern sprang ich auf und brüllte fünf Wochen Wut auf einmal aus mir heraus. Wankend lief ich durch die Zelle, und meine Beine kribbelten und pochten, als das Blut in meine Muskeln rauschte.
Ich fixierte den Blick auf die Wand mit den Strichen und zählte sie. »Fünfunddreißig«, grollte ich. Meine Stimme klang inzwischen heiser von der Überbeanspruchung. Ich hob den scharfkantigen Stein vom Boden auf und schlug damit gegen die Steinwand, sodass sich die scharfe Kante in meine Handfläche bohrte. Ich ließ den Stein auf den Boden fallen.
Ich war wieder in der Zelle, um hier zu verrotten, eingesperrt wie ein Tier. Ich trat zurück, nahm erneut den blutigen Stein und hob ihn mit zitternden Händen wieder an die Wand. Dann fing ich eine neue Strichliste an und kratzte fünf neue Linien an die Wand. »Vierzig …«
Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich sackte auf den Boden und lehnte mich an die Wand. Mein Oberkörper und mein Rücken brannten von den Schlägen.
Die Stille in der Zelle war ohrenbetäubend, als ich auf dem harten Boden saß, und die feuchte Luft klebte wie Leim an meiner Haut. Das Knacken der Lautsprecher kündigte eine Verkündigung an, und gleich darauf dröhnte Judahs Stimme durch das Fenster meiner Zelle.
»Volk von Neu Zion, die heutige Göttliche Teilhabe beginnt in einer Viertelstunde.«
Ich erstarrte. Eiskalter Schweiß tröpfelte mir über den Rücken, als ich daran dachte, was in dieser Halle geschehen würde. Mir war übel, als ich mich an die einzige Göttliche Teilhabe erinnerte, die ich je gesehen hatte. Erwachsene Männer, die kleine Mädchen vergewaltigten, Judah, der das alles willig in sich aufsog, und Sarai, die gefügige Gefährtin an seiner Seite.
Ich schloss die Augen und unterdrückte einen weiteren Schrei. Die Zelle verfinsterte sich, als Sturmwolken aufkamen und den blauen Himmel erstickten. Eine passende Metapher für das, was in mir ablief. Das Licht wurde ausgelöscht wie eine Kerze im Wind. Das einzige Mal, dass ich mich noch so gefühlt hatte, war gewesen, als ich die Hangmen infiltriert hatte. Damals war ich angewidert gewesen von ihrem sündigen Leben und hatte gewusst, dass mein Glaube der einzige Weg zur Erlösung war.
Aber jetzt fing ich an zu glauben, dass diese Männer, so unrein sie auch waren, doch zumindest Ehre und Stolz besaßen. Und ich war mir verdammt sicher, dass sie im Namen von Hades oder des Clubs keine Kinder vergewaltigt hätten.
Meine Hände zitterten. Mir war so eng in der Brust, dass ich fürchtete, meine Muskeln würden reißen. Mich erstaunte, wie schnell ich in die Dunkelheit stürzte. Ich konnte fast spüren, wie mein zerrissenes Herz schwarz wurde.
Ich schloss die Augen, lehnte den Kopf an die Wand und versuchte zu schlafen, bloß um dieser niederschmetternden Realität zu entkommen, wenn auch nur vorübergehend. Aber dann wurde ich hellhörig, als ich ein Geräusch aus der Zelle neben mir hörte. Ich runzelte die Stirn. Ich war doch allein in diesen Zellen, oder? Seit meiner Einkerkerung war außer den Wärtern niemand hier gewesen. Die Wärter und offenbar die neuen Leute, die Essen zubereiteten.
Ich lauschte angestrengter. Zuerst hörte ich nichts. Ich dachte schon, dass ich die Geräusche der Wärter für etwas anderes gehalten hätte. Doch da hörte ich es wieder.
Ich presste das Ohr an den Stein. Leises Schniefen drang durch die dicke Wand. Ich lauschte angestrengter, um sicher zu sein, dass ich mir nicht vor Schmerz etwas einbildete. Doch dann hörte ich es wieder, begleitet von einem leisen Husten.
Mein Puls wurde schneller. Da war jemand. Ich rutschte nach vorn und suchte die Wand ab. Unten am Boden der Zelle war ein schmaler Spalt, wo alter Zement weggebröckelt war. Ich legte mich mit dem Bauch nach unten auf den Boden und versuchte hindurchzusehen. Der Spalt war zu schmal, um etwas zu erkennen, aber als ich das Ohr dorthin hielt, konnte ich die Geräusche deutlicher hören.
Jemand weinte.
Draußen erklang Musik und signalisierte den Beginn der Göttlichen Teilhabe. Ich schloss die Augen und versuchte die Bilder zu verdrängen, was dort geschehen würde. Das Weinen jenseits der Wand schien lauter zu werden.
»Hallo?«, fragte ich und zuckte zusammen, als das Wort kratzend durch meine wunde Kehle kam. Ich schluckte, um meine Stimmbänder zu befeuchten. Das Weinen hörte auf. Ich strengte meine Ohren an und hörte ein schlurfendes Geräusch.
»Hallo?«, versuchte ich es wieder. »Ist da jemand?« Es frustrierte mich, dass meine Stimme viel zu schwach und zu leise kam. Ich drückte mich enger an die Wand, presste den Oberkörper an den Stein und holte tief Luft.
»Ja … hier ist jemand.«
Aufregung packte mich. Die Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, aber die Person in der Zelle hatte geantwortet. Ich legte den Kopf nach hinten und versuchte durch den Spalt über dem Ziegelstein zu blicken. Ich konnte immer noch nichts sehen. Doch ich fühlte die Gegenwart von jemandem auf der anderen Seite der Wand.
»Wer bist du?«, fragte ich.
Mehrere Sekunden Stille.
»Mein … Name ist … Harmony.«
Ich erstarrte. Die Stimme gehörte einer Frau. Harmony. Ihr Name war Harmony.
»Harmony«, flüsterte ich, und mein Herz schlug schneller.
»Wie … wie heißt du?«, fragte sie. Ich schloss die Augen, wegen der sanften Stimme und auch wegen der Frage.
Ich atmete ein und wieder aus, einmal, zweimal, dreimal. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich wusste nicht, wer sie war und warum sie überhaupt in dieser Zelle saß. Meinen Namen konnte ich ihr nicht sagen. Der Prophet hieß Cain. Ich wollte nicht Cain sein. Nichts in mir wollte je wieder etwas mit diesem Namen zu tun haben. Und ganz sicher würde ich mich nicht Judah nennen.
»Dein Name?«, fragte Harmony wieder.
Ich dachte nicht über meine Antwort nach. Und mir war kaum klar, dass ich eine hatte, bis ich mich sagen hörte: »Rider …« Ich holte tief Luft. »Mein Name ist Rider.«