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Harmony

Ich schluckte und warf einen besorgten Blick zur Tür meiner Zelle, zitternd vor Nervosität. Ich wollte leise sprechen, um nicht die Aufmerksamkeit der Leute draußen zu erregen. Die Wärter von Neu Zion hatten ein paarmal nach mir gesehen, und jedes Mal sah ich den lustvollen Ausdruck in ihren Augen.

»Rider«, antwortete die tiefe Stimme. »Mein Name ist Rider.«

»Rider«, wiederholte ich und runzelte die Stirn. »Das …«, meinte ich aufgeregt, »das ist kein Name, den ich kenne.«

Rider schwieg eine Weile und sagte schließlich: »Dann passt er … denn ich bin es nicht wert, dass man mich kennt. Ich bin kein guter Mensch mehr.« Ich verspürte ein Ziehen in der Magengegend, als ich den offensichtlichen Schmerz in seiner Stimme hörte. Ich hörte ihn angestrengt und brüchig Luft holen. »Ich denke, vielleicht war ich ja mal einer, vielleicht, ich weiß nicht … aber ich bin mir nicht mehr sicher, wer ich bin … alles ist ein einziges Chaos.«

Verwirrt legte ich den Kopf etwas nach hinten, denn er redete schon ziemlich seltsames Zeug. Doch plötzlich ging mir ein Licht auf. »Man hat dich zu einem Sünder erklärt?«

Ich hörte Rider scharf Luft holen. »Ich habe … ich habe schlimme Dinge getan.«

»Bist du deshalb in dieser Zelle?«

»Ja«, antwortete er traurig, in seiner Stimme lag allerdings noch etwas anderes – Verwirrung, Schmerz … Zorn?

Dann hörte ich die Tür zu meiner Zelle aufgehen. Hastig setzte ich mich wieder hin wie zuvor und wischte mir die restlichen Tränen aus dem Gesicht. Ich würde sie den Beweis meines Moments der Schwäche nicht sehen lassen. Ich hatte Angst, dass es einer der Wärter war, aber als die Tür aufging, sah ich ein vertrautes Gesicht.

Bruder Stephen.

Ich entspannte mich und hoffte inständig, dass der Mann aus der Zelle nebenan schwieg. Ich wusste nicht, warum ich nicht wollte, dass Bruder Stephen ihn hörte. Ich wusste, es würde ihm nichts ausmachen, dass ich mit dem Fremden gesprochen hatte. Doch er würde auch nicht wollen, dass ich mich in irgendwelche Gefahr begab. Mit einem anderen Sünder zu sprechen gehörte ganz sicher dazu.

»Hallo, Bruder Stephen«, sagte ich leise.

Bruder Stephen kam in die Zelle, ein Tablett mit etwas für mich zu essen in den Händen. Er ging in die Hocke und stellte es zu meinen Füßen ab. Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Bruder Stephen schaute über die Schulter zur Tür. Als er sah, dass keine Wärter da waren, sagte er: »Zwei Wächterjünger aus Puerto Rico sind hier in den Zellen für uns verantwortlich. Der leitende Wächterjünger des Propheten, Ezrah, hat entschieden, dass es das Beste sei, da sie uns kennen.« Ich holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Erleichterung überkam mich.

Durch die schmalen Risse zwischen den alten Ziegelsteinen in der Wand war zu hören, wie sich Rider nebenan rührte. Er gab ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen von sich.

Bruder Stephen runzelte die Stirn und blickte mich an. »Dort in der Zelle ist ein Mann«, flüsterte er fast unhörbar. »Ich weiß nicht, wer er ist. Wir wissen nur, dass er vom Glauben abgefallen ist und dafür bestraft wird. Hart.« Er warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Mein Herz pochte schneller. Ich nickte, um ihm zu zeigen, dass ich verstand. Er prüfte noch einmal, ob die Luft rein war, und fuhr fort: »Wir sind nicht für ihn verantwortlich – Schwester Ruth und ich. Frauen aus der Hauptgemeinde kommen täglich, um ihn zu füttern und zu waschen. Und er wird jeden Tag von den leitenden Jüngern des Propheten weggebracht.« Bruder Stephen schüttelte den Kopf, und Zorn blitzte in seinem Gesicht auf. »Ich habe gesehen, wie sie ihn zurückbrachten. Sie lassen ihn wahrlich bezahlen für seine Verfehlungen, was immer sie auch sein mögen. Er ist in einem sehr schlechten Zustand.«

Ich schluckte schwer, als die Angst um meine eigene Sicherheit in mir aufzusteigen drohte. Ich würde mich nicht davon überwältigen lassen.

Bruder Stephen sah mich mitfühlend an. »Bisher wissen wir nicht, was Prophet Cain mit dir vorhat. Er könnte immer noch verkünden, dass du keine Verfluchte bist, und das wäre es dann.«

Mein Herz pochte schneller, und das Blut rauschte durch meine Adern. »Ich weiß«, flüsterte ich. »Aber ich bin mir sicher, dass man mich als Verfluchte brandmarken wird.«

Er hob die Hand und wollte sie mir auf den Kopf legen, doch da hallten die Schritte eines Wärters durch den Flur. Ich gab das Tablett zurück in Bruder Stephens Hände, gerade als die Tür aufging. Wächterjünger Solomon stand da. Ich entspannte mich.

»Ich habe ihr etwas zu essen gebracht«, teilte Bruder Stephen ihm mit.

Bruder Solomon nickte. Danach trat er beiseite und wartete darauf, dass Bruder Stephen das Tablett auf den Boden stellte. Der tat es und stand dann auf. Er nickte mir zu und blickte mir dabei in die Augen.

Ich atmete tief durch und nickte, um ihn wissen zu lassen, dass es mir gut ging.

Als Bruder Stephen ging, nickte auch Solomon mir zu. Ein angespanntes Lächeln spielte um seine Lippen, und schließlich machte er die Tür zu. Ich schaute auf mein Tablett. Gemüse und Brot. Mir war klar, dass ich alles aufessen sollte, um bei Kräften zu bleiben, aber ich brachte nichts herunter. Die Angst, hier zu sein, war immer noch zu stark.

»Harmony?« Ich zuckte zusammen, als ich Riders gedämpftes heiseres Keuchen hörte.

Ich schob das Tablett aus dem Weg, ließ mich wieder an den Spalt in der Wand sinken und legte den Kopf auf meine Hände. »Ich bin hier.«

So nahe konnte ich wieder Riders rasselnden Atem hören. Ich zuckte zusammen, denn nun war mir klar, warum er so angestrengt klang. Er wurde jeden Tag gezüchtigt. Schwer.

»Wer war das?«, fragte Rider. »Wer … wer ist da zu dir gekommen?«

»Er heißt Bruder Stephen«, antwortete ich. »Er ist ein Freund.«

Rider schwieg einige Sekunden lang. Ich drehte das Ohr zum Spalt und fürchtete schon, dass er das Bewusstsein verloren hatte, doch da fragte er: »Er soll sich hier drin um dich kümmern?«

Erleichtert, dass er in Ordnung war, erwiderte ich: »Ja. Schwester Ruth und er kümmern sich um mich. Sie haben mich vor etwas beschützt, obwohl sie das nicht hätten tun dürfen.« Ich zögerte und rang mit mir, ob ich ihm mehr offenbaren sollte. Doch dann hörte ich mich fortfahren: »Sie werden dafür bestraft. Sie teilen sich die Zelle neben mir, aber als Buße haben sie die Aufgabe erhalten, diesen Zellenblock zu säubern und instand zu halten. Sie bringen mir Nahrung und Kleidung. Du wirst sie mehrere Male am Tag in meine Zelle kommen hören.«

»Sie werden bestraft, weil sie dich beschützt haben?«

»Ja.« Ich hörte wieder Schlurfen aus seiner Zelle. »Du hast Schmerzen.«

Riders scharfes Luftholen war alles, was ich als Antwort brauchte. Der Zorn, den ich so lange unterdrückt hatte, wuchs in mir und brodelte in meinem Blut.

Rider schwieg. »Ja«, entgegnete er schließlich. »Ich habe Schmerzen.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Noch ein Mensch, der verletzt wurde. »Was tut man dir an? Und warum?«

Ich zählte viermal tiefes Ein- und Ausatmen von Rider, bevor er sagte: »Sie schlagen mich.« Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich bekomme bloß ein Mindestmaß an Nahrung und werde gesäubert, nur damit am nächsten Tag alles von vorn losgeht. Sie wollen mich brechen.«

»Rider«, flüsterte ich und wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.

Ich hörte Regen auf das Zellendach prasseln und hob den Kopf, um aus dem winzigen Fenster ganz oben an der Wand gegenüber zu schauen. Der Himmel hatte sich verdunkelt, und dicke Regentropfen fielen aus grauen Wolken. Während ich aus dem Fenster starrte, wanderten meine Gedanken zu der kürzlichen Ankündigung des Propheten. Die Göttliche Teilhabe. Abscheu machte sich in mir breit, als ich an die verdorbenen Dinge dachte, die in dieser Halle stattfinden würden … an den Schmerz und das Leid, das den Frauen von den Wärtern und Jüngern zugefügt würde.

Ich verfluchte den Tag, an dem Prophet David die Schrift verfasst hatte, die solche Taten guthieß. Ich verfluchte den Tag, an dem er den Anhängern durch seine Briefe offenbart hatte, dass die Verfluchten Töchter der Eva durch die reinsten seiner auserwählten Männer durch eine Himmlische Andacht gereinigt werden mussten … rituell gereinigt, ab dem Alter von acht Jahren. Jedes Mal, wenn ich unsere heiligen Bücher las, platzte ich fast vor Wut.

»Sie wollen, dass ich meine Taten bereue.« Riders Stimme lenkte meine Konzentration wieder zur Wand.

Ich ließ den Kopf in meine Hände sinken und fragte: »Deshalb wirst du geschlagen? Damit du deine Taten bereust?«

»Ja.«

»Aber du wirst sie nicht bereuen?«

Das tiefe Grollen eines entfernten Donners hallte über uns, aber ich verdrängte das Geräusch und strengte mich an, Riders Antwort zu hören.

»Nein«, bekannte er schließlich. »Egal was sie mit mir machen, ich werde sie nicht bereuen.« Er holte mühsam Luft. »Ich kann nicht … ich kann es nicht hinnehmen, was sie von mir zu billigen verlangen, die Handlungen, die ich nach ihrem Willen ignorieren soll.«

Mir wurde es schwer ums Herz bei dem Schmerz und der schneidenden Ablehnung in seiner tiefen Stimme. Ich hob den Kopf von den Händen und presste die Handfläche an die Wand, obwohl ich wusste, dass er mich nicht sehen konnte. Ich wusste, wie sich so viel Schmerz anfühlte, und ich erkannte seine Traurigkeit an der Art, wie er sprach.

»Was hast du getan?«, zwang ich mich zu fragen.

Ich presste die Finger stärker an die Steinmauer, während ich auf seine Antwort wartete. »Zu viel«, antwortete er vage. »Zu viele unverzeihliche Dinge.« Er seufzte. »Ich habe die Schläge verdient, und noch mehr, Harmony. Die Dinge, die ich getan habe …« Ich konnte seinen Kummer förmlich durch die dicke Wand dringen fühlen. »Ich sollte hier sein, und ich sollte so behandelt werden.« Er holte tief Luft und flüsterte: »Ich fange an zu denken, dass es noch schlimmer sein sollte.«

Ich schwieg, denn ich hörte die Überzeugung in seiner Stimme. Er meinte es ernst, jedes einzelne Wort. Er dachte wirklich, er sollte verletzt werden, bestraft … getötet. Ich fragte mich, was er getan hatte, das so schlimm war. Ich öffnete den Mund und wollte ihn danach fragen, doch da fing draußen Musik zu spielen an.

Ich zuckte zusammen, als sie durch die schweren Steinmauern der Zelle drang. Mein Blick wanderte zum Fenster. Der Regen hatte aufgehört, und blauer Himmel vertrieb das Grau.

Die Musik verstummte langsam wieder, und Rider sagte traurig: »Die Göttliche Teilhabe ist zu Ende.«

Ich kniff fest die Augen zu und atmete tief durch. Dann presste ich die Schenkel zusammen, als ich mir vorstellte, was die Mädchen, die zur Teilnahme ausgewählt worden waren, jetzt fühlen würden. Jeder Mann, der teilgenommen hatte, hätte sich strikt an Prophet Davids Anleitung gehalten, wie man himmlische Reinheit durch den Verkehr mit den Mädchen erreichte. Den Mädchen, deren zartes, vertrauensvolles Herz verletzt wurde von der Bösartigkeit der Männer, die ihnen soeben ihre Unschuld geraubt hatten. Übelkeit stieg mir in die Kehle. Ich konnte die finsteren Gedanken und die Anspannung in meiner Brust nicht ertragen.

Rider sagte nichts mehr. Auch ich schwieg. Es gab nicht viel zu sagen. Ich stellte mir vor, dass er ebenso gut wie ich wusste, was in dieser Halle des Bösen geschah.

Schwere Schritte waren im Flur zu hören, und ich richtete mich auf, um an die Wand gelehnt zu sitzen. Kaum hatte ich mich richtig hingesetzt, wurde die Tür aufgestoßen, und zwei Wächterjünger kamen herein: Solomon und Samson. Sie sahen auf mich herab, ihre Waffen in den Händen. Ich begegnete ihren Blicken und spürte, wie die Angst mich packte.

»Komm«, sagte Solomon. Ich stand auf.

Samson deutete auf meinen Schleier und die Haube. »Bedecke dich rasch. Du wurdest ins Herrenhaus gerufen.«

Mir wurde immer unbehaglicher zumute.

Der Prophet. Prophet Cain hatte nach mir gerufen.

Mit zitternden Händen machte ich den Schleier fest und strich mein Kleid glatt. Beklommen biss ich die Zähne zusammen. Ich hasste es, dass eine Begegnung mit dem Propheten eine derartige Angst in mir auslöste. Ich musste stärker sein als das.

Sieh zu, dass du deine fünf Sinne beisammen hast, Harmony. Du kannst das.

»Wir müssen gehen«, sagte Solomon hinter mir. Ich holte tief Luft, drehte mich um und ging zu den Wärtern. Mein Blick wanderte nach unten an den Boden der Zellenwand. Ich dachte daran, dass Rider verletzt auf dem Boden lag, und mein Herz machte einen Satz. Ich redete gern mit dem Fremden. Ich fühlte mich mit ihm verbunden. Er war wie ich, ein Ausgestoßener. Seine Gefühle und Gedanken waren ein Spiegel meiner eigenen. Und ich wollte unbedingt herausfinden, warum er hier war und was er getan hatte.

Ich war nicht sicher, ob ich es je erfahren würde.

Die Wärter geleiteten mich über den Flur. Wir kamen an der Zelle von Bruder Stephen und Schwester Ruth vorbei. Durch die offene Tür konnte ich sehen, dass Schwester Ruth etwas nähte, das nach neuen Schleiern und Gewändern für mich aussah. Bruder Stephen säuberte den Boden. Ich war froh, dass ihre Tür offen stand. Es bedeutete, dass sie mehr Freiheit hatten als ich. Wenigstens konnten sie ihre Zelle verlassen, um ihre Aufgaben in diesem Fiasko zu erfüllen.

Im Vorbeigehen fing ich ihren Blick auf. Beide hielten inne in dem, was sie gerade taten, und warfen mir ein aufmunterndes Lächeln zu.

Als wir hinauskamen, hüllte mich die feuchte Sturmluft ein. Der Wind presste das Kleid an meinen Körper und stellte meine Figur zur Schau. Ich zerrte an dem Stoff, damit er weniger enthüllte, doch es half nicht.

Wir kamen an einer Gruppe Wächterjünger vorbei, die zu irgendeinem Gebäude unterwegs waren. Alle blieben stehen und sahen mir hinterher. Ich versuchte den Blick gesenkt zu halten, aber ich konnte nicht anders als aufsehen. Ihre Hemden saßen locker, und ihre Gesichter waren schweißbedeckt. Eine plötzliche Woge von Ekel überkam mich – sie waren bei der Göttlichen Teilhabe gewesen. Meine Gedanken wanderten zu den Mädchen, mit denen sie ihre Himmlische Andacht erreicht hatten.

Es war Übelkeit erregend.

Samsons Hand drückte an meinen Rücken und zwang mich weiterzugehen. Ich gehorchte und folgte Solomon einen Schotterweg entlang. Als wir oben ankamen, sog ich den Anblick in mich auf. Land, so weit das Auge reichte, übersät mit Gebäuden. Es war wunderschön, eine ganze Wohnlandschaft mit mehreren Gemüsegärten und Bereichen zum Ackerbau.

Wir liefen über das weiche Gras. Der Boden war nass vom Regen. Meine Zehen quietschten in den Sandalen. Als wir um eine Ecke bogen, sah ich nicht weit entfernt ein riesiges weißes Haus. Es war ein schönes Gebäude. Mir war augenblicklich klar, dass nur eine Person in Neu Zion dort leben konnte.

Prophet Cain.

Mit jedem Schritt schlug mein Herz schneller. Gras wurde zu Kies, während wir den zentralen Pfad zum Haus entlanggingen. Als wir die Stufen zum Eingang erreichten, kam eine rothaarige Frau heraus. Neben ihr ein junges Mädchen, nicht älter als sieben oder acht Jahre, das ihre Hand hielt. Die Kleine hatte langes blondes Haar und strahlend blaue Augen. Noch von hier aus konnte ich sehen, dass sie eine Schönheit war. Die beiden gingen nach hinten um das Haus und verschwanden.

Von innen war das Haus riesig und wunderschön, ein Palast der Opulenz. Es roch intensiv nach Weihrauch.

Solomon führte mich zu einer hohen Holztür und klopfte dreimal. Eine tiefe Stimme rief, dass wir eintreten sollten. Ich zwang mich, aufrecht zu bleiben und Haltung zu bewahren. Du kannst das durchstehen, Harmony. Du musst.

Die Tür ging auf, und Samson führte mich hinein. Direkt vor uns standen zwei Wächter. Sie hatten Waffen in den Händen, trugen aber weiße Tuniken anstelle der üblichen schwarzen Uniformen. Auch sie wirkten gerötet vor Anstrengung … zweifellos erschöpft von der Göttlichen Teilhabe.

Wir blieben stehen. Ich konnte nicht sehen, was sich vor mir befand, denn Bruder Solomon versperrte mir die Sicht. Es war still im Raum; der Klang meiner langsamen, beherrschten Atemzüge schien den Raum ganz und gar auszufüllen.

Solomon trat beiseite. Ich hielt den Kopf unten, wie Schwester Ruth mir gesagt hatte. Den Propheten zu treffen war die höchste Ehre für unsere Anhänger, und die Schriften erklärten uns, dass eine gewisse Etikette erwartet wurde.

Aus den Augenwinkeln sah ich in einem erhöhten Bereich des Raumes einen Mann auf einem großen Sessel sitzen. Zwei große Stufen trennten ihn vom Rest von uns. Über uns, wie der Prophet des Ordens sein sollte.

Die Stille dehnte sich aus. Der Prophet stand auf. Ich hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und war froh darüber, denn sie zitterten zu sehr, um es zu verbergen.

Sie verrieten meine Angst.

Der Duft von Jasmin stieg mir in die Nase, als der Prophet näher kam. Er trug Weiß, die Farbe der Reinheit. Die Füße des Propheten blieben vor mir stehen. Atemlos spürte ich, wie sein Blick prüfend über meinen Körper glitt. Ich konnte zwar nur seine Füße sehen, aber erahnen, dass er groß und breit gebaut war.

»Hebe den Kopf«, befahl der Prophet. Ich gehorchte, und mein Blick glitt langsam über sein Gewand, das vom Hals bis zum Bauchnabel offen war und seine olivenfarbene Haut über festen Muskeln enthüllte. Seine Haut schimmerte, und ich nahm den Geruch einer kürzlichen Vereinigung an ihm wahr.

Das gab mir zu denken. Der neue Prophet sollte rein sein. Unschuldig bleiben für seine Frau.

Aber Prophet Cain …

»Sieh mich an!«, sagte er, unfreundlicher diesmal. Ich tat wie befohlen und sah gleich darauf sein Gesicht. Kurzer brauner Bart, langes braunes Haar und braune Augen.

Sehr zu meinem Ärger registrierte ich, dass er gut aussah. Sehr gut sogar. Er war einer der attraktivsten Männer, die ich je gesehen hatte. Seine Augen fixierten mich mit dem Blick eines Raubtiers. Ich hielt so intensiven Blickkontakt nicht aus und schlug die Augen erneut nieder. Dabei sah ich ein selbstgefälliges Lächeln um seine vollen Lippen spielen.

Der Prophet trat näher, bis sein nackter Brustkorb mich fast berührte. Ich mühte mich, zu Atem zu kommen. Meine Hände, immer noch hinter dem Rücken verschränkt, zitterten vor Nervosität.

»Harmony«, sagte er. Ich hob den Blick wieder zu ihm. Als ich ihm dieses Mal in die Augen sah, konnte ich ein erregtes Funkeln in ihren Tiefen sehen. Und noch etwas anderes. Etwas, das mich beunruhigte. Ich hatte schon immer geglaubt, dass ein Augenpaar viel über das Gemüt eines Menschen verraten konnte. Über seine Seele und das Wesen seines Herzens. Als ich Prophet Cains große braune Augen musterte, sah ich darin nichts als Gefühlskälte. Unter dieser Hülle lauerte ein unnahbarer und bösartiger Geist.

Prophet Cains Lippen öffneten sich, und er holte langsam und stockend Luft. Dann hob er die Hand und fuhr mit einer Fingerspitze über meine Stirn. Ich bebte unter seiner Berührung, aber nicht vor Wonne. »Harmony«, sagte er leise, leidenschaftlich … begehrlich. »ich kann zwar nur deine Augen sehen, aber darin erkennen, dass du in der Tat die Hure des Teufels bist.«

Ich schluckte, als seine Finger an den Verschluss meines Schleiers glitten. Eine Handbewegung, und der Schleier sank herab. Aber damit hörte der Prophet nicht auf. Er schob die Haube auf meinem Kopf weg. Mein blondes Haar fiel mir in Wellen über den Rücken. Mein Gesicht war unverschleiert und seinem Blick offen dargeboten.

Prophet Cain trat einen Schritt zurück und starrte mich an. Die ganze Zeit, und mit jeder Sekunde wurden seine Atemzüge schneller.

»Du bist wahrhaft eine Verfluchte«, verkündete er mit geröteten Wangen. Er streckte die Hand aus und kämmte mit den Fingern durch mein Haar. »Blonde mag ich am liebsten«, sagte er und kam näher. Sein Finger zog Kreise unter meinen Augen. »Und dunkle, dunkle Augen.«

Der Prophet strich über meine Wange und dann über meine Lippen. Mit jeder neuen Erforschung meiner Züge rötete seine Haut sich mehr … und seine Augen schienen dunkler zu werden.

Ich unterdrückte ein protestierendes Aufstöhnen, als seine Finger über meinen Hals und zu meinem Busen wanderten. Seine Atemzüge wurden schwerer, als er meine Brustwarzen umkreiste. Ich schloss die Augen und versuchte seine Berührung auszusperren. »Augen auf, Teufelshure«, befahl er barsch.

Ich gehorchte, und Prophet Cain belohnte meine Unterwürfigkeit mit einem stolzen Lächeln, das mir blitzartig Abneigung in den Leib jagte. Plötzlich beugte er sich zu meinen Füßen nach unten. Einen Moment lang fragte ich mich, was er vorhatte. Lange musste ich das nicht. Er griff den Saum meines Kleides und schob die Hand darunter. Seine Finger legten sich an meinen bloßen Knöchel und wanderten langsam meine Beine hinauf. Ich wimmerte, als ich seine Berührung auf meiner nackten Haut spürte, und rang um Luft, die mir offenbar wegblieb.

Aber den Propheten kümmerte das nicht. Seine Finger krochen meine Oberschenkel hinauf. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ohne bewusst an etwas zu denken, streckte ich die Hand aus, packte sein Handgelenk und hielt seinen Angriff auf. Ich hörte die Leute um uns herum nach Luft schnappen.

Ich machte bestimmt ganz große Augen, als mir klar wurde, was ich getan hatte.

Das Geräusch hastiger Schritte näherte sich, zweifellos die Wärter, die kamen, um mich zu züchtigen. Prophet Cain hob die freie Hand, und sie blieben stehen.

Ich verharrte reglos, meine Hand wie gelähmt auf seiner. Er packte mein Handgelenk mit seiner freien Hand. Als ich ihm in die Augen sah, erkannte ich darin Herausforderung und Zorn. Ich öffnete den Mund, um mich zu entschuldigen, doch mein Herz ließ mich die Worte nicht aussprechen.

Prophet Cain drückte mein Handgelenk, bis der Schmerz ein Inferno auf meiner Haut wurde und mein Knochen sich in seinem schraubstockartigen Griff zusammendrückte. Dann legte er den Kopf schief und stand langsam auf.

Sein Brustkorb streifte über meine Brüste, und seine Finger um mein Handgelenk drückten immer fester zu, bis ich seine Hand an meinem Oberschenkel losließ. Schließlich drückte er mich direkt an sich, seine Wange streifte über meine, und sein Mund hielt an meinem Ohr an.

Ich erstarrte.

Die Hand des Propheten an meinem Oberschenkel bewegte sich weiter nach oben, an meine intimste Körperstelle. Ich schloss die Augen. Er war zu stark, um ihn abzuwehren. Ich versuchte es gar nicht erst. Er war immerhin der Prophet. Niemand stellte sich gegen den Führer unseres Glaubens.

Ich musste ihn gewähren lassen.

Prophet Cains warmer Atem wehte um mein Ohr, als er ausatmete. »Eine Hure, die vor der Himmlischen Andacht gern kämpft?« Ich spürte sein Lächeln an meiner Ohrmuschel. »Meine liebste Sorte Sünderin. Eine, die erst gebrochen und dann durch meine Hände gereinigt werden muss.« Sein warmer Atem verursachte mir eine Gänsehaut. »Es ist das Böse, das meiner reinigenden Berührung widerstehen will. Dieses Böse wird mich nie überwältigen, Hure. Diese Lektion solltest du am besten gleich lernen – jetzt sofort.«

Mit dem letzten Wort fasste er mir grob zwischen die Beine. Ich schrie auf. Meine Hand, immer noch in seinem Griff, war zwischen unseren Oberkörpern gefangen und verhinderte, dass ich mich rühren konnte. Die Finger zwischen meinen Beinen glitten langsam zwischen meine Schamlippen. Es ekelte mich an. Vor lauter Frust traten mir Tränen in die Augen, aber ich ließ sie nicht fließen. Diese Genugtuung würde ich ihm nicht geben. Weder ihm noch sonst einem dieser Männer.

Der Prophet fuhr mit seinen forschenden Fingern zwischen meinen Beinen vor und zurück, immer wieder. Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass es aufhörte. »Unbehaart«, flüsterte er heiser, voll Begehren in der Stimme. Ich spürte, wie sein steifes Glied sich an meine Hüfte presste, und mir wurde übel. »Du wurdest gut vorbereitet für deinen Propheten.«

Ich antwortete nicht. Er erwartete ohnehin nicht, dass ich irgendetwas sagte. Die Männer in meinem Glauben scherten sich nicht um die Gefühle einer Frau.

Ich atmete tief ein und aus, um mich zu beruhigen. Prophet Cain ließ mich los und gab mir einen Schubs rückwärts. Ich schrie auf, als glühender Schmerz durch mein Handgelenk strahlte, während das gestaute Blut wieder durch meine Adern rauschte. Ich barg die Hand an meiner Brust.

Als ich aufsah, starrte Prophet Cain mich an. In seinem Blick lagen Herausforderung und Erregung. In diesem Moment war mir völlig egal, wie gut der neue Prophet aussah, denn seine finstere Seele machte ihn in meinen Augen absolut unattraktiv.

Der Prophet ging zurück zu seinem Sitz und tat dabei so, als sei nichts zwischen uns geschehen. Mein Kleid blieb an einer Seite hochgeschoben, verfangen in der herabgefallenen Haube. Ich schob den Saum wieder nach unten und drückte Schleier und Haube an mich.

Ich blickte auf, als ein junges Mädchen von der rechten Seite im Zimmer näher kam und neben dem Propheten stehen blieb. Eine hübsche Blondine mit blauen Augen. Mir wurde es schwer ums Herz: Sie sah nicht älter als vierzehn aus. Sie war noch ein Kind.

Und dann wurde ich noch bekümmerter, als sie die Hand auf Prophet Cains Schulter legte und er seine Hand auf ihre. Er sah sie an, und in seinem Blick konnte ich seine Zuneigung für sie sehen. Und sie bewunderte ihn mit derselben, wenn nicht noch größeren Leidenschaft.

Sie war seine Gefährtin.

Ich sah dem Mädchen in die Augen und war bestürzt, wie viel Eifersucht und Neid in ihren Tiefen schimmerten. Sie funkelte mich hasserfüllt an. Der Prophet schien es nicht zu bemerken, oder es war ihm egal. Er drückte einen Kuss auf ihren Handrücken und blickte dann wieder mich an.

»Die Entrückung ist nahe, Verfluchte. Ich bin sicher, das ist dir bewusst. Und wie du bestimmt auch weißt, prophezeien unsere Schriften, dass der Prophet eine Verfluchte Tochter der Eva heiraten muss, um unser Volk zu retten.« Er beugte sich vor. »Eine ganze Weile fürchteten wir, dass alle Hoffnung verloren sei. Es gab keine Verfluchte in Neu Zion … aber jetzt bist du da.« Unsere Blicke trafen sich. »Da fürchte ich schon, dass unser Herr uns verlassen hat, und er bestärkt meinen Glauben zehnfach.« Ich schlug die Augen nicht nieder. Ich bog den Rücken durch und hielt den Kopf hoch. Viele Sekunden vergingen, und dann verzog sich Prophet Cains Oberlippe zu einem Grinsen.

Ich behielt eine ausdruckslose Miene bei. Nach außen hin wirkte ich ganz gelassen, aber innerlich zitterte ich wie Espenlaub.

Prophet Cain setzte sich und nahm die Hand des Mädchens. Es war offensichtlich, dass er seine Gefährtin liebte – was auch immer er darunter verstand. Und dass sie von ihm hingerissen war, war noch weniger zu übersehen.

»Wir werden bald heiraten, Verfluchte«, erklärte Prophet Cain. »Unser Volk weiß noch gar nicht, dass es dich gibt. Seine Hoffnung auf Errettung vor der Wiederkunft des Herrn schwindet.« Er zeigte auf mich. »Du wirst ihm beistehen. Wenn es so weit ist und es sich gegen die Männer des Teufels verteidigt, wirst du ihm gut zureden, damit es mutig genug ist, um zu kämpfen.«

Ich warf wieder einen Blick auf das Mädchen. Der Prophet musste meine Neugier bemerkt haben, denn er sagte: »Das ist Sarai, Verfluchte. Sie ist meine Hauptgefährtin.« Er küsste ihre Hand. »Im Augenblick ist sie meine einzige Gefährtin. Sie ist meine Herzensdame.«

Ich umklammerte meine Haube fester und flüsterte: »Harmony.« Dann schüttelte ich den Kopf, denn ich konnte den Zorn, der unter meiner Haut brodelte, nicht länger aufhalten. Oder meine Worte.

»Was?«, fragte der Prophet und wandte sich von seiner Hauptgefährtin mir zu. Ich hob den Kopf. Meine Lippen bebten, als ich seinen wütenden Blick sah.

Ich schluckte und schaute mich nervös um. Die Wächter starrten mich geschockt an. Ich sah, dass Solomon und Samson frustriert die Zähne zusammenbissen. Sie waren enttäuscht von meiner Unfähigkeit zur Unterwürfigkeit.

»Ich sagte: Was?«, wiederholte er in härterem Tonfall.

Ich drehte ihm den Kopf zu, verscheuchte meine Nervosität und antwortete: »Harmony.«

Der Prophet legte den Kopf schief, und Sarai sah mich finster an. »Du wagst es, ihm deinen Namen zu sagen?«, fragte sie, und ihre süße Stimme triefte vor Bosheit. Und plötzlich verstand ich, warum der Prophet dieses Mädchen mochte. Sie war ein Kind mit dem ungezähmten Temperament einer verdorbenen Frau doppelten Alters. Hübsch, aber grausam. Prophet Cain sah mit Stolz zu ihr auf. Dann schaute er mich an, und in seinem Blick lag reinste Verachtung.

Er stand auf, stieg langsam die Stufen hinunter und blieb wieder vor mir stehen. Ich hielt den Kopf gesenkt und starrte auf den Steinboden. Seine Finger legten sich unter mein Kinn und hoben meinen Kopf. Mein Blick begegnete seinen braunen Augen. Darin lag absolut keine Spur von Freundlichkeit – nichts, was mich glauben ließ, dass unser neuer Prophet ein guter Mann war. »Sag mir, Verfluchte: Warum, denkst du, sollte mich dein Name interessieren?«

Mein Herz hämmerte. Ich antwortete nicht. Prophet Cain senkte den Kopf bis auf Augenhöhe zu mir. Er lächelte, doch es war ein kaltes, demütigendes Lächeln. »Du bist ein Geschöpf des Teufels. Du wurdest perfekt für einen einzigen sündigen Zweck geschaffen – reine und gottesfürchtige Männer in Versuchung zu führen. Dein Name bedeutet nichts, ebenso wie du nichts wert bist. Du wirst nichts wert bleiben, bis du verheiratet wirst und ich dich von deiner angeborenen unmoralischen Anziehung reinige. Die größte Schlacht eines Propheten ist der Sieg über den Teufel selbst. Über den Teufel, der dich als sein Mittel erschaffen hat, um gute Männer zu Fall zu bringen.« Prophet Cain strich über meinen Hals. »Selbst jetzt, da ich hier stehe, kann ich deine Anziehung wahrnehmen. Ich will dich, Teufelshure. Du bist buchstäblich das schönste Geschöpf, das ich je gesehen habe.«

Meine Pupillen weiteten sich, als seine Augen sich vor Verlangen verdunkelten. Aber schnell wie eine Schlange zog er die Hand zurück und schlug mir quer über die Wange. Überrumpelt taumelte ich auf dem unebenen Steinboden. Ich fiel hin und schirmte mein Gesicht vor weiteren Schlägen ab. Er ging neben mir in die Hocke. Ich zuckte zusammen, als er die Hand wieder hob … aber er schob sich bloß das lange braune Haar nach hinten.

»Dein Name bedeutet mir nichts, Verfluchte. Und von nun an bis zum nahenden Armageddon wirst du gut daran tun, deine scharfe Zunge in meiner Gegenwart nicht zu gebrauchen. Ich dulde keine Anmaßung, vor allem nicht von jenen, die geboren und geschaffen wurden, um mich zur Sünde zu verführen.«

Prophet Cain gab Solomon und Samson ein Zeichen. Sie marschierten heran, und Samson zerrte mich auf die Füße. »Bringt sie zurück in die Zelle«, befahl der Prophet. »Die Hochzeit wird bald stattfinden. Sagt ihren Hütern, sie sollen dafür sorgen, dass sie bereit ist.«

»Ja, mein Herr«, antwortete Solomon. Ohne mir Zeit zu geben, die Haube aufzusetzen oder den Schleier anzulegen, brachten sie mich aus dem Zimmer und aus dem Herrenhaus. Wir eilten über den Kiesweg und über den Rasen, der zurück zum Zellenblock führte.

Ich beeilte mich, mit ihren langen Schritten mitzuhalten, und drückte mein verletztes Handgelenk an mich. Meine Wange schwoll an von Prophet Cains Schlag, aber ich ignorierte den Schmerz. Er wurde verdrängt von der abrupt deutlich werdenden Wahrheit, wie meine Zukunft aussehen würde. Es musste geschehen. Das wusste ich, doch das vertrieb nicht die Angst vor dem schweren Weg, der vor mir lag.

Ich würde mit diesem Mann verheiratet werden. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, wie diese Ehe sein würde … wie mein Leben sein würde … was aus mir werden würde, wie ich durch ihn werden würde – gebrochen, wertlos … die verfluchte Frau, für die er mich hielt. Aber ich musste es durchstehen. Es gab keinen anderen Weg.

Solomon und Samson brachten mich zurück in meine Zelle. Im Flur konnte ich die Stimmen von Bruder Stephen und Schwester Ruth hören, die fragten, was mit mir passiert war. Ob der Prophet mich zu einer Verfluchten erklärt hatte.

Ich sank auf den harten Boden und schloss die Augen, als mein Kopf nach hinten an die Steinwand sank, die meine Zelle von der Riders trennte. Ich zuckte zusammen, als ich das Handgelenk bewegen wollte, und der Schmerz zwang mich zu kurzen, keuchenden Atemzügen.

Ich schaute hinab auf den Schleier und die Haube, die ich immer noch in der unverletzten Hand hielt. Ich hob den Schleier hoch, bis er das Licht blockierte, das vom Fenster hereinfiel. Obwohl es ein leichter Stoff war, fühlte er sich wie eine erstickende Maske an.

Meine Wange pochte. Ich ließ den Schleier fallen und sah zu, wie der Seidenstoff zu Boden flatterte. Hastig hob ich ihn wieder auf, denn ich wusste, dass ich ihn immer tragen musste.

»Harmony?« Eine gedämpfte, raue Stimme rief meinen Namen.

Ich versuchte meine Gefühle auszublenden, aber ich konnte die Verzweiflung nicht daran hindern, meine Kraft zu vertreiben. »Mein Name bedeutet nichts. Genau wie ich nichts wert bin.« Tiefe Leere machte sich in meiner Brust breit, als ich mir das Treffen mit dem Propheten noch einmal vergegenwärtigte.

»Harmony?«, fragte Rider lauter und nachdrücklicher. »Was ist passiert? Was ist los?«

Ich sog durch trockene Lippen die feuchte Luft ein und gab der Angst nach, die mich schon seit Tagen zu überwältigen gedroht hatte. »Mein Name bedeutet nichts. Ich bin ein Geschöpf des Teufels, einzig dazu erschaffen, um Männer zur Sünde zu verführen. Ich bin die personifizierte Sünde. Ich bin ein Magnet für das Böse, das sich tief in meinem Inneren verbirgt …« Ich verstummte und erstickte fast an den Worten, die ich nicht aussprechen wollte. Aber ich sagte sie doch. Der Prophet hatte mich gesehen. Die Wahrheit war nicht zu leugnen.

Ich holte noch einmal tief Luft und drehte den Kopf zu dem Spalt im Zement. »Ich bin das stärkste Werkzeug des Teufels … ich bin eine Verfluchte Tochter der Eva. Das allerschlimmste Geschöpf auf Erden.«