6

Rider

Ich wurde innerlich ganz starr, als Harmony diese Worte aussprach. Ich bin eine Verfluchte Tochter der Eva …

Nein, dachte ich, und ihr Bekenntnis ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Nein, nein, nein! Mein Magen wurde zu einem schwarzen Loch, und die Stille hing schwer zwischen uns. Meine tiefen Atemzüge klangen wie Donner, als sie vom Boden abprallten, auf dem ich lag. Bilder von Mae, Delilah und Magdalene blitzten in meinem Kopf auf.

Ich dachte zurück an Judah. Daran, als ich ihm gesagt hatte, dass wir alle dem Untergang geweiht seien … Ich habe eine andere gefunden, hatte er darauf gesagt. Damals hatte ich nicht groß darüber nachgedacht, aber …

Er hatte eine andere Verfluchte Tochter der Eva, um die große Prophezeiung zu erfüllen.

Nein, nicht noch einmal. Ich presste die Handflächen auf den Boden. Meine Arme zitterten bei der an sich geringen Anstrengung, mich hochzustemmen, aber ich hielt durch und schaffte es, mich aufzusetzen.

Ich rutschte näher an den Spalt und lehnte den Kopf an die Wand. Dann schloss ich die Augen und kämpfte gegen die Finsternis an, die in meinem Herzen hauste. Der Zorn war so stark, dass ich ihn glühend heiß in jeder Ader spürte. Mein Rücken war stocksteif und meine Muskeln verkrampft von der Anspannung, die mich gefangen hielt.

»Harmony«, rief ich, und meine Stimme klang in meinen eigenen Ohren fast fremd.

Langes Schweigen, und dann antwortete sie: »Ich bin noch hier … Ich bin sicher, er wird mich nie irgendwo anders hingehen lassen.«

Mir wurde es schwer ums Herz, weil sie so traurig klang, so vollkommen niedergeschlagen. Ich kannte die Frau nicht, aber das war mir egal. Sie war der erste Mensch, mit dem ich je gesprochen hatte, ohne irgendeine Absicht, ohne die Bürde meines aufrichtigen Glaubens, der alles bestimmte, was ich sagte und tat. Sie kannte mich nicht als den vorherbestimmten Propheten und nicht als den verräterischen Bruder der Hangmen. Sie kannte mich als den ungesehenen Gefangenen – ein ausgestoßener Sünder, genau wie sie.

»Harmony, hör mir zu«, keuchte ich und legte die Hand an die harte Wand. So fühlte ich mich ihr näher. Ich stellte mir vor, wie sie wohl aussah, jenseits der Wand. Sie musste eine Schönheit sein. Jede Verfluchte, die ich gesehen hatte, war von auserlesener Schönheit … zwar unübertroffen in Schönheit, doch zugleich gequält von Schmerz und Selbsthass. Das war mir inzwischen klar. Man nannte sie die Verfluchten, weil Prophet David ihre Schönheit als zu unwiderstehlich für die Männer des Ordens erachtet hatte. Zu atemberaubend, um gottgefällig zu sein.

Ich zuckte zusammen, als ich mir vorstellte, was Harmony in ihrem Leben schon durchgemacht haben musste … was mein Bruder ihr antun würde, sobald er sie an seiner Seite hätte. Ich wusste nicht wieso, aber der Gedanke verwandelte mein Blut in kochende Lava.

Ich ballte die Hand an der Mauer zur Faust. »Harmony, wo bist du gewesen? Vor ein paar Stunden?«

Mit angehaltenem Atem wartete ich auf ihre Antwort. »Beim Propheten«, sagte sie schließlich.

Ich atmete scharf aus und fragte dann mit zusammengebissenen Zähnen: »Was hat er getan?« Denn ich kannte meinen Bruder. Ich hatte selbst gesehen, was die Macht der Stellung als Prophet aus ihm gemacht hatte. Wie sie ihm zu Kopf gestiegen war.

Ich wollte nicht, dass meine Frage sie aufregte. Ich wollte sie nicht weinen hören. Doch zu meiner Überraschung klang ihre Stimme fest, als sie sagte: »Er wollte sichergehen, dass ich in der Tat eine Verfluchte bin. Bis heute hatte er mich noch nie gesehen.«

»Und?«, hakte ich mit zugeschnürter Kehle nach.

»Ja«, antwortete sie leise. »Er hat es als wahr verkündet. Ich bin eine Verfluchte Tochter der Eva – die Erwählte, die er heiraten wird.« In ihrer Stimme hörte ich einen Anflug von Zorn. Ein Aufblitzen von Abwehr. Es löste eine Woge von Stolz in mir aus. Ich hatte sie noch nie gesehen, war ihr erst vor Kurzem begegnet, aber in den wenigen schlichten Sätzen konnte ich ihre Stärke hören. Sie wärmte etwas in mir, das zuvor eiskalt gewesen war.

Harmony war anders. Sie hatte Kampfgeist. Die wenigen Frauen, mit denen ich in der Gemeinde gesprochen hatte, wirkten unterwürfig. In Harmonys Ton konnte ich hören, dass sie nichts dergleichen war. Sie brannte für das, was sie tat.

Sie war stark.

Ein seltsames Gefühl überkam mich. Ich war noch nicht sicher, was es war, doch was es auch war, es linderte die Hitze in meinem Blut ein wenig.

»Er hat mich begutachtet«, fuhr sie fort. Aber ihre Stimme klang nun weniger fest. Ich hörte den Schmerz, der an die Oberfläche drängte. Sie verstummte und atmete einige Male stockend durch.

Ich machte den Mund auf und wollte sie fragen, was Judah getan hatte. Allerdings war ich nicht sicher, ob ich mir das anhören konnte. Doch das spielte keine Rolle, denn ein paar Sekunden später sagte Harmony: »Er hat mich zwischen den Beinen berührt. Er …« – sie holte scharf Luft, und es brach mir das Herz – »er hat mir wehgetan. Er … er hat mich dort angefasst, wo ich nicht berührt werden wollte.« Sie hatte schließlich im Flüsterton gesprochen.

Der Zorn, der sich beruhigt hatte, kam mit voller Kraft wieder, als Harmony mir erzählte, was Judah getan hatte. Und ich konnte mir vorstellen, wie er dabei vorgegangen war. Als wir diese kranken Videos gesehen hatten, mit Kindern, die verführerisch für ihren Propheten tanzten, hatte Judah Vergnügen daran gefunden, sie anzusehen. Er hatte achtjährige Kinder sexuell erweckt. Er schlief regelmäßig mit Sarai, einem Mädchen, das erst vierzehn Jahre alt war. Er würde an nichts anderes mehr denken als daran, eine Verfluchte zu berühren. Er hielt sie für die Niedersten der Niederen und seine Berührung dabei für die Reinigung, die sie brauchten, um Erlösung zu erlangen.

Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat. Ohne bewusst an etwas zu denken, zog ich die Hand zurück und donnerte sie an die Wand. »Fuck!« brüllte ich, als der Frust, den ich schon seit Wochen – nein, seit ich vor Monaten hier angekommen war – empfand, seinen Höhepunkt erreichte.

Meine Hand pochte, als sie auf den Stein traf, aber ich machte weiter und brüllte mit jedem Schlag meine Wut hinaus. Schweiß lief mir übers Gesicht, und mein schon schwacher Arm zitterte vor Anstrengung. Meine Kehle war wund von meinem Ausbruch, aber ich hieß den Schmerz willkommen. Wenigstens fühlte ich etwas. Ich hatte so lange nur dumpf dagesessen, dass ich meinen Körper gar nicht mehr hatte spüren können. Doch jetzt fühlte ich mich wieder lebendig. Es war Zorn, hell und ohnmächtig, das Gefühl war mir allerdings willkommen.

So verdammt willkommen.

Keuchend sackte ich an die Wand. Ich roch den eisernen Geruch von Blut: Ich hatte mir die Haut von den Fingerknöcheln gescheuert.

Und wie um noch Öl ins Feuer zu gießen, erwachten die Lautsprecher langsam knackend zum Leben. Ich wartete darauf, die Stimme zu hören, die sich identisch zu meiner anhörte. Als die Stimme kam, lief mir ein Schauer über den Rücken. Judah. Judah, mein einziger Verwandter, war dabei, alles zu verderben. Mittlerweile erkannte ich ihn gar nicht mehr wieder. Meine Brust brannte. Ich rieb mir über den Oberkörper, um den Schmerz zu lindern. Es funktionierte nicht.

»Volk von Neu Zion, nehmt eure Waffen auf! Übt, bis eure Hände bluten. Wir werden bereit sein für die Entrückung. Wir dürfen nicht versagen, wenn die Männer des Teufels kommen, um uns zu vernichten. Wir sind die heiligen Krieger Gottes!«

Ich zwang mich zu tiefen Atemzügen, als die inzwischen vertrauten Geräusche von Zielübungen in die Zellen drangen. Mein Zorn wich absoluter Hoffnungslosigkeit. Ich hatte keine Ahnung, was Judah geplant hatte. Erst kürzlich hatte ich gelernt, dass sich nie vorhersagen ließ, was im Kopf meines Bruders vorging. Nicht einmal ich konnte das. Aber ich wusste: Was es auch war, es konnte nichts Gutes sein.

Judah war auf Blut aus.

Er war getrieben von Hass auf die Hangmen … auf jeden, der unseren Anhängern im Weg stand. Mir drehte sich der Magen um. Ich wusste, ich war der Einzige, der ihn aufhalten konnte, doch keiner unserer Anhänger wusste, dass ein Betrüger den Platz des Propheten eingenommen hatte. Es gab niemanden, der mir helfen konnte. Ich hatte keine Verbündeten, die mich aus dieser Zelle befreien konnten. Judahs Wachen waren loyal und genauso blutdürstig wie er.

Es gab niemanden, der mir helfen konnte, wieder die Zügel in die Hand zu bekommen.

Verzweifelt lauschte ich einem Schuss nach dem anderen, den Wachen, die mehr Genauigkeit von den Leuten forderten. Noch von meiner Zelle aus konnte ich die Angst unserer Herde wie eine dichte Wolke fühlen – ihr nervöses Geschrei, ihr Schweigen. Sie alle hatten Angst. Judahs Hassreden hatten alle bis an die Grenzen getrieben. Was passierte, wenn sie darüber hinausgingen, konnte niemand sagen.

»Rider?«, drang während einer Pause zwischen den Schüssen Harmonys Stimme durch die Wand.

»Ja?«

»Warum bist du so wütend? Ich höre es dir an … ich kann deine Wut sogar durch die Wand hindurch fühlen.«

Ich war kurz davor, ein Bekenntnis abzulegen, aber ich konnte ihr die Wahrheit nicht sagen. Ich mochte es, dass Harmony mit mir redete, und ich wollte nicht, dass sie damit aufhörte. Sie musste sich bei mir auf irgendeine Art sicher fühlen, sodass sie mir anvertraute, was Judah getan hatte, und ihren unterschwelligen Hass auf unseren Glauben ausdrückte. Wenn sie wusste, wer ich war, würde sie nie mehr mit mir reden, sondern davon ausgehen, dass ich genau wie mein Bruder war.

Mir stockte der Atem. Vielleicht war ich das ja.

Ich hatte mich verhalten wie er. Ich hatte gesündigt wie er … ich hatte getötet, hatte monströse Geschehnisse zugelassen, im Namen eines Gottes, der mich ganz sicher verlassen hatte.

Wir sind genau gleich.

»Rider?«, drängte mich Harmony.

Mein Blick ging starr in die Ecke der Zelle. »Weil es keine Hoffnung gibt. Keinen einzigen Sonnenstrahl in dieser finsteren Nacht der Hölle.«

»Es gibt immer Hoffnung, Rider«, flüsterte Harmony, und es brach mir das Herz. Ich hatte einen Kloß im Hals, und ich spürte Tränen in meinen Augen brennen.

»Gibt es die?«, fragte ich mit brechender Stimme. »In meinen Augen nicht.«

»Doch«, antwortete sie. »In meinen finstersten Zeiten dachte ich auch, es gebe keine Hoffnung. Aber dann fand ich Menschen, die ein Licht in sich trugen, das ich noch nie gesehen hatte. Menschen, die ich einst als Feinde betrachtet hätte. Menschen, die tief in ihrem Innersten gut sind … es führte mich zu dem Glauben, dass irgendwo dort draußen in der Welt der Sünder weiterhin Hoffnung liegt. In einer Welt, die ganz anders ist als die, die wir kennen.«

Ihre wundervolle Stimme war wie Balsam für meine Seele. Ich schloss die Augen, um sie deutlicher zu hören. Wenn sie sprach war mir, als hätte ich einen Freund. Wenn ich mit ihr redete war mir, als sei dies das einzige Mal im Leben, dass ich je die Wahrheit gesprochen hatte.

Ich war ich, wer auch immer der Kerl war.

»Diese Leute«, fragte ich, legte mich wieder auf den Boden und hielt den Mund nahe an den Spalt. Mein Oberkörper lag auf dem Boden. Es war unbequem, aber das war mir egal. Ich wollte nur ihre sanfte Stimme hören. »Haben sie unseren Glauben geteilt?« Harmony sagte nichts. »Ich frage, weil ich … ich denke, ich habe den Glauben an das, was wir hier im Orden glauben, verloren. Ebenso wie an die Menschen, die hier leben.« Ich presste die Augen zu. Es war das erste Mal, dass ich es wagte, diese Gedanken auszusprechen und ihre Wahrheit zu fühlen. Ich, Prophet Cain, hatte begonnen, alles anzuzweifeln, wozu ich je erzogen worden war.

Monate in Einsamkeit sorgten dafür, dass man Tag und Nacht nichts anderes tat als nachzudenken. Nachdenken über jede Kleinigkeit, die man im Leben getan hatte, jede Handlung, jeden Gedanken – ob gut oder schlecht. Es war eine Qual, die von innen heraus brannte. Sich zu fragen, ob richtig oder falsch … sich zu fragen, ob man auf der Seite des Guten stand, wie man glaubte, oder ob man sich blindlings auf die Finsternis einließ.

Wenn es einen Gott gab, hatte ich nicht das Gefühl, dass er jetzt bei mir war. Ich betete, dass es nicht der Teufel war, der meine Seele verdarb, wie Judah erklärt hatte. Ich glaubte immer noch, dass das Böse wirklich existierte. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich dieses Böse war.

»Ja«, antwortete Harmony vorsichtig und brachte mich zurück zu der Frage, die ich gestellt hatte. »Die Menschen, die ich liebe, sind auch von hier. Aber sie billigen die Handlungen nicht, die Menschen verletzen … die kleinen Mädchen wehtun … und Jungen.« Ich erstarrte. Auch kleine Jungen wurden verletzt? »Sie sind gütig«, fuhr Harmony fort. »Sie gaben mir selbstlos Hoffnung, als alles, was ich liebte, für mich verloren und mein Licht durch die Grausamkeit von Männern ausgelöscht war.«

Ich starrte in den winzigen Spalt in der Mauer und wünschte mir mehr als alles andere, ich könnte Harmonys Gesicht sehen. Je mehr sie erzählte, umso mehr wollte ich sie kennenlernen. Seit ihrer Ankunft war ihre Stimme meine Rettung gewesen. Ich wollte ihr in die Augen sehen und darin das Funkeln erkennen. In den letzten Monaten hatte es nur Kälte in meinem Herzen gegeben. Ich fragte mich, ob sie das Eis schmelzen konnte. Ob sie die lauten Schreie des Zweifels in meinem Kopf zum Schweigen bringen konnte.

»Was denkst du gerade?«, fragte Harmony und linderte damit sanft den Schmerz in mir.

Meine Lippen zuckten. Sie hatte mein Schweigen genau als das erkannt, was es war – Sorge. »Ich habe daran gedacht, dass ich dich gern sehen möchte. Ich …« Mein Herz machte einen Satz. »Ich rede gern mit dir, Harmony. Mehr als du je wissen wirst. Mir gefällt, dass du hier neben mir bist.« Ich blickte auf den grauen Stein. »Du bist gekommen, als ich am dringendsten einen Freund brauchte. Jemand, dem ich vertrauen kann, als ich glaubte, es gibt niemanden dort draußen, auf den ich je wieder zählen könnte.«

Harmony holte scharf Luft, antwortete aber: »Rider … ich bin für dich da.«

Das Zucken meiner Lippen wurde zu einem leisen Lächeln. Ich rollte mich ungeschickt auf den Rücken, um den Schmerz in meinen Gelenken zu lindern und einen Augenblick Atempause von der unbequemen Stellung auf dem Boden zu finden. Dabei fiel mir die weiße Strichliste an meiner Wand ins Auge. Mein Blick fiel auf den scharfkantigen Stein, mit dem ich die Striche gemacht hatte. Und da kam mir eine Idee.

Ich streckte die Hand aus und packte den Stein. Seine gezackten Kanten fühlten sich rau in meiner Hand an. »Harmony, ich möchte etwas ausprobieren.«

Ich drückte die schärfste Kante des Steins an den fleckigen Zement, der den Ziegelstein unter unserem Spalt an Ort und Stelle hielt. Mit der unverletzten Hand fing ich an, mit der scharfen Spitze an dem bröckelnden Spalt entlang zu arbeiten. Mein Herz raste, als der Zement zu bröckeln begann. Langsam kam flimmerndes Licht jenseits des Steins zum Vorschein.

Licht aus Harmonys Zelle.

»Mein Tablett mit Essen ist noch hier«, sagte Harmony. »Darauf liegt ein Messer. Es ist stumpf, aber das könnte klappen.« Ich hörte Harmonys Füße auf dem Boden, die weggingen und dann wiederkamen, und gleich darauf Kratzgeräusche auf der anderen Seite des Ziegelsteins.

Ich lächelte und arbeitete noch energischer. Als der Zement über dem Ziegelstein weggekratzt war, sah ich einen Anflug von Blau hinter der Wand. »Harmony«, flüsterte ich, und mir wurde heiß vor Aufregung. Sie erstarrte, und ich sah etwas aufblitzen, das wie blondes Haar aussah. »Arbeite an den Seiten«, wies ich sie an und kratzte mit der Spitze des Steins an dem brüchigen Zement auf der rechten Seite. Harmony arbeitete an der linken, und nach mehreren Minuten drang warme, feuchte Luft ungehindert durch die Spalten.

»Was jetzt?«, flüsterte Harmony eifrig.

»Mach weiter«, bat ich und glitt mit den Händen über den Ziegelstein, um Halt zu finden. Er war nur klein und schmal, aber wenn ich ihn herauslösen konnte … dann würde ich etwas von ihr sehen. Auch wenn es bloß ein wenig war, würde ich sie doch in Fleisch und Blut sehen können.

Gerade, als ich den Stein wegziehen wollte, traf mich urplötzlich Angst. Ich würde sie sehen. Aber sie mich auch. Zumindest einen Teil meines Gesichts.

Sie hatte Judah gesehen …

Ich nahm die Hände vom Stein und schloss die Augen. Enttäuschung überrollte mich. Ich zog mich auf die Füße und wankte zum Sanitärbereich der Zelle. Über dem alten Waschbecken war ein kleiner, von Sprüngen durchzogener Spiegel. Ich legte die Hände an den Waschbeckenrand und schaute auf mein Spiegelbild. Das hatte ich seit Wochen gemieden; ich hatte nicht das Bedürfnis, mir ins Gesicht zu blicken. Genau genommen hatte ich es absichtlich nicht gemacht. Wenn ich mich anschaute, sah ich immer meinen Bruder. Und ich würde auf ewig Judah sehen, der mich finster anstarrte.

Aber jetzt schaute ich hin …

Meine Pupillen weiteten sich vor Schock, als ich sah, in welchem Zustand ich mich befand. Mein Gesicht war blutbespritzt und voll Schmutz und Dreck. Mein Bart war lang und verknotet. Mein Haar war total verfilzt und hing in langen Strähnen herunter. Sogar meine Augen waren blutunterlaufen, und das, was noch weiß daran war, hatte einen Grauton – Beweis für die endlosen Züchtigungen, die ich durchlitten hatte.

Ich erkannte den Mann kaum, der mir da entgegenstarrte.

Und doch konnte ich bloß Erleichterung darin finden. Es bestand nur wenig Ähnlichkeit mit dem Zwilling, der mich weggesperrt hatte. Judah war verschwunden … verdammt, Rider war verschwunden. Harmony würde nicht das Spiegelbild des angeblichen Propheten sehen, sondern einen schmutzigen, geschlagenen Mann. Einen Gefangenen, genau wie sie.

»Rider? Wo bist du?«

Harmonys liebliche Stimme drang in die Zelle, und ich ging langsam zurück zur Wand. Meine Beine prickelten, als das Blut durch meine schwachen Muskeln rauschte. Ich sank zu Boden, schob die Finger in die Spalten um den Ziegelstein und zog ihn heraus. Staub wirbelte in die Luft, als der alte Stein nachgab. Plötzlich blieb er stecken. Ich wollte Harmony sagen, dass sie von ihrer Seite aus schieben sollte, doch dann bewegte sich der Stein, bevor ich es sagen konnte.

Mir ging das Herz auf. Sie hatte es getan, ohne dass ich sie gefragt hatte – sie wollte mich auch sehen. Mit so viel Kraft, wie ich aufbringen konnte, zog ich an dem Stein.

»Es klappt«, sagte Harmony, als der Stein sich bewegte, schmerzhaft langsam, Millimeter um Millimeter. Endlich, nach minutenlanger Arbeit, lag er in meiner Hand.

Ich atmete aus, atemlos vor Anstrengung. Aber meine Müdigkeit war schnell vergessen, als ich den Stein weglegte und in der finstersten Ecke der Zelle versteckte. Ich starrte auf das Loch in der Wand. Mein Herz hämmerte, und mein Puls jagte.

»Rider«, kam es atemlos von Harmony, »es hat geklappt.«

Ich schloss kurz die Augen. Ihre süße, sanfte Stimme klang deutlicher in meinen Ohren, nicht länger gedämpft durch die dicke Wand. Wärme breitete sich in meinen Gliedmaßen aus, als sie fortfuhr: »Lass mich dich sehen. Ich möchte dich ansehen.«

Ich achtete darauf, dass mein Haar noch mehr als sonst mein Gesicht bedeckte, und ließ mich langsam hinab, drückte den Oberkörper auf den Boden und kontrollierte meine Atemzüge, als der Schmerz durch meinen Körper jagte. Als ich lag, bewegte ich den Kopf zu dem Spalt in der Wand und spähte hindurch.

Ich erstarrte am ganzen Körper: Mein Blick traf auf die schönsten dunkelbraunen Augen, die ich je gesehen hatte. Lange schwarze Wimpern flatterten, als ihr Blick meinem begegnete. »Harmony«, flüsterte ich in atemloser Bewunderung.

»Rider«, antwortete sie mit ebenso ehrfürchtiger Stimme. Sie schob den Oberkörper weiter aufwärts, sodass der Rest ihres Gesichts sichtbar wurde. Ich runzelte die Stirn. Ein Schleier bedeckte ihr Gesicht von den Wangenknochen bis über den Hals.

Tiefe Röte überzog die unbedeckte Haut. Harmony hob die Hand und strich über den hellblauen Stoff. »Der Prophet hat befohlen, dass ich ihn immer tragen soll.«

Ich runzelte die Stirn. »Warum?«

»Weil ich die einzige Chance bin, die noch besteht, um die Prophezeiung zu erfüllen. Er will, dass ich rein bleibe vor unserem Hochzeitstag.« Sie berührte wieder den Stoff. »Der Schleier sorgt dafür, dass ich keinen Mann dazu verleite, mich vor unserer Hochzeitsnacht körperlich zu nehmen. Deshalb bin ich auch in der Zelle. Ich soll den anderen offenbart werden, wenn es an der Zeit ist. Keinen Augenblick früher.«

Anspannung packte mich, und Zorn brannte in mir, als ich den Schmerz in Harmonys Stimme hörte. Judah. Das war wieder typisch für ihn. Um mich zu beruhigen, konzentrierte ich mich auf Harmonys Augen. Meine Lippen verzogen sich zu einem unerwarteten Lächeln, als ich blondes Haar aufblitzen sah, das aus ihrer Haube gerutscht war. »Du hast blondes Haar.«

»Ja«, antwortete sie. Ihre Wangen bewegten sich, und ich wusste, dass sie unter dem Schleier lächelte. Zwar konnte ich ihre Lippen nicht sehen, aber sie lächelte mit den Augen. »Und du hast braunes Haar und braune Augen.« Ich geriet in Panik unter ihrem prüfenden Blick und hoffte inständig, dass sie keine Ähnlichkeit zu Judah entdeckte. Doch meine Nerven beruhigten sich, als sie sagte: »Aber mit all dem Blut und Schmutz auf deiner Haut kann ich nicht viel von dir sehen.« Ihre Augen funkelten, und sie sprach im Flüsterton weiter. »Rider … was hat man dir angetan?«

Ihre traurige Stimme schnitt mir ins Herz. »Was ich verdient habe«, antwortete ich heiser. Harmony schüttelte den Kopf, als wolle sie widersprechen, aber ich fiel ihr ins Wort. »Würdest du … würdest du den Schleier für mich abnehmen? Ich will … ich will dich sehen. Ich muss dein Gesicht sehen.«

Harmony erstarrte, und ihre aufgerissenen Augen suchten meine. »Harmony«, sagte ich leise und von Herzen, »ich glaube nicht, dass du verflucht bist.«

»Aber … aber ich wurde zu einer Verfluchten erklärt«, antwortete sie mit bebender Stimme.

»Ich glaube nicht, dass Schönheit ein Werk des Teufels ist«, beteuerte ich und schluckte schwer. »Einst habe ich es geglaubt, Harmony. So lange habe ich es für wahr gehalten, und ich habe nicht an den Lehren gezweifelt … Aber jetzt …« Ich verstummte. Harmony schwieg und wartete darauf, dass ich zu Ende sprach. Ich seufzte. »Aber jetzt denke ich, dass das vielleicht nur eine weitere Lüge war. Ein weiterer Glaube, den ich hingebungsvoll akzeptierte, und nun frage ich mich, ob darin überhaupt irgendeine Wahrheit lag.«

Harmonys Augen über dem Schleier wurden schmal, als versuche sie, in meinem Gesicht zu lesen. Ich erwiderte ihren Blick offen und aufrichtig. Ich hatte so viel in meinem Leben gelogen, so lange anderen etwas vorgemacht, dass ich nicht mehr die Kraft hatte, irgendeine Art von Scharade aufrechtzuerhalten. Nicht bei Harmony. Ich wollte, dass sie mich sah. Und nur mich. Nicht Cain … sondern mich.

Ich hatte es satt. Ich hatte das alles so verdammt satt.

Die Minuten vergingen, und Harmony rührte sich nicht. Ich fürchtete schon, dass sie entschieden hatte, dass ich kein Mensch war, dem man trauen konnte. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, ihr Gesicht zu sehen, als sie die Hand an ihre Wange hob. Ich konnte sehen, dass ihre Finger zitterten, als sie den Schleier löste und den hellblauen Stoff vom Gesicht schob.

Ich hielt den Atem an, als der zarte Stoff verschwand. Hitze erfüllte mich, als Harmony mich anblickte, frei von Barrieren.

Sie war so ziemlich die schönste Frau, die ich je im Leben gesehen hatte.

Ein Prickeln aus Wärme raste mir über den Rücken, als Harmony nervös schluckte. Ihre Apfelbäckchen zeigten ein rosiges Erröten, und ihre dunklen Augen funkelten. Ihre Haut war seidig und hell. Ihre hohen Wangenknochen waren ausgeprägt und ihre Lippen voll und rosig. »Harmony«, seufzte ich. Ich wollte ihr sagen, dass sie schön war, die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Aber ich hielt mich zurück. Als Verfluchte wäre eine Bemerkung von mir über ihre Schönheit das Letzte, was sie hören wollte. »Danke«, sagte ich leise.

Harmony senkte, urplötzlich scheu, den Blick – ein schlichter Akt, der mich dahinschmelzen ließ. Dann drehte sie den Kopf ein wenig, und alles in mir erstarrte. Auf ihrer Wange prangte ein großes rotes Mal, und die Haut darunter war fleckig und geschwollen.

»Was ist passiert?«, fragte ich abrupt mit zusammengebissenen Zähnen.

Harmonys Blick begegnete wieder meinem, und in ihrem Gesicht sah ich einen Anflug von Zorn. »Prophet Cain«, flüsterte sie, legte die Hand auf die Stelle und zuckte dabei zusammen. Ich konnte nichts sagen. Ich war so wütend und aufgebracht, dass mir die Worte im Hals stecken blieben und mein Herz laut wie eine Trommel hämmerte. »Ich … ich wollte ihn daran hindern, mich anzufassen …«, sagte Harmony, und tiefe Röte überzog ihr Gesicht. Sie biss die Zähne zusammen, und vor lauter Zorn traten ihr Tränen in die Augen. »Ich habe ihn am Handgelenk gepackt.« Sie zögerte. »Und ich habe mit aller Kraft festgehalten. In einem Augenblick des Wahnsinns habe ich versucht, den Führer unseres Glaubens davon abzuhalten, sich zu nehmen, was er von mir wollte. Ich leistete ihm Widerstand. Törichten, dummen Widerstand. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«

Ich hatte die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass sie wehtaten. Aber gleichzeitig wallte auch eine Woge aus Hitze in mir auf – Stolz. Ich empfand Stolz, weil Harmony das getan hatte, weil sie versucht hatte, Judahs unwillkommene Berührung abzuwehren. »Gut«, brachte ich mühsam heraus.

Harmony erstarrte und sah mich an. »Gut?«

Ich nickte knapp, so weit es in dieser unbequemen Position auf dem Boden ging. »Er sollte so etwas nicht tun dürfen«, antwortete ich. »Er hat kein Recht dazu.« Ich spürte ein kurzes Aufflackern von Erleichterung, als ich die Worte aussprach. Ich war erleichtert, da ich mit hundertprozentiger Überzeugung wusste, dass ich nie einer Frau meine Berührung aufzwingen würde. Egal, wie viel Macht ich erlangte, das hätte ich nie getan.

Zumindest darin war ich das genaue Gegenteil meines Zwillingsbruders.

Harmony hob die Hand ans Gesicht. Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass sie Tränen wegwischte. Aber ich konnte sehen, dass es keine Tränen der Trauer waren. Es waren heiße Tränen des Zorns und der Frustration. Das Feuer, das ich in ihrem wunderschönen Gesicht hatte sehen wollen, lag offen vor meinen Augen.

»Das sollte nicht erlaubt sein«, sagte sie angespannt. »Er sollte sich nicht jede nehmen dürfen, die er will, wann immer er will … egal wie jung oder gebrochen sie auch sein mag.« Harmony schniefte und suchte meinen Blick. »Warum? Warum kann dies geschehen? All die Kinder in der Göttlichen Teilhabe, die keine Wahl haben. Die Erweckungen, die uns aufgezwungen werden, ohne dass wir dabei mitzureden haben, die Anschuldigungen, eine Verfluchte zu sein, in so jungem Alter, die bis in alle Ewigkeit den Weg unseres Lebens verändern …« Ihre Stimme wurde immer leiser, und sie verstummte. Ich sah zu, wie sie versuchte, ihre Wut niederzukämpfen. Es war ein Kampf, den sie verlor. »Ich weiß, dass die Schrift es so lehrt«, brach es aus ihr heraus. »Ich weiß, dass es eine Praktik ist, die seit Jahren durchgeführt wird. Aber wieso stellen nur so wenige von uns sie infrage? Wie kommt es, dass dem nicht schon lange ein Ende gemacht wurde?«

Während sie um Atem rang, sagte ich: »Harmony, Prophet David hat vor Jahren den Präzedenzfall geschaffen, als er erklärte, der Herr hätte es ihm so offenbart. Die Leute glauben, dass es das ist, was Gott von seinem auserwählten Stamm will – von uns.«

»Ich glaube das nicht«, konstatierte sie mit Überzeugung in der Stimme. »Wenn es eine höhere Macht gibt, würde Gott es nicht gutheißen, dass Männer Kindern Gewalt antun. Dass sie Frauen jede Möglichkeit nehmen, selbst eine Entscheidung zu treffen.« Harmony stieß ein freudloses Lachen aus und starrte zur Seite. »Ich bin ihm begegnet … Ich habe Prophet David kennengelernt, Rider. Vor sehr langer Zeit. Und ich hasste ihn auf den ersten Blick, so wie ich alle Wächterjünger und die meisten Männer hasse, denen ich je begegnet bin. Aber das heute – Prophet Cain ist noch einmal ganz anders. Er ist eiskalt und böse, das konnte ich in seinen Augen sehen.« Sie lachte schroff auf. »Eins muss man ihm allerdings lassen: Er ist ein schöner Mann, die angenehmste äußere Erscheinung, die ich je gesehen habe.«

Ich stieß den Atem aus und merkte erst da, dass ich ihn angehalten hatte. Denn wenn sie Judah für schön hielt … würde sie dasselbe von mir denken.

Doch diese eitle Erregung verschwand, als sie fortfuhr: »Trotzdem: Er hat eine hässliche Seele. Ich verabscheute Prophet David für das, was er mit kleinen Mädchen geschehen ließ … mit mir …« Sie sprach nicht zu Ende. Sie nahm sich zusammen und fuhr dann wütend fort: »Aber als ich Prophet Cain in die Augen sah, empfand ich echte Angst, Rider. Dieser Mann …« Sie wurde blass. Als sie mich anschaute, fühlte ich ihre Beklemmung. »Er wird bekommen, was er will, egal was es kostet. Er wird unserem Volk Leid zufügen, und sie werden ihm blindlings folgen … er wird auch mir wehtun. Und dieses Mal bin ich nicht sicher, ob ich davon zurückkehre. Ich habe Männer wie ihn kennengelernt. Die hörten nie auf. Wenn sie etwas wollten … jemanden … sie hörten nie auf, bis sie sie so weit gebrochen hatten, dass sie sich total wertlos fühlten, oder Schlimmeres …«

»Harmony.« Ich schob mich an die Seite, so nah an die Wand, wie es ging. Ich wollte sie in den Armen halten. Ich wollte dafür sorgen, dass sie sich besser fühlte. Etwas in mir wollte alles für sie besser machen.

»Er hat eine Gefährtin. Sie heißt Sarai.« Harmony atmete tief durch. »In ihrem Blick liegt dieselbe Bosheit wie beim Propheten.« Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. Sie ließ sie auf den Steinboden tropfen und sah mir dann in die Augen. »Ich kenne meine Pflicht. Ich kam hierher mit dem Wissen, welcher Weg vor mir liegt. Aber … nach heute muss ich mich einfach fragen, wie mein Leben als seine Ehefrau aussehen wird. Sarai besitzt seine Liebe, das ist für alle deutlich zu sehen. Und ich konnte ihren Hass auf mich in ihren Augen sehen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich das kann, Rider. In diesem Moment weiß ich nicht, ob ich ein Leben unter der Grausamkeit der beiden durchhalten kann. So habe ich schon einmal gelebt. Ich kann nicht … ich bin nicht sicher, ob ich stark genug bin, um das noch einmal zu ertragen …« Am Ende hatte sie nur noch im Flüsterton gesprochen.

Sie so niedergeschlagen zu sehen, ging mir sehr nahe. »Hör mir gut zu«, sagte ich entschlossen. »Du bist stark. Du musst dir diese Stärke bewahren.«

Harmony lächelte mich schwach an. »Ich bin nicht so stark, wie ich wirke. Innerlich zittere ich. Ich bin wie gelähmt vor Angst.« Diese Worte brachen mir das Herz. Aber bevor ich versuchen konnte, sie zu trösten, sprach sie weiter. »Prophet Cain ist in jeder Hinsicht anders als Prophet David. Etwas in mir sagt mir, dass er unser Volk nicht zu ruhmreicher Größe erheben, sondern ins Verderben stürzen wird. Seine Predigten, die Waffen … er wird uns persönlich direkt vor die Tore der Hölle führen, auch ohne Hilfe dieser Männer des Teufels, von denen er immer redet.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und mehr noch, ich ertrug es nicht, ihren Schmerz zu hören. Ohne nachzudenken, hob ich meine schmutzige Hand und schob sie durch den Spalt. Ich streckte sie so weit aus, wie ich konnte, und legte sie flach auf den Boden. Mein Blick suchte den von Harmony. Sie war wie zur Salzsäule erstarrt und beäugte meine Hand.

Ich kam mir dumm vor und wollte die Hand wieder wegziehen. Ich schloss die Augen, um der Peinlichkeit zu entfliehen. Doch da fühlte ich eine warme Hand, die sich auf meine legte. Ich riss die Augen auf. Harmonys zarte Finger lagen auf meinen. Ich konnte den Blick nicht abwenden.

Sie berührte mich aus freien Stücken.

Sie berührte mich ohne Angst oder Widerwillen … es fühlte sich … gut an.

»Rider«, sagte Harmony leise, »in deinen Augen sehe ich so viel Qual, dass ich sie bis in meine Seele fühle.«

Die Traurigkeit in ihrer Stimme brach mir das Herz, und ihr Mitgefühl schnürte mir die Kehle zu. So fühlt es sich also an, dachte ich. So war Zuneigung – ungehemmt, ungezwungen … natürlich. Kein Zwang. Keine Panik. Einfach freiwillig gegeben.

Harmonys Finger zuckten. Sie schluckte schwer und streichelte dann meinen Handrücken. Das linderte ein Feuer, dessen Lodern in meinem Herzen ich bis dahin gar nicht erkannt hatte. Schweigend strich sie mit den Fingerspitzen über meine rissige Haut. Ich wollte Luft holen, aber ihre Berührung raubte mir den Atem.

»Sag es mir«, flüsterte Harmony. Ich schloss die Augen, als ich ihre sanfte Stimme hörte. »Sag mir, was los ist. Was plagt dich?«

Mein Geständnis lag mir auf der Zunge. Doch als ich den Mund aufmachte, schüttete ich ihr mein Herz aus. »Ich bin einsam«, sagte ich gebrochen. »Ich bin so verdammt einsam, dass ich kaum atmen kann.«

Ich öffnete die Augen und sah Tränen in Harmonys dunkelbraunen Augen schimmern. »Rider«, hauchte sie. Ihre Finger hörten auf, meine Haut zu streicheln. Stattdessen schob sie die Hand unter meine und verschränkte ihre Finger mit meinen. Sie hielt mich fest. Sie sagte kein Wort, aber ich verstand … sie war für mich da.

Sie stand mir in meinem Schmerz bei.

Ich starrte in ihre Augen und sie in meine. Sie sagte nichts, doch das war auch nicht notwendig. Im Moment waren Worte nutzlos. Unsere stille Berührung schenkte mir mehr Frieden, als ich in meinem ganzen Leben je empfunden hatte.

Eine einzige süße Berührung nahm mir den Schmerz … nur für einen kostbaren Moment.

Plötzlich hörte ich, wie jemand an der Tür nach Luft schnappte. Wie der Blitz ließ ich Harmonys Hand los und setzte mich hastig aufrecht. Dann drehte ich den Kopf, um zu sehen, wer in meine Zelle gekommen war, und mein Blick begegnete dem von Phebe. Sie blieb wie angewurzelt stehen, mit weit aufgerissenen Augen, und starrte auf die Lücke in der Ziegelwand. Die Wasserschale in ihren Händen bebte.

»Phebe«, flüsterte ich und rutschte von der Wand weg.

Das Blut wich aus ihrem Gesicht, aber sie schaffte es, sich zusammenzureißen und die Zellentür zu schließen. Langsam und mit gesenktem Blick kam sie zu mir. Sie stellte die Schale auf den Boden, den Kopf immer noch gesenkt. Dann tauchte sie das Tuch ins Wasser, nahm meinen Arm und fing an, das Blut von meiner Haut zu waschen. Dabei hob sie nicht ein Mal den Kopf.

Mein Herz raste. Sie hatte gesehen, wie ich Harmonys Hand gehalten hatte.

Ich konnte nicht zulassen, dass Phebe es Judah erzählte. Oder den Wachen. Ich würde nicht zulassen, dass sie Harmony aus der Zelle neben mir entfernten. Ich wollte sie hier haben … ich brauchte sie hier.

Als Phebe mir den anderen Arm waschen wollte, drehte ich die Hand um und griff sie vorsichtig am Handgelenk. Die Berührung war sachte, aber sie fuhr zusammen, als hätte ich sie gerade ins Gesicht geschlagen. Ich runzelte die Stirn, als sie sich losmachen wollte.

Ich hielt weiter fest.

»Phebe«, sagte ich leise und schaute zur Tür. Langsam geriet sie in Panik. Ich wollte nicht, dass die Wachen sie hörten. »Phebe«, versuchte ich es wieder. »Bitte … ich werde dir nicht wehtun.«

Auf meine Worte hin schien sie zurückzukehren aus dem Albtraum, in den sie in Gedanken abgeglitten war. Ihr Kopf war immer noch abgewandt, während sie ihre Atmung zu beherrschen versuchte. Ich zog vorsichtig an ihrem Handgelenk. Sie versteifte sich. Verwirrung und Sorge legten sich wie Nebel um meinen Verstand. Phebe war nicht sie selbst. Ganz und gar nicht. Sie war in sich gekehrt und zuckte bei jeder Berührung von mir zusammen.

Ich fragte mich, was Judah ihr über mich erzählt hatte, dass sie so reagierte. Entschlossen, es herauszufinden, beugte ich mich vor und legte die Finger der anderen Hand unter ihr Kinn. Phebe stockte der Atem. Sie wirkte total verschreckt. So sanft ich konnte drehte ich ihr Gesicht zu mir. Zuerst wollte sie sich wehren, doch am Ende gab sie nach.

Genau wie jede andere Frau in der Gemeinde es ganz natürlich tun würde.

Schockiert riss ich die Augen auf. Ihr Gesicht zeigte Spuren schwerer Schläge, Blutergüsse zogen sich über ihre bleiche Haut. Verblassende gelbe Stellen bildeten den Hintergrund für frischere Schnitte und Wunden. Phebe hielt den Blick zu Boden gerichtet.

»Phebe, sieh mich an«, befahl ich. Sie ließ besiegt die Schultern hängen und sah mir ins Gesicht. Tränen liefen über ihre geschundene Haut. »Wer hat dir das angetan?«

Phebe senkte erneut den Blick, aber ich hob ihr Kinn noch höher. »Sag es mir«, beharrte ich. Phebe schloss die Augen, und ihre Unterlippe zitterte. Als sie die Augen wieder öffnete, starrte sie mich direkt an.

»Prophet Cain«, sagte sie leise, und mir drehte sich der Magen um. Ich machte den Mund auf und wollte sie bitten, zu bestätigen, dass mein Bruder ihr das angetan hatte – als mir klar wurde, dass in ihrer Stimme ein seltsamer Unterton lag. Sie antwortete nicht auf meine Frage … sie richtete das Wort an mich. Sie ließ mich wissen, dass sie wusste, wer ich war. Sie wusste, was Judah getan hatte …

… sie wusste es.

Ich nickte, denn ich wollte nichts sagen, falls Harmony zuhörte.

Ein leises Lächeln spielte um Phebes aufgeplatzte Lippen. Sie schien erleichtert zu sein. Dann zeigte sie auf meine Tattoos, die unter dem Blut und Schmutz verborgen lagen. »Die hier haben es mir bestätigt, aber ich wusste schon vorher, was er getan hatte, denn du bist ganz anders.« Ich warf einen Blick hinter mich auf den Spalt in der Wand. Dann drehte ich mich wieder zu Phebe und legte den Finger auf meine Lippen. Sie nickte verstehend.

»Wer hat dir das angetan?«, fragte ich erneut.

Phebe hob das abgelegte Tuch wieder auf und tauchte es ins Wasser. Während sie mich säuberte, flüsterte sie: »Der Prophet hat mich schon vor Wochen von meiner Aufgabe als Geheiligte Schwester abgezogen. Tatsächlich hat er alle Frauen zurückgeholt, die in der Außenwelt neue Anhänger rekrutierten. Er hat uns alle unter Arrest gestellt. Jetzt üben wir uns wie alle anderen im Gebrauch von Waffen. Wir sind auf die Entrückung fixiert.« Sie spülte das Tuch aus und führte es an meinen Oberkörper. »Zumindest alle in der Gemeinde … außer mir.«

Der Schmerz in Phebes Stimme war offensichtlich. »Du bist gar nicht mehr seine Gefährtin?«

Phebe schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. »Sarai wollte mich nicht dort haben. Der Prophet tut alles, worum sie ihn bittet.« Ihre Hand auf meiner Haut hielt inne. Hastig nahm sie sich zusammen und fuhr fort: »Also hat er mich von seiner Seite verstoßen.« Sie holte tief Luft. »Ich war ohnehin nicht mehr als eine frivole Spielerei für ihn. Ich war gut in Verführung und Sex. Das ist alles, was ich je für die Gemeinde getan habe. Ich bin meinem Daseinszweck entwachsen.«

Eine Träne tropfte aus Phebes Auge auf meine Haut. »Ein Mann aus der Außenwelt tauchte irgendwann an der Seite des Propheten auf. Ich weiß nicht, woher er kommt, aber er ist immer in der Nähe des Propheten, gemeinsam mit Bruder Luke, der rechten Hand von Prophet Cain. Der neue Mann hat keine Haare und ist sehr kräftig gebaut. Ich hörte Geflüster, als er ankam, dass er die Waffen liefert, die im kommenden Heiligen Krieg gebraucht werden.« Phebe ließ das Tuch los und zeigte auf meine Tattoos. Ich verstand, was sie sagen wollte. Der Mann hatte Tattoos. »Aber sie sind anders.« Als deine, ergänzte ich lautlos für sie.

»Er … er zeigte Interesse an mir während einer Göttlichen Teilhabe, an der ich teilnehmen musste.« Phebe wurde blass. »Seitdem erhebt er Anspruch auf mich. Er …« Mehr Tränen flossen, und sie rang um Atem. Ich streckte die Hand aus und nahm ihren Arm. Wieder zuckte sie zusammen, obwohl sie wusste, dass ich keine Gefahr war. »Er erwartet von mir, dass ich gewisse Dinge mit ihm tue, die ich nicht will. Aber der Prophet hat mir befohlen, bei ihm zu bleiben. Er sagte, der Mann sei wichtig, entscheidend für den kommenden Heiligen Krieg. Ich kenne seinen Namen nicht. Er zwingt mich, ihn Meister zu nennen.« Phebe beugte sich vor und flüsterte: »Prophet Cain plant einen Angriff auf die Männer des Teufels.« Ihre blauen Augen beschworen mich, zu verstehen. »Er will sie angreifen, bevor sie auf uns losgehen. Deshalb trainieren unsere Leute so hart. Wir wollen den Zorn Gottes an ihre Tore tragen. Prophet Cain hat eine Offenbarung erhalten, dass wir zuschlagen sollen, sobald der Befehl von Gott dazu kommt. Wir müssen bereit sein.«

Ich brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, was sie meinte. Ein kaltes Prickeln lief mir über den Rücken, als ich ihre Worte zu entschlüsseln versuchte. Als ich endlich begriff, wurde das Prickeln zu einem gottverdammten Schauer. »Die Hangmen«, flüsterte ich. Phebe nickte.

Ihre Hand zitterte. »Er sagte, dass sie sterben müssen. Sie alle – Männer und Frauen. Keine Gnade. Er predigt, dass sie alle Sünder und vom Glauben abgefallen sind. Er behauptet, die Offenbarung, die er erhielt, würde befehlen, dass wir keinen Sünder am Leben lassen dürfen.«

»Er will Rache.« Ich seufzte frustriert. Er wollte Rache dafür, dass sie uns die Verfluchten genommen hatten. Für ihren Angriff auf unsere alte Gemeinde. Für die Tötung unseres Onkels … dafür, dass sie überhaupt atmeten. Ich ging wieder durch, was Phebe gesagt hatte … Er sagte, dass sie sterben müssen. Sie alle – Männer und Frauen. Keine Gnade. Er predigt, dass sie alle Sünder und vom Glauben abgefallen sind …

Männer und Frauen …

Er wollte auch Mae, Delilah und Magdalene töten …

»Meine Schwester«, sagte Phebe fast unhörbar, und Tränen traten ihr in die Augen. »Er wird sie umbringen, weil sie unseren Orden verlassen hat. Weil sie sich mit dem Bösen verbrüdert hat. Für die Männer, die er verloren hat, als die Männer des Teufels kamen, um sie zurückzuholen.«

Das Blut rauschte so schnell in meinen Adern, dass mir ganz schwindlig davon wurde. Ich wollte einen Weg finden, um das aufzuhalten, zu helfen, aber ich konnte nicht. Ich saß hier fest. Ich saß immer in dieser gottverfluchten Zelle fest!

Phebe schien in meinem Gesicht zu lesen. »Es ist hoffnungslos, nicht wahr? Man kann ihn nicht aufhalten.« Ihr stockte der Atem. »Meine Rebekah wird sterben …«

»Du solltest fliehen«, sagte ich so leise, dass Harmony es nicht hören würde.

Phebe schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«, fragte ich. »Sieh zu, dass du irgendwie hier rauskommst. Rette dich.«

Sie zögerte. »Ich … ich muss jemanden beschützen. Und der Mann, der mich bei sich hat, Meister.« Sie schüttelte den Kopf. »Er wird mich nie gehen lassen. Ich kann es fühlen. Er … er ist besessen von mir.« Sie weinte bitterlich. »Er macht mir solche Angst. Für mich ist es vorbei.« Phebe beendete ihre Säuberung meines Körpers. »Ich fürchte, für uns alle ist es vorbei. Alles hat sich verändert, seit dieser Prophet aufgestiegen ist. Wir können nie wieder zurück …«

Schuldgefühle drehten mir den Magen um. Phebe nahm ihre Sachen und stand auf. Doch als sie gehen wollte, drehte sie sich noch einmal um und flüsterte: »Früher dachte ich, du wärst genau wie er. Aber jetzt …« Ihre Schultern sanken herab. »Aber jetzt erkenne ich, dass du nicht so bist. Ihr seid verschieden in Herz und Seele – einer rein, einer finster. Es ist nur eine Schande, dass die Finsternis in dieser Welt immer zu siegen scheint.«

Phebe ging, und die Tür schlug hinter ihr zu. Ich blieb reglos auf der Stelle sitzen, wie betäubt von ihren Worten. Aber der Zorn in meinem Blut brodelte immer stärker. In letzter Zeit war das das einzige Gefühl, das ich zu empfinden schien. Reine Wut auf meinen Zwilling und auf alles, was er tat.

Ich ging wieder zur Wand. Dort legte ich mich auf den Bauch und schob mich dorthin, wo ich Harmony wieder sehen würde. Als unsere Blicke sich trafen, schob sie die Hand durch den Spalt. Meine Finger legten sich um ihre. Ich schloss die Augen und ließ ihre tröstende Berührung die Wut in mir beruhigen, nur einen Moment lang.

Wir lagen schweigend da, doch meine Gedanken überschlugen sich. Was konnte ich tun? Wie konnte ich es aufhalten? Ich zerbrach mir immer noch den Kopf, als Harmony fragte: »Rider?«

»Ja?«, antwortete ich und öffnete die Augen.

Sie drückte meine Hand fester. »Vielleicht macht mich das auf ewig zu einer Sünderin, aber ein Gedanke lässt mich einfach nicht los. Ich bete immer wieder um etwas, das unzivilisiert und grausam ist … aber ich kann nicht damit aufhören.«

»Und was ist das?«, fragte ich heiser.

Harmony holte tief Luft. »Ich bete um den Tod.« Meine Muskeln spannten sich an. Sie wünschte sich den Tod? »Des Propheten«, fuhr sie hastig fort, und ich erstarrte. »Ich bete darum, dass Prophet Cain stirbt. Ich bete um unsere Befreiung von Schmerz und Qual, die er uns aufzwingt. Und ich denke, das kann bloß geschehen, wenn unser Führer aus dem Leben scheidet. Wenn sein grausames Herz zu schlagen aufhört.«

Ich antwortete nicht darauf. Ich sagte nichts, weil ich einen noch größeren Kampf in mir austrug. Mit einer noch größeren persönlichen Sünde.

Denn ich hatte angefangen, um dasselbe zu beten.

Ich betete darum, dass Judah ermordet wurde.

Ich hatte angefangen, darum zu beten, dass mein eigener Bruder sterben sollte …

… und wenn diese Gedanken nur aus dem Herzen eines Sünders kommen konnten – dann war ich eben ein Sünder.