8

Harmony

Ich lief unruhig in der Zelle hin und her, während der Tag zur Nacht wurde. Die Tür zu meiner Zelle ging auf, und Bruder Stephen und Schwester Ruth schlichen herein. »Ist er zurück?«, fragte ich eilig.

»Nein«, antwortete Schwester Ruth, und ich fühlte, wie mein Herz sich mit Grauen füllte.

»Was machen sie mit ihm?«, fragte ich. Rider war tagelang still gewesen. Ich vermisste den Mann, der in den ersten Tagen in meiner Zelle so freundlich mit mir gesprochen hatte. Ich drückte die Hand aufs Herz und schloss die Augen. Der Mann, der meine Hand gehalten hatte, war liebevoll und anständig gewesen, aber über die letzten paar Tage war er immer distanzierter geworden. Etwas quälte ihn innerlich. Doch er verriet mir nicht, was es war. Er gab überhaupt nicht viel von sich preis.

Nicht dass ich ihm meinerseits mein Herz ausschüttete. Die Geheimnisse, die immer schwerer zu ertragen wurden.

Und nun war er nicht von der Bestrafung zurückgekehrt. Ich spürte eine neue Woge aus Grauen in meinen Eingeweiden. Etwas war nicht in Ordnung. Ich spürte es einfach.

Leise Stimmen waren außerhalb meiner Zelle zu hören. Alarmiert sah ich Bruder Stephen und Schwester Ruth an. Sie schlüpften aus der Zelle, und ich hastete in die Ecke, in der ich normalerweise saß. Eindringlich lauschte ich auf die Geräusche der Wärter des Propheten im Flur. Ich betete, dass Rider bei ihnen war. Aufmerksam lauschte ich auf jede Bewegung, hörte, wie Riders Zellentür aufging, dann einen dumpfen Schlag, als ob jemand zu Boden geworfen wurde.

Mir drehte sich vor Übelkeit der Magen um. Rider.

Ungeduldig wartete ich darauf, dass die Wärter seine Zelle verließen. Als ich sicher war, dass sie weg waren, schob ich den losen Stein aus der Wand. Riders Zelle war dunkel, aber ich sah ihn in der Mitte auf dem Boden liegen. Ich war zu weit weg, um zu erkennen, ob es ihm gut ging. Ich geriet in Panik, denn ich konnte kaum eine Bewegung von ihm sehen. Ich hörte ihn nicht einmal atmen.

»Rider«, flüsterte ich laut und hoffte, er würde mich hören. Doch er rührte sich nicht. »Rider!«, rief ich lauter, aber von ihm kam nicht einmal ein Zucken, dass er mich hörte. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mehr zu erkennen, was mir allerdings nicht gelang.

Eine gefühlte Ewigkeit lang versuchte ich ihn zu wecken. Als Rider sich immer noch nicht rührte, sprang ich auf und fing an, an meine Tür zu hämmern. Jede Sorge in mir, dass man mich bestrafen würde, war verschwunden. »Bruder Stephen! Schwester Ruth!«

Sie eilten zu meiner Tür und öffneten sie. »Harmony, sei still«, flehte Bruder Stephen und blickte nervös aus meinem Zellenfenster.

»Es geht um Rider«, sagte ich leise. »Er rührt sich nicht. Ich denke, er ist ernsthaft verletzt.«

Bruder Stephen warf Schwester Ruth einen Blick zu, und mein Grauen wuchs. »Es stimmt, oder? Sie haben ihn schwer verletzt.«

Schwester Ruth streckte die Hand aus und berührte meinen Arm. »Er ist nicht bei Bewusstsein. Er ist nicht wach. Er …« Sie zuckte zusammen. »Ich bin nicht sicher, ob er aus diesem Zustand wieder aufwacht. Er wurde brutal geschlagen, Harmony. Vielleicht sogar zu schlimm. Ich kann es nicht sagen.«

»Ich muss ihn sehen«, sagte ich entschlossen. »Helft mir, dort hineinzukommen, um ihn zu sehen.«

»Harmony …« Bruder Stephen schüttelte den Kopf.

»Nein«, fiel ich ihm ins Wort. »Er war für mich da. Ich … er ist mir wichtig, sehr sogar. Ich will nicht erleben, dass noch jemand verletzt wird. Ich kann nicht …«, gestand ich, unfähig, zu Ende zu sprechen. Mitgefühl trat in Schwester Ruths Blick, und sie ließ die Schultern hängen.

»Solomon und Samson sind gerade weggerufen worden. Der Prophet hat ein Notfalltreffen einberufen.« Hoffnung füllte mein Herz. Vielleicht konnte ich zu Rider gelangen, ohne dabei erwischt zu werden. »Aber ich weiß nicht, wie lange sie fortbleiben oder ob sie allein zurückkommen.« Ich hörte die Warnung in ihrer Stimme.

Aber es war mir egal. Und sie musste es mir angesehen haben.

Sie ging hinaus. Sekunden später war sie zurück, einen Messingschlüssel in der Hand. »Komm«, sagte sie hastig. Ich hob mein Kleid an und folgte ihr in den stillen Flur zur Zelle nebenan.

Schwester Ruth öffnete die Tür und schnappte nach Luft. Ich eilte an ihr vorbei, als ich Rider auf dem Boden liegen sah, geschlagen und verletzt, am ganzen Körper voller Blut. Tränen traten mir in die Augen, aber ich verdrängte sie und wandte mich an meine Hüter. »Holt mir ein paar Eimer sauberes Wasser und Tücher. Und wir brauchen Seife.«

»Harmony«, fing Bruder Stephen besorgt an, aber ich hob die Hand.

»Mir ist egal, ob ich dafür bestraft werde. Was spielt es auch für eine Rolle? Der Prophet braucht mich lebendig, und ich werde Rider so nicht liegen lassen.« Ich ging zu seinem malträtierten Körper. »Ich bin sicher, er würde mich nicht in diesem Zustand so liegen lassen, wenn ich an seiner Stelle wäre. Und ihr wisst ganz genau, dass es stimmt – das weiß ich. Ihr habt zugehört, wenn wir uns unterhalten haben. Ihr habt gehört, wie freundlich sein Wesen ist.«

Bruder Stephen und Schwester Ruth tauschten einen besorgten Blick aus und eilten dann davon, um mir das zu holen, worum ich sie gebeten hatte. Ich ließ mich neben Rider auf den Boden sinken. Meine Hände zitterten vor Nervosität. Ich hatte nie gedacht, dass ich ihn je persönlich von Angesicht zu Angesicht sehen würde. Mein Blick glitt über ihn. Er war groß: hochgewachsen und extrem breit gebaut. Wesentlich größer als ich. Ich wusste nicht wieso, aber mir gefiel, dass er größer war als ich. Er sah aus wie ein gefallener Krieger – stark und tapfer.

Ich beugte mich vor und schob ihm vorsichtig das verfilzte, schmutzige Haar aus dem Gesicht. Alles, was ich sah, waren blutverschmierte Haut und Blutergüsse. »Rider«, flüsterte ich und streichelte über seine Wange, »es tut mir leid, dass man dir das angetan hat.«

Er rührte sich nicht. Ich war sicher, dass er mich nicht einmal gehört hatte.

Bruder Stephen und Schwester Ruth eilten herein. Sie legten die Tücher, Handtücher und die Seife, um die ich gebeten hatte, neben mir auf den Boden. Schwester Ruth hatte auch Kamm und Schere mitgebracht.

»Großer Gott«, sagte Schwester Ruth, als sie Riders Verletzungen betrachtete. »Was haben sie mit ihm gemacht? Er sieht schrecklich aus.«

Ich wollte nicht antworten, denn ich fürchtete, dann zu zerbrechen. Schnell hatte ich ihm Arme und Oberkörper gesäubert. Seine Beine waren bedeckt mit etwas, das wie eine schmutzige Tunikahose aussah – ich vermutete, dass sie einmal weiß gewesen war, doch jetzt war sie alles andere als das. Aber die würde ich nicht anfassen. Ich würde ihn nie derart entehren.

Als ich seine Arme säuberte, runzelte ich die Stirn, als ich die farbigen Bilder sah, die unter dem getrockneten Blut zum Vorschein kamen. Mein Herz machte einen Satz, als ich näher hinschaute. Bilder von Teufeln und Geschöpfen des Bösen waren überall auf seiner Haut.

»Wie ist er denn zu denen gekommen?«, fragte Bruder Stephen. Ich schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf Riders Gesicht, aber das war wieder verdeckt von seinem ungewaschenen Haar.

Ich war so beschäftigt damit, Rider zu waschen, dass ich nicht hörte, wie jemand an seine Tür kam. Doch da hörte ich einen gepeinigten Aufschrei und drehte mich um: Eine Frau stand in der Tür, eine Schale mit Wasser in den Händen. Sie starrte auf Rider auf dem Boden und wurde blass bei dem Anblick. Dann sah sie mich an, und ihr Blick wurde noch erstaunter.

Mein Herz hämmerte. Ich sprang auf und sagte: »Ich werde in der Zelle nebenan gefangen gehalten. Ich habe gesehen, dass er verletzt ist, und bin gekommen, um ihm zu helfen.« Ich zeigte auf Bruder Stephen und Schwester Ruth. »Ich habe mich an ihnen vorbeigedrängt, um hier hereinzulaufen, als ich sah, dass die Wärter das Gebäude verlassen hatten. Die Schuld liegt ganz bei mir.«

Die Frau hörte zu, antwortete aber nicht. Sie warf einen Blick über die Schulter und kam dann herein. »Wer bist du?«, fragte sie neugierig.

»Mein Name ist Harmony.«

Die Frau schluckte. »Bist du … bist du eine Verfluchte Tochter der Eva?«

Ich richtete mich kerzengerade auf und sagte: »Ja. Ich wurde zu einer erklärt.«

»Der Prophet hält dich vor uns verborgen?«

»Ja«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich war ertappt. Es gab keinen Grund mehr zu lügen.

Ich rechnete damit, dass die Frau aus dem Zellenblock rennen und die Wärter holen würde. Ich hatte nicht erwartet, dass sie näher kommen und die Schale auf den Boden stellen würde. Ihr Blick fiel auf Rider, und sie schüttelte den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen. Auch auf ihrer Haut fielen mir Blutergüsse auf, und ein plötzlicher Stich aus Wut jagte durch mein Herz. Werden denn alle hier geschlagen? Was passiert mit unserem Volk?

Die Frau ging neben Rider in die Hocke. »Dieser Mann hat den Propheten angegriffen.« Kälte durchdrang meine Sinne, und ich riss geschockt die Augen auf. »Er wurde zu einem Treffen mit Prophet Cain gerufen, um seine Sünden zu bereuen. Stattdessen hat er ihn angegriffen.«

»Was?«, flüsterte ich fassungslos.

Die Frau nickte. »Ich hörte die Wachen damit prahlen, wie sie ihn verprügelt haben. Der Prophet hat ihnen befohlen, ihn für all seine Taten bezahlen zu lassen.« Sie seufzte. »Dieser Mann hat nur versucht, sein Volk zu schützen, das weiß ich genau. Er hat versucht, uns Sicherheit zu bringen … und der Prophet hat ihm das angetan.«

Die Stimme der Frau zitterte. Ich bückte mich und legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie hob den Blick zu mir und starrte auf meinen Schleier. Zuversichtlich, dass ich ihr mein Gesicht zeigen konnte, hob ich die Hand und öffnete den Schleier. Auch die Haube nahm ich ab und ließ mein langes blondes Haar über den Rücken fallen.

Die Frau wandte den Blick nicht ab. Ihre Unterlippe bebte, und sie sagte leise: »Du bist wahrlich eine Verfluchte. Du bist wunderschön.«

Ich runzelte die Stirn. »Du hast keine Angst vor mir? Bist nicht angewidert von meiner bösartigen Natur?« Die Anhänger unseres Glaubens waren angehalten, mich zu fürchten. Keine Verfluchte wurde je mit offenen Armen empfangen.

»Nein«, sagte die Frau und wandte sich wieder Rider zu. »Ich fürchte dich nicht. Ich weiß, dass Verfluchte in Wahrheit überhaupt nicht verflucht sind.« Ich konnte den Schmerz in ihrer Stimme hören und blickte der Frau forschend ins Gesicht. Die Frage, ob sie je einer anderen Verfluchten begegnet war, lag mir auf der Zunge, aber ich hielt mich zurück. Ich wagte nicht, ihre Duldung noch weiter zu strapazieren.

»Er ist dir wichtig?«, fragte die Frau.

Mein Herz schien einen Schlag lang auszusetzen. Ich senkte den Kopf und sagte: »Ja.«

Die Frau nickte, und ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Er ist ein guter Mann«, sagte sie, und dann schwand ihr Lächeln. Sie blickte mir direkt in die Augen. »Er ist gut, daran musst du immer denken. Egal was passiert. Er ist kein schlechter Mensch. Er ist wie wir, geschlagen und verunsichert über die Art, wie wir aufwuchsen … aber er ist gut. Egal was du hörst.« Sie gab ein freudloses Lachen von sich. »Ich bin auf das Gegenstück getroffen, den Bösen, und ich kenne ganz klar den Unterschied.«

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Aber dann sprang die Frau auf, als aus den Lautsprechern draußen plötzlich Musik drang – der Ruf zur Göttlichen Teilhabe. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Ich werde in der Halle der Teilhabe gebraucht. Du musst schnell machen. Vielleicht sind die Wärter lange bei ihrem Treffen, aber du willst sicher nicht erwischt werden.« Ihr Blick fiel auf die Schere. »Du willst ihm die Haare schneiden?«

»Er braucht mehr Pflege, als er bisher erhalten hat. Er kann kaum atmen oder durch das Haar und den Bart hindurch sehen. Die Hitze ist zu viel für ihn.«

Sie senkte den Blick. »Ich werde ihnen sagen, dass ich es geschnitten habe. Ich werde behaupten, dass es wegen der Züchtigung heute notwendig war, ihm das Haar zu schneiden, damit ich seine Wunden versorgen konnte.«

»Warum?«, fragte ich. »Warum willst du das für mich tun … für ihn?«

Die Frau zuckte mit den Schultern. »Weil er, trotz allem, diese Hilfe verdient hat. Man hat ihn schon zu lange in diesem schrecklichen Zustand gelassen, weil er das Richtige tun wollte.« Sie lächelte schwach. »Außerdem könnte man mir ohnehin nicht viel mehr antun. Eine Bestrafung mehr dürfte nicht so schwer für mich zu ertragen sein.«

Es brach mir das Herz.

»Danke«, sagte ich, als sie gehen wollte.

Sie blieb kurz stehen. Dann warf sie einen Blick über die Schulter und sagte: »Vergiss nicht, er ist nicht böse.«

Ich öffnete den Mund und wollte, dass sie mir erklärte, was sie meinte, aber sie war schon weg. Ich beeilte mich, die Aufgabe zu beenden, und wusch alles Blut von Riders Armen, seinem Bauch und seinem Brustkorb. Dann sein Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, und mehr als einmal musste ich das Ohr an seinen Mund halten, um zu prüfen, ob er noch atmete. Er war so still, dass ich mir Sorgen machte, er würde sterben.

Ich musste schnell handeln.

Bruder Stephen und Schwester Ruth standen Wache an der Tür, während ich Rider Haar und Bart zu waschen versuchte. Schließlich kam Schwester Ruth, um seinen Kopf hochzuhalten, als sie sah, dass ich ihn nicht halten und zugleich das Haar waschen konnte. Ich musste es viermal waschen, um die verfilzten und klumpigen Strähnen in handliche Teile zu bringen. Dann nahm ich die Schere, schnitt das Haar einige Zentimeter ab und kämmte es danach durch. Als ich fertig war, half ich Schwester Ruth dabei, seinen Kopf in meinen Schoß zu legen. Ich lächelte, als ich ihn so nah spürte. Mir ging das Herz auf, als ich über seine saubere Wange strich – es freute mich, zu sehen, dass die Blutergüsse und Schwellungen anscheinend hauptsächlich auf seinem Körper waren. Sein Gesicht wirkte größtenteils unverletzt.

Es fühlte sich seltsam an, einen Mann aus eigenem Antrieb zu berühren und ihn so rundherum zu betrachten. Es war meine Entscheidung, das zu tun … und es war … befreiend.

Ich wusste, dass es sich anders anfühlte, weil es Rider war. Ich … ich vertraute ihm. So unmöglich es für mich auch zu begreifen war – es stimmte. Bis zu diesem Augenblick war es mir nicht einmal klar gewesen. Der Mitsünder hatte eine Verbindung zu mir geformt, die ich noch nie gehabt hatte. Zwei Gefangene, die Trost in der Stimme des anderen und der schlichten Berührung einer Hand fanden.

»Hier.« Ich blickte auf und sah, dass Schwester Ruth mir ein Rasiermesser hinhielt. Ich nahm es und führte es an Riders Wangen. Sein Bart war zu hoch ins Gesicht gewachsen und verbarg viel von seiner Haut. Ich nahm die Klinge und zog sie vorsichtig nach unten. Als seine Wangen sichtbar wurden, wuchs die Aufregung in mir. Bald würde ich wissen, wie er wirklich aussah.

Endlich würde ich sein Gesicht sehen.

Während ich Riders Bart schnitt und kämmte, fingen seine Hände zu zucken an. Mein Puls begann zu jagen. Mein Blick huschte zu Schwester Ruth. »Er wacht auf.«

Schwester Ruths Augen leuchteten, als sie zusah, wie er sich langsam rührte. Ich wollte die Aufgabe beenden, die ich begonnen hatte, und fuhr mit dem Kamm schnell durch seinen noch übrigen Bart. Als ich damit fertig war, blickte ich nach unten und gestattete mir, ihn wirklich zu betrachten. Seine Lider gingen flatternd auf und offenbarten wunderschöne braune Augen, deren Pupillen sich mühsam fokussierten.

Riders lange Wimpern streiften über seine Wangen, und sein Blick begegnete meinem. Und eine Welt brach für mich zusammen. Doch nicht aus dem Grund, den ich erst angenommen hätte. Mein Herz zersprang, und meine Atemzüge wurden zu schnell, um Luft zu bekommen.

Voll Angst und Panik kroch ich rückwärts und schubste seinen Kopf von meinem Schoß. Auf Händen und Knien kroch ich weg, bis ich seine Füße erreichte. Schwester Ruth streckte die Hand aus, um mir beim Aufstehen zu helfen – doch dann ließ mich Riders Stimme abrupt innehalten.

»Harmony?« Riders Stimme war heiser und schwach, aber ich hörte den Anflug von Panik darin. Ich holte tief Luft und drehte mich langsam zu ihm um. Als ich sein Gesicht sah, spürte ich, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Was ich sah, war unmissverständlich.

Rider blickte so schuldbewusst drein, dass ich fast weinen musste. Doch ich blieb stark. »Wie … ich verstehe nicht?«

Schwester Ruth ging hinter mir in die Hocke und legte mir aufmunternd die Hand auf die Schulter. Ich warf ihr einen Blick zu und sah, wie verwirrt sie war. Sie hatte keine Ahnung, was los war. Ich schaute wieder Rider an, sah zu, wie er sich mühsam aufzusetzen versuchte. Sein Oberkörper war bedeckt von dunklen Blutergüssen. Der Schmerz in seiner angespannten Miene weckte in mir den Wunsch, hinzugehen und ihm zu helfen, aber ich war wie gelähmt.

Ich konnte mich nicht bewegen.

Rider rang um Atem, während er seine zerschlagenen Glieder bewegte und erst Erleichterung fand, als sein Rücken an der Steinwand lehnte. Genau da sah ich Rider in seiner wahren Gestalt. Er war schön. Doch andererseits hatte ich das auch gedacht, als ich genau dieses Gesicht Tage zuvor gesehen hatte.

»Wie?«, wiederholte ich und zwang mich, Riders finsterem Blick standzuhalten.

»Er … er ist mein … Bruder«, bekannte er, und Schmerz verzerrte sein Gesicht. Dieses Mal war mir klar, dass es kein körperlicher Schmerz war, sondern seelischer. Ich erinnerte mich daran, was die Schwester vorhin gesagt hatte. Der Prophet hat ihnen befohlen, ihn für all seine Taten bezahlen zu lassen … »Er ist … mein Zwilling. Der … Prophet ist mein Zwillingsbruder … und er hat sich von mir losgesagt … Er hat mich … den Wölfen zum Fraß vorgeworfen.«

Schwester Ruth erstarrte hinter mir. Ich hörte, wie ihr der Atem stockte. Ich hob den Blick und sah, dass ihre Augen groß wurden bei Riders Offenbarung. Bevor ich fragen konnte, ob es ihr gut ging, stürmte sie hinaus.

»Wo sind die Wärter?«, fragte er plötzlich, und in seiner heiseren, leisen Stimme lag ein Anflug von Panik. Ich konnte ihn nicht ansehen. Es tat zu sehr weh, ihm ins Gesicht zu blicken.

»Sie sind gerade weg. Der Prophet hat ein Treffen einberufen.«

Als ich mich zwang, Rider wieder anzusehen, ruhte sein Blick immer noch auf mir. »Harmony«, flüsterte er gebrochen. Er hob die Hand und hielt sie mir hin.

Dieses Mal flossen die Tränen wirklich. Denn obwohl ich in genau die Augen und dasselbe Gesicht wie das des Propheten blickte, den ich verabscheute, war Riders zitternde Hand, die sich mir hilflos entgegenstreckte, der niederschmetterndste Moment meines Lebens. Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, die Angst, dass ich ihn vielleicht abwies … der Mann mit dem Gesicht des Mannes, den ich am meisten hasste.

Meine Finger zuckten, als ich auf seine Hand starrte. Ich wollte sie ergreifen, aber als ich wieder in sein Gesicht blickte, fragte ich: »Ich … ich verstehe das nicht. Warum bist du hier?«

Riders Gesicht veränderte sich zu einem Ausdruck totaler Ablehnung und Verzweiflung. Ich sah zu, wie seine Hand auf sein Bein zurückfiel. Niedergeschlagen ließ er die Schultern hängen. Er senkte den Blick und wurde blass. Wenn es je ein Abbild eines am Boden zerstörten Mannes gegeben hatte, dann war es das. Mein Herz blutete, als ich sah, wie alle Hoffnung aus ihm wich.

In den Zellen wurde es still, aber ich konnte Bruder Stephen und Schwester Ruth an der Tür hören. Ich wusste, sie würden lauschen. Sie würden hören wollen, was Rider sagte. »Rider?«, drängte ich. Meine Stimme war nur ein leises Flüstern. Mit pochendem Kopf wartete ich darauf, dass er etwas sagte. Ich musste mich zwingen, an der Zellentür stehen zu bleiben. Doch es war schwer. Rider sah so einsam aus, zusammengesunken auf dem harten Boden, dass ich nichts mehr wollte, als ihn in die Arme zu nehmen. Und das noch mehr, als er aufblickte und, während ihm die Tränen über die Wangen liefen, heiser sagte: »Du bist so wunderschön, Harmony. Ich weiß, es ist nicht das, was du hören willst, aber es ist wahr.« Ich schluckte das kurze Glücksgefühl hinunter, das ich bei diesen Worten empfand. Denn von Riders Lippen bereiteten sie meinem Herzen nicht so viel Schmerz, wie es sonst der Fall war.

Rider seufzte und senkte den Blick auf unseren Spalt in der Wand. »Ich dachte es, immer wenn wir durch diesen Spalt miteinander geredet haben.« Er hob die Hand, schaute auf seine Handfläche und schloss die Finger, als würde er sich vorstellen, dass meine Hand noch in seiner lag.

»Rider«, sagte ich wieder und kam ein ganz klein wenig näher. Sein Schmerz zog mich magnetisch an, und nur ich hatte die Macht, ihn zu trösten.

Aber vorher brauchte ich Antworten.

Rider senkte den Kopf, doch nach einem langen Atemzug sagte er: »Ich bin Cain. Ich bin der vorherbestimmte Prophet des Ordens. Prophet Davids wahrer Erbe.«

Plötzlich wurde mir eiskalt. »Was?« Geschockt drückte ich mir die Hand auf den Mund.

Im selben monotonen und leblosen Tonfall fuhr Rider fort: »Ich bin vor einer Weile aufgestiegen und mit meinem Zwilling nach Neu Zion gekommen, um die Führung unserer Herde zu übernehmen.« Sein Gesicht verzog sich zu einem gequälten Ausdruck. »Ich war nie sehr gut darin«, sagte er leiser, sanfter. Er schüttelte den Kopf und stieß kurz die Luft aus. »Aber Judah, mein Bruder, war es. Er leitete mich. Er war der Puppenspieler, der bei mir die Fäden zog.« Rider hielt inne, in Gedanken verloren. »Bis heute war mir das nicht klar.«

Ich kam noch näher, angezogen von ihm, als er mir erzählte, was ihn in diese Zelle gebracht hatte. »Ich habe ihn ständig enttäuscht, ihn und mein Volk. Ich konnte nichts richtig machen. Ich …« Er verstummte, und seine Muskeln spannten sich an. »Mir gefielen einige Praktiken nicht, die Prophet David uns gelehrt hatte. Ich teilte nicht alle Glaubensvorstellungen, die der Prophet angeblich gutheißen sollte. Solche, die für viele unseres Glaubens entscheidend waren.« Er runzelte die Stirn. »Ich … ich konnte nicht zulassen, dass sie weiter Menschen verletzten. Und auch ich konnte nicht länger Menschen verletzen. Ich musste sie aufhalten.«

»Die Göttliche Teilhabe?«, fragte ich und hoffte, dass das eines der Glaubensdinge war, die er so abstoßend fand.

Rider nickte und presste fest die Augen zu, als wolle er ein unwillkommenes Bild aus seinem Gedächtnis verbannen. »Ich wusste es nicht«, sagte er, und seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Ich wusste nichts davon, und ich weigerte mich, das von unseren Leuten zu glauben … bis ich es selbst sah und keine andere Wahl hatte, als den Tatsachen ins Auge zu sehen.« Er atmete scharf aus, und ein kehliger Laut kam über seine Lippen. »Ich sah, wie sie Kindern wehtaten, Harmony. Kleine Mädchen, mit hinter dem Rücken gefesselten Händen und durch Vorrichtungen gespreizten Beinen, denen sich erwachsene Männer aufzwangen.« Beißende Übelkeit stieg mir in die Kehle, als ich mich daran erinnerte, wie sich diese Vorrichtung anfühlte, die meine Beine spreizte, der stechende Schmerz von den scharfen Zacken, die sich in meine zarte Haut bohrten. Ich schloss die Augen und versuchte einfach, die Erinnerung daran loszuwerden, wie sich ein Wärter in mich stieß … wie ich meine Schreie zu unterdrücken versuchte, weil es meinem auserwählten Wärter nur Befriedigung verschaffen würde, mich schreien zu hören.

»Ich konnte das nicht ertragen«, sagte Rider und holte mich damit aus der Vergangenheit, die ich so unbedingt von meinem Herzen fernhalten wollte. Ich öffnete die Augen und sah, wie seine Finger sich in die Haut an seinen Beinen krallten. »Eine konnte ich aufhalten. Ich habe eine Göttliche Teilhabe aufgehalten … die erste und einzige, die ich je miterlebte.«

»Wirklich?«, fragte ich, und ein Gefühl von Hoffnung stieg in mir hoch.

»Und dann hat mein Bruder, mein einziger Verwandter, mein einziger Freund auf dieser ganzen verdammten Welt, mich ausgestoßen. Er hat mich in diese Zelle gesteckt und befohlen, dass ich täglich geschlagen werde, um mich dazu zu bringen, meinen falschen Weg zu erkennen.« Rider hob den Blick, bis seine Augen meinen begegneten, und brach in Tränen aus. »Er hat mir alles genommen, Harmony … hat mich alleingelassen, und ich …« Ihm blieben die Worte im Hals stecken, und es zerriss mir das Herz, denn ich konnte diesen Mann nicht länger so vollkommen zusammenbrechen sehen oder hören.

Ich eilte zu ihm und setzte mich neben ihn. Wieder musterte ich ihn eingehend, und der Anblick, sein Gesicht, sein Haar, sein Bart, wollte meinen Kopf dazu verleiten, zu fliehen. Meine Augen wollten mir sagen, dass dies der bösartige Prophet Cain war, der mich angefasst und so brutal geschlagen hatte. Aber mein Herz … mein Herz sagte mir, dass dies hier eine verwirrte und verletzte Seele war, die Trost brauchte.

Die etwas und jemanden brauchte, der real war … für ihn da war.

Ich hob meine zitternde Hand und fand die von Rider. Er zuckte zusammen, als ich ihn berührte. So wie er die Tränen wegblinzelte und mich geschockt anschaute, war mir klar, dass er nicht gesehen oder gehört hatte, wie ich zu ihm kam. Ohne den Blick abzuwenden, drehte ich seine Hand um und verschränkte meine Finger mit seinen. Ich sah die Verwirrung in Riders erschrockenem und verzagtem Gesicht. Er schluckte beklommen, und sein Adamsapfel hüpfte. Sein Blick fiel von meinem Gesicht auf unsere verschränkten Hände, und ich spürte, wie er sie drückte, als wolle er testen, ob ich wirklich da war.

Er schloss die Augen und genoss die Berührung. Die Nähe. Ich ließ ihm diesen Moment. Ich betrachtete ihn und fühlte Schmetterlinge im Bauch. Er hatte mich schön genannt, aber ich konnte nur dasselbe über ihn denken. Seine braunen Augen und das lange dunkle Haar waren faszinierend. Sein Körper war gebaut wie der eines Beschützers – hart und stark. Aber was ich am meisten liebte, wenn ich in seine Augen blickte, war die Güte darin.

Er ist gut, daran musst du immer denken. Egal was passiert. Er ist kein schlechter Mensch. Er ist wie wir, geschlagen und verunsichert über die Art, wie wir aufwuchsen … aber er ist gut. Egal was du hörst. Die Worte der Schwester gingen mir durch den Kopf. Sie hatte gewusst, wer er war. Sie hatte gewusst, dass er der Prophet war.

Rider gab ein gequältes Stöhnen von sich. Ich hielt seine Hand fester, als er den Mund öffnete und sagte: »Ich habe versucht, ihn umzubringen, Harmony …« Tränen des Mitgefühls liefen mir über die Wangen. Noch nie hatte ich jemanden gehört, der so voll Schmerz war, so gebrochen und verloren. »Ich habe versucht, meinen Bruder zu töten, um dich zu retten … um uns alle zu retten …« Er holte tief Luft. »Um dich zu bewahren … vor der Hochzeit …«

Ich erstarrte, und mir blieb die Luft weg. »Was?«, fragte ich fassungslos.

»Ich konnte sehen, was der Gedanke an eine Hochzeit mit ihm mit dir machte.« Rider schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn, Harmony. Ich weiß, wie dein Leben mit ihm aussehen wird – es wäre die reinste Hölle. Jeder Tag an seiner Seite wäre die reinste Hölle. Und die Zeremonie … was du vor allen Leuten wirst tun müssen, um euer Gelöbnis zu besiegeln …«

»Also … also hast du versucht, ihn zu töten? Für mich?«

Mir wurde es schwer ums Herz. Ich musste den Propheten heiraten … aber er hatte versucht, mich vor diesem Schicksal zu bewahren. Mein Gott … Ich hatte solche Schuldgefühle.

Rider nickte, und das letzte bisschen Kraft, das er noch in sich hatte, schwand dahin. Er sank tiefer an die Wand, und sein Griff um meine Hand wurde lockerer.

»Ruh dich aus«, sagte ich und legte die freie Hand an seine Wange. Bevor mir klar wurde, was ich getan hatte, hatte ich ihm über die Wange gestreichelt und ließ die Fingerspitze an seinen vollen rosigen Lippen ruhen. Rider sah mir in die Augen. Ich wollte Luft holen, aber plötzlich fühlte sich die Luft viel zu dicht und heiß an.

Rider führte seine freie Hand an meinen Finger auf seinen Lippen. Ich wich seinem Blick aus und schnappte nach Luft, als ich spürte, wie er sachte meinen Finger küsste … ganz leicht und sanft.

Hitze flutete in meine Wangen, denn ich war nicht nur nervös, sondern auch unerfahren. Doch ich konnte den Blick nicht von Riders Mund an meinem Finger wenden. Ich war wie gebannt. Wärme flutete in meine Muskeln. Rider nahm den Mund weg und nutzte seinen Griff um meine Hand, um mich näher an sich zu ziehen, sodass mein Oberkörper über seinem schwebte.

Mein Herz schlug so laut wie eine Trommel. Ich fühlte, dass Riders Herz unter meinem genauso laut und schnell pochte. Er leckte sich über die Lippen und fuhr mit dem Finger meine Lippen nach.

»Hat …«, fing er an, und seine Stimme klang tief und rauchig. Er räusperte sich. »Bist du je geküsst worden, Harmony?«

Ich fand meine Stimme wieder und antwortete: »Nein. Verfluchte werden nie geküsst. Unser Geschmack und unsere Berührung beflecken angeblich eine reine Seele. Um Heilige in Sünder zu verwandeln. Um eine himmlische Seele für den Teufel einzufangen.«

Rider runzelte die Stirn. »Ich bin ein Sünder, Harmony. Wenn dein Kuss ein reines Herz verdammt, dann ist es zu spät, um auf meins zu wirken.«

Sein Mund kam auf mich zu, und ich ließ ihn die Führung übernehmen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tat, aber ich wollte es versuchen. In diesem Moment wollte ich das mehr als alles andere. Rider war der erste Mann überhaupt, der bewirkte, dass ich etwas wollte, das auch nur annähernd an Zuneigung herankam …

Dann drückten sich seine Lippen auf meine, sanft und behutsam, Haut an Haut. Ich wartete darauf, dass er mir zeigte, was ich tun sollte. Als seine Lippen sich vorsichtig auf meinen zu bewegen begannen, folgte ich seiner Führung, und sein Aroma explodierte auf meiner Zunge. Atemlos stöhnte ich auf, als seine Hand durch mein Haar glitt und sich an meinen Hinterkopf legte. Unsere Lippen drückten sich fester aufeinander. Riders Berührung verschlang mich. Er verschlang mich. Der gefallene vorherbestimmte Prophet, der mich mit einer Behutsamkeit berührte, die mich schwach machte.

Rider löste sich von meinen Lippen, und wir rangen beide nach Luft. Er legte seine Stirn an meine und schloss die Augen. Ich strich ihm das frisch gewaschene Haar aus dem Gesicht, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Du hast mich gesäubert?«, fragte er.

»Ja«, antwortete ich, und eine neue, ungewohnte Leichtigkeit erfasste mein schweres Herz.

»Du … hast dich um mich gekümmert?« In seiner Stimme lag ein Hauch von Ungläubigkeit.

»Ja«, antwortete ich und spürte, wie er sich entspannte. »Leg dich hin«, sagte ich, wich zurück und führte seine große Gestalt auf den Steinboden.

»Die Wärter«, meinte er und wollte sich widersetzen, »sie werden wiederkommen. Du darfst nicht hier sein. Man wird dich bestrafen.«

»Es ist okay«, sagte ich. Er runzelte verwirrt die Stirn. Mir lag ein Geständnis auf der Zunge, aber als ich sah, dass ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen, sagte ich stattdessen: »Bruder Stephen und Schwester Ruth werden uns warnen, bevor die Wärter zurückkommen.«

Meine Antwort schien ihn zu beruhigen. Ohne meine Hand loszulassen, legte er sich nieder. Ich legte mich zu ihm auf den Boden. Rider legte seinen starken Arm um mich, und mein Kopf sank auf seinen harten Brustkorb. Es fühlte sich merkwürdig an, so dazuliegen. Aber ich ließ es zu. Ich fühlte, dass ich das mehr wollte als alles andere.

In dieser Zelle, mit dem wahren Propheten unseres Glaubens, war ich zu Hause. Ich wusste, dass es keinen anderen Ort gab, an dem ich lieber wäre. Was für überaus merkwürdige Umstände.

Ich warf einen Blick auf Riders Arm, auf die Tätowierungen auf seiner Haut. Mit dem Finger fuhr ich die dämonischen Bilder nach. »Rider? Warum trägst du so grauenvolle Bilder auf der Haut? Wer hat sie gemacht?«

Rider versteifte sich. »Es gibt Dinge, die du nicht über mich weißt, Harmony. Schlimme Dinge … sündige Dinge, die ich getan habe. Orte, an denen ich gewesen bin.«

Vor lauter Angst und Unbehagen lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich hob den Kopf und blickte in Riders unsichere Miene. Auch ich hatte eine Vergangenheit, über die ich nicht reden konnte und wollte. Aber eine Frage hatte ich, die meine Gefühle für Rider entweder verändern würde oder nicht. »Hast du … hast du je ein Kind erweckt, Rider?«

Der darauf folgende Schock stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Nie. Ich …« Er senkte den Kopf, als sei er beschämt, und fuhr fort: »Ich bin rein, Harmony. Ich habe nie bei einer Frau gelegen. Ich wurde kaum je von einer Frau berührt.« Seine anziehenden Züge wurden hart. »Und ich würde nie ein Kind nehmen. Es ist unmoralisch und falsch. Kein Gott, an den ich je glauben könnte, würde so etwas billigen.«

Eine Last, von der ich gar nicht gewusst hatte, dass sie da war, fiel von meinen Schultern. Angetrieben von seinem Bekenntnis, schob ich mich aufwärts, bis mein Mund über Riders Lippen schwebte. Die Bewunderung, die sich in seinen Augen spiegelte, bestürzte mich, und ich wusste, dass ich diesen Blick in alle Ewigkeit nicht vergessen würde. »Du bist ein guter Mensch«, flüsterte ich. »Du magst in der Vergangenheit gesündigt haben, aber nun gehst du den Weg der Erlösung.«

Rider schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, um zu widersprechen, also hielt ich seine Worte mit einem weiteren Kuss auf. Rider spannte sich unter mir an, doch es dauerte nicht lange, bis er sich wieder entspannte und seine Lippen sich sanft an meinen bewegten. Als ich mich von ihm löste, wärmte mich die Zuneigung in seinen Augen mehr als alles andere. »Ich … ich mag Küssen«, gestand ich und wurde mit einem Lächeln belohnt – einem Lächeln, das von Herzen kam.

Bei dem Anblick war es um mich geschehen.

»Verfluchte« war ein Titel, den nur eine Frau tragen konnte. Aber hätte es eine solche Bezeichnung für einen Mann gegeben, würde sie Rider gelten. Alles an ihm war schön. Ich konnte sehen, dass er das nicht glaubte. Tatsächlich konnte ich in allem, was er sagte und tat, reinen Selbsthass erkennen. Ich sah es in seinen eindringlichen dunklen Augen.

Doch als ich den Kopf auf seine Brust legte und seine starken Arme mich hielten, gestattete ich mir, bloß das hier zu fühlen. Diese Zuneigung von dem Mann, der versucht hatte, seinen einzigen Bruder zu töten, um mich vor dessen brutalen Händen zu bewahren und mir die öffentliche Vereinigung zu ersparen.

Das war die Zukunft, die mich erwartete. Mir war immer klar gewesen, dass ich mich meinem Schicksal fügen würde – Glück und Freude, das hatte nie in den Sternen für mich gestanden. Also würde ich diesen kostbaren Augenblick genießen, wie dieser Mann mich tröstend in den Armen hielt. Bevor es zu spät war.

Der einzige Mann, der mir je solche Zuneigung und Ehre gezeigt hatte.

Der reine Prophet mit dem widerstreitenden Herzen.

Ein Herz, an dessen Rettung ich glaubte.

Auch wenn das meine bereits verdammt war.