9

Rider

Mein Körper verlangte nach Schlaf, aber mein Verstand hielt mich wach. Und als ich auf Harmony hinabschaute, die schlafend auf meiner Brust lag, wusste ich, dass ich kein Auge zutun würde. Ich wollte mich am liebsten nie mehr von der Stelle rühren. Die Außenwelt konnte warten, und von mir aus konnte sie in Vergessen geraten … solange wir hier bleiben konnten, genau so, ungestört.

Ich streichelte über Harmonys langes blondes Haar, und mir ging das Herz auf, als ihr unter meiner Berührung der Atem stockte. Ich spürte, wie meine Lippen sich zum Anflug eines Lächelns verzogen. Doch das verschwand wieder, als ich daran dachte, was vor ihr lag. Judah. Die Zeremonie. Die Vereinigung … ein Leben in Knechtschaft und Schrecken.

Das unvermittelte Aufwallen von Zorn in mir war fast zu viel, um es zu ertragen. Ich bemühte mich, still liegen zu bleiben, während sich eine Welle der Wut nach der anderen in mir aufbaute.

Ich hatte keine Chance, ihn aufzuhalten.

Ich hatte ihn nicht getötet, als ich die Möglichkeit dazu hatte … diese Gelegenheit würde ich nie wieder bekommen. Ich hatte meine Chance, sie zu retten, vertan.

Sie würde mir genommen werden, und ich würde nichts dagegen tun können. Ich umarmte Harmony fester. Unvermittelt wanderten meine Gedanken zu Styx und Mae. Ich fühlte mich schlecht, als ich an meine Zeit mit ihnen dachte, vor so vielen Monaten. So musste Styx sich gefühlt haben, als ich ihm Mae entrissen und zurück zur Gemeinde gebracht hatte. Dieses verdammte Gefühl von Hilflosigkeit, das Gefühl, dass man vielleicht die eine verlor, die einem etwas bedeutete.

Kein Wunder, dass er mich umbringen wollte.

Kein Wunder, dass Mae mich nicht wollte.

Ich streichelte über Harmonys Wange. Jetzt wusste ich, wie sich diese Art Verbundenheit anfühlte. Und ich durfte sie einfach nicht verlieren. Das würde ich nicht ertragen.

Ich starrte immer noch in Harmonys schönes schlafendes Gesicht, als die Zellentür leise aufging. Ich straffte mich, bereit, gegen jeden zu kämpfen, der hereinkam, denn ich war überzeugt, dass es die zurückkehrenden Wärter waren. Wer es auch war, trug eine Kerze in der Hand, deren sanfte Flamme die Zelle besser erleuchtete als der helle Mond draußen, der durch das kleine Fenster hereinschien.

Ich zwang meine Augen, sich an das neue Licht zu gewöhnen. Es war der Mann, den ich so oft im Flur sah. Ich entspannte mich etwas, denn ich wusste, dass dieser Mann Harmonys Hüter war, ein Mann, dem sie vertraute. Ein Mann, den sie fast wie einen Vater zu behandeln schien.

Er kam leise näher, um Harmony nicht zu stören. Dann warf er einen Blick auf Harmony auf meinem Schoß, und seine Züge wurden weicher. Er musste in den Fünfzigern sein und hatte pechschwarzes Haar und braune Augen. Aus irgendeinem Grund kam er mir bekannt vor, aber ich war mir sicher, dass ich ihn noch nie gesehen hatte.

Der Mann – Bruder Stephen hatte Harmony ihn genannt – sah mir in die Augen. Außer der Kerze hatte er noch etwas anderes in der Hand.

Ich runzelte die Stirn, als er in die Hocke ging und die Kerze neben mir auf den Boden stellte. Dann beugte er sich vor und drückte mir eine Akte in die Hände. Ich blickte hinab auf Harmony: Sie schlief tief und fest.

Ich öffnete die Akte und sah im trüben Kerzenlicht die erste Seite. Mir rutschte das Herz in die Hose. Ein altes Foto meines Onkels, Prophet David, starrte mir entgegen. Doch es war nicht die Tatsache, dass es sein Gesicht war, die mich so schockierte, sondern die Art von Foto. Ich hatte fünf Jahre lang unter den Hangmen gelebt. Jeder einzelne meiner ehemaligen Brüder hatte ein solches Bild von sich an der Wand im Clubhaus hängen.

Ein Verbrecherfoto.

Mein Onkel starrte mir auf einem verdammten Verbrecherfoto entgegen. Ich kniff die Augen zusammen, um es eingehender zu betrachten. Er hielt eine Tafel hoch, auf der seine Personalien standen. Und als ich den Namen las, wurde ich kreidebleich.

Lance Carter.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte. Ein Finger legte sich auf die Akte, und ich blickte zu Bruder Stephen auf. »Lies das«, befahl er lautlos. »Alles

»Die Wärter«, wandte ich ebenso lautlos ein.

»Keine Sorge ihretwegen«, antwortete er und ging hinaus.

Ich wartete darauf, dass er die Tür schloss, aber er tat es nicht. War das ein Trick? Ich wartete darauf, dass die Wärter, die im Zellenblock postiert sein sollten, hereinstürmten und mich beschuldigten, weil ich diese Akte in meinem Besitz hatte. Aber niemand kam.

Vor lauter Verwirrung beschleunigte sich mein Puls. Ich hatte keine Ahnung, was zur Hölle hier lief. Aber ich war zu müde, um groß darüber nachzudenken. Ich holte tief Luft und öffnete die Akte wieder. Dann lehnte ich mich zum Kerzenlicht und fing zu lesen an.

Mit jedem Satz rutschte mein Herz ein Stück tiefer. Es waren Informationen über meinen Onkel und sein Leben vor seiner Mission.

Lance Carter, geboren in Little Rock, Arkansas … typischer Lebenslauf, bis er des sexuellen Missbrauchs von Kindern für schuldig befunden wurde … in zwei Fällen der Vergewaltigung achtjähriger Mädchen … verurteilt zu einer Gefängnisstrafe von zwanzig Jahren … hat zwölf davon abgesessen.

Mir wurde kotzübel. Mein Onkel, der Führer unseres Glaubens … war ein gottverdammter überführter Pädophiler …

Ich hielt die Papiere fest in den Fäusten gepackt und mühte mich, meine Wut zu beherrschen. Ich las weiter, und jedes neue Blatt mit Informationen trieb den vergifteten Dolch tiefer in mein Herz, in alles, was ich je gewusst hatte, immer tiefer, bis nichts mehr übrig war.

Lebte im ländlichen Arkansas mit einem weiteren verurteilten Pädophilen, dem er im Gefängnis begegnet war … schon bald kamen mehr Männer dazu, und Lance Carter, der sich darauf in Prophet David umbenannte, behauptete, er habe auf einer Pilgerreise nach Israel eine Offenbarung erhalten … in Wahrheit hatte er die USA nie verlassen.

Die Gemeinde, in der das bevorstehende Jüngste Gericht und eine Doktrin freier Liebe gepredigt wurden, wurde so groß, dass sie umziehen musste … Carter kaufte Land in den ländlichen Randgebieten von Austin, Texas … In den kommenden Jahren verkündete er, dass Gott ihm befohlen habe, seine Anhänger in andere Länder zu schicken, um dort mehr Jünger für den Orden zu rekrutieren … Doch in Wahrheit ermittelte die ATF gegen ihn wegen Waffenhandels zur Finanzierung seiner Gemeinde, und er brauchte Orte im Ausland, um sein Geld und seine Waffenvorräte zu lagern …

Mein Blick glitt über Seite um Seite mit Informationen über die Männer, die zusammen mit meinem Onkel die Glaubensgemeinschaft gegründet hatten. Jeder einzelne von ihnen hatte eine Vergangenheit sexueller Gewalt.

Mein Onkel hatte die Gemeinde ins Leben gerufen, um sich sexuell an Kindern zu vergehen. Er hatte das alles erschaffen, eine Vergangenheit erfunden, um eine Religion aufzubauen, die auf Pädophilie gründete. Und er hatte dabei andere Sexualverbrecher für seine Sache begeistert, und bald wurden Kinder geboren und in diesem Glauben aufgezogen.

Ich schloss die Augen, aber vor meinem geistigen Auge sah ich nichts als die Göttliche Teilhabe, die Videos, die Judah mir gezeigt hatte, mit jungen nackten Mädchen, die für ihren Propheten tanzten. Als ich die Augen wieder öffnete, fiel mein Blick auf Harmony.

Die Verfluchten … die schönsten Mädchen von allen aus sämtlichen Gemeinden wurden zu Prophet Davids Wohnsitz geschickt und dort für seinen Gebrauch festgehalten. Um von den Wächterjüngern »unterwiesen« zu werden – vergewaltigt in Wahrheit. Um als Mittel zur Himmlischen Andacht der Wärter zu dienen.

Mein Onkel hatte die Schönheit der jungen Verfluchten Mädchen als Ausrede für sein eigenes krankes Vergnügen benutzt. Er hatte sie begehrt und deshalb eine ausgeklügelte Geschichte erfunden, damit die Anhänger des Glaubens sie mieden und fürchteten … damit er und seine engsten Vertrauten sie ganz für sich allein hatten. Männer mit denselben Gelüsten wie er.

»Harmony«, flüsterte ich voller Abscheu, ließ den Kopf an ihren sinken und hielt sie noch ein klein wenig fester. Vor lauter Frustration hatte ich Tränen in den Augen, als ich alles, was ich eben erfahren hatte, in mein Bewusstsein dringen ließ. Es war alles Lüge. Alles ausgemachter Blödsinn … und ich war ein Teil davon gewesen, ein wichtiger dazu … Ich hatte das alles unterstützt.

Ich hatte getötet, betrogen und so vielen Menschen Schmerz zugefügt – und alles für eine Lüge.

Reine, starke Wut packte mein Herz. Ich musste aufstehen. Trotz meiner Wunden und schmerzenden Gliedmaßen musste ich vom Boden hoch. Vorsichtig schob ich Harmonys Kopf von meinem Schoß auf den Boden und legte ein trockenes, unbenutztes Handtuch darunter. Dann stemmte ich mich auf die Füße und nahm die Kerze und die Akte.

Auf schwachen Beinen wankte ich zur offenen Tür und spähte hinaus. Nahe dem Eingang zum Gebäude schien Licht. Ich ließ mich von meiner Wut weitertragen und suchte nach Bruder Stephen. Sollten die Wärter zurückkommen und mich erwischen, würde ich ihren Angriff willkommen heißen. Denn in diesem Augenblick, mit pochendem Kopf und giftiger Wut im ganzen Leib, wollte ich Blut vergießen. Ich wollte jeden einzelnen Wichser hier umbringen.

Ich musste ein paar pädophilen Bastarden den Schmerz zufügen, den ich selbst empfand.

Als ich mich dem Eingang näherte, hörte ich leises Murmeln und eine einzelne weibliche Stimme. Ich blies die Kerze aus, ging um die Ecke – und blieb vor Schock wie angewurzelt stehen. Bruder Stephen und die dunkelhaarige Frau, die Harmony Schwester Ruth genannt hatte, saßen mit den beiden neuen Wärtern zusammen, die in letzter Zeit Wache im Zellenblock hatten.

Der größere der beiden Wärter sprang auf. Er hielt die Waffe in der Hand, und ich ballte bei dem Anblick die Hände zu Fäusten. Was zur Hölle war hier los? Wieso waren sie nicht gekommen, um Harmony aus meiner Zelle zu holen?

Der Wärter sah mich finster an und wartete eindeutig nur auf irgendeine Art von Drohung. Aber Bruder Stephen stand auf und stellte sich zwischen uns. Er hob die Hände und trat einen Schritt vor. »Cain«, sagte er begütigend.

Der Klang meines Namens aus seinem Mund ließ mich abrupt stehen bleiben. Ich hasste diesen Namen. »Rider«, zischte ich. »Mein Name ist Rider.« Ich hielt die Akte hoch und knurrte: »Ist das wahr? Ist das da drin die Scheißwahrheit?« Ich wankte, denn ich spürte immer noch die Auswirkungen der Schläge heute. Doch ich zwang mich, aufrecht zu bleiben. Ich brauchte diese verdammten Antworten mehr als jede Ruhe.

»Ja«, antwortete Bruder Stephen. Er meinte es ernst, das konnte ich in seinen dunklen Augen sehen. Ich atmete lang gezogen aus und ließ die Akte auf den Boden fallen.

»Shit!«, fluchte ich voll Beschämung, dass ich ein Teil dieses Ortes war.

»Rider«, sagte Bruder Stephen und kam näher.

»Woher weißt du es?«, fragte ich.

»Ich hörte, wie du Harmony erzählt hast, wer du bist. Wir sind dem Propheten – deinem Zwilling – nie persönlich begegnet, daher wussten wir nicht, dass ihr dasselbe Gesicht habt. Und unsere Wärter erkannten dich nicht unter dem verfilzten Haar.« Ich drehte mich zu der dunkelhaarigen Frau um, die meine Frage beantwortet hatte. Sie sah mich mit Tränen in den Augen an. Ich wusste nicht wieso, aber die Art, wie sie mich anblickte, überwältigte mich mit einer Flut aus unbeschreiblicher Trauer. Es verwirrte mich noch mehr als alles andere in dieser Nacht.

»Schwester Ruth«, sagte ich.

Sie nickte und schenkte mir ein scheues Lächeln. »Ja.«

»Also wisst ihr, dass jetzt Judah das Sagen hat?«

»Ja«, antwortete Bruder Stephen.

Ich schaute die Wärter an. Sie musterten mich eindringlich und lauschten jedem Wort, das gesprochen wurde.

»Ihr seid Wächterjünger«, sagte ich. »Wie … was …?«

Bruder Stephen wich meinem Blick nicht aus. »Sie sind unsere Freunde.«

»Unsere?«, fragte ich.

Bruder Stephen drehte sich um und stellte noch einen Stuhl in den behelfsmäßigen Kreis neben dem Tisch der Wärter. Er streckte die Hand aus und bedeutete mir, Platz zu nehmen. Unfähig, mich länger aufrecht zu halten, ging ich zum Stuhl und setzte mich. Mit Augen wie ein Falke blickte ich jedem Einzelnen von ihnen in die Augen und schwor ihnen ohne Worte, dass ich sie umbringen würde, falls das hier irgendein fauler Trick war und sie versuchen sollten, mich auszuschalten.

Falls sie versuchten, Harmony aus meiner Zelle zu holen.

Bruder Stephen setzte sich. Der größere Wärter prüfte, ob die Tür zum Gebäude verschlossen war, und setzte sich dann wieder, die Waffe fest in den Händen.

»Sprecht«, forderte ich sie auf, und meine Stimme verriet ganz und gar den Zorn, der mich von innen auffraß.

»Cain, hast du dich je gefragt, was mit Abtrünnigen unseres Glaubens geschieht?«

Seine Frage erwischte mich kalt. »Sie werden bestraft«, antwortete ich und hatte dabei die Verfluchte Delilah vor Augen. Ich zuckte zusammen, denn ich wusste nun, dass sie für absolut nichts bestraft worden war. »Man lässt sie mit ihrem Körper oder Isolation für die Sünde bezahlen, die sie begangen haben. Man hält sie dazu an, ihre Taten zu bereuen. So steht es in unserer Schrift.«

Bruder Stephen nickte. »Und danach? Wohin gehen sie? Und was, wenn sie ihre Taten nicht bereuen?« Kurze Pause. »Ist dir je aufgefallen, dass die Sünder nur sehr selten wieder in die Gemeinde zurückkehren?«

Ich starrte den älteren Mann verwirrt an. »Ich weiß absolut nicht, was du meinst. Ich wuchs getrennt von unseren Anhängern auf, in Abgeschiedenheit in Utah, zusammen mit Judah. Bis vor ein paar Monaten hatte ich noch nie einen Fuß in die Gemeinde gesetzt. Es …« Ich rieb mir über das müde Gesicht. »Es überwältigte mich. Und Judah … Judah war die Hand des Propheten. Er war der Inquisitor der Sündigen. Er bestimmte die Strafen.« Ich schüttelte den Kopf. »Worauf willst du hinaus? Wer zum Teufel seid ihr alle? Und ich will die gottverdammte Wahrheit hören!«

Ich war fertig damit, um den heißen Brei herumzureden. Ich brauchte eine ehrliche Aussage von diesen Leuten, frei von der Leber weg und auf den Punkt gebracht. Ich war fertig mit Höflich und Prophetmäßig in dieser wahnhaften Güllegrube von Religion. Im Moment ließ ich mich von meinem Zorn leiten. Den hatte ich schon vor langer Zeit zu kontrollieren gelernt, um den ruhigeren Cain zum Vorschein zu bringen.

Aber darauf gab ich nichts mehr.

Prophet Cain war tot. Der Scheißkerl war erledigt.

Bruder Stephen blickte erst Schwester Ruth und dann die beiden Wärter an. Alle nickten auf eine wortlos gestellte Frage. »Unsere kleine Gemeinde befand sich in Puerto Rico. Bis vor Kurzem blieben wir größtenteils unbehelligt von den Männern des Propheten.«

Ich seufzte, aber ich hörte den kaum unterdrückten Zorn in seiner Stimme. Bruder Stephen faltete die Hände. »Wir und die Menschen in unserer Gemeinde waren alle Abtrünnige vom Glauben, Cain.« Er zeigte auf die Wärter und Schwester Ruth. »Wir alle waren Ausgestoßene, weil wir die Glaubenslehren und Praktiken anzweifelten, gegen unseren Glauben sündigten oder dem Propheten widersprachen. Wir alle wurden bestraft und dann nach Puerto Rico geschickt, um in Isolation zu leiden.« Er lachte sardonisch. »Prophet David glaubte, eine Gemeinde in erstickender Hitze, in einem Land, das so anders als unser eigenes war, würde unseren Glauben an seine Lehren neu inspirieren. Er hatte nicht mit einer kleinen Gemeinde gerechnet, deren Mitglieder Trost in den Zweifeln der anderen fanden.«

Er beugte sich vor, um sicherzugehen, dass er meine Aufmerksamkeit hatte, und sagte: »Als Gemeinde wurden wir stark. Nicht alle von uns – viele blieben fromm, und einige Wärter blieben bei ihrem Posten. Doch es gab genug von uns, um zu wissen, dass wir, wenn die Zeit kam, zurückkehren und irgendwie versuchen würden, jene zu retten, die in dieser Täuschung einer Religion geboren wurden und aufwuchsen … jene, die so in unserem Leben gefangen sind, dass sie nicht einmal wissen, dass es eine Außenwelt gibt, eine Welt, in der sie sich entfalten und frei sein können.« Bruder Stephen lehnte sich zurück. »Mit der Hilfe einiger Einheimischer in Puerto Rico gelang es uns, die Wahrheit über Prophet David aufzudecken, und wir sammelten Beweise. Unser Plan zur Rückkehr stammte von dort.«

»Das waren lauter Lügen«, warf einer der Wärter angespannt ein. »Alles davon, alles, was unseren Familien angetan wurde, diente dazu, dass ein alter Knacker ungestraft seinen Schwanz in kleine Kinder stecken konnte. Der Bastard hat Waffen aus Israel geschmuggelt, um Geld zu machen, und das hat er dann in die Produktion von Kinderpornos für seine kranken Voyeurgelüste gesteckt und darin, Missbrauch zur Norm zu machen.« Er hielt inne und schloss fest die Augen, als würde er etwas, das ihm zugestoßen war, wieder durchleben. Ich wollte fragen, was es war, doch da öffnete er die Augen und fuhr fort: »Dann fing er an, diese Pornos an Parteien außerhalb zu verteilen. Die Kinder … die Dinge mit ihm machten … mit anderen Wärtern …« Er verstummte, und sein Gesicht wurde rot vor Zorn.

Ich empfand denselben unvermittelten Zorn wie er. Ein stechender Schmerz jagte mir durchs Herz. Mein Onkel … er hatte Kinderpornos verkauft, um seine Gemeinde zu finanzieren. Ohne überhaupt zu fragen, wusste ich, dass Judah dasselbe tun würde.

Mein eigener Zwilling, der etwas derart Krankes tat …

Meine Gedanken überschlugen sich mit all dem, was ich erfuhr. Ich konnte kaum mithalten. Das Blut raste so schnell durch meine Adern, dass es in meinen Ohren rauschte und mich schwindlig machte. Ich sank nach vorn und barg den Kopf in den Händen.

Alle schwiegen, als ich die Augen schloss und versuchte, meine Fassung wenigstens teilweise wiederzugewinnen. Als ich aufblickte, sahen mich alle eindringlich an. »Es war alles nur Mist … Alles …«, flüsterte ich und spürte den stechenden Schmerz von Verrat und absoluter Erniedrigung in mir.

Eine Hand legte sich sanft auf meine Schulter. Es war Schwester Ruth. Mitgefühl schimmerte in ihren Augen, und ihre Unterlippe bebte. »Du wurdest ferngehalten von der Welt? Dein ganzes Leben lang?«, fragte sie, und deutlicher Schmerz lag in ihrer Stimme.

Ich nickte. »Ich und Judah. Nur ein Lehrer war bei uns, während wir aufwuchsen. Er war ein strenger Zuchtmeister. Prophet David bin ich bloß einmal begegnet, da war ich vierzehn. Abgesehen davon gab es niemanden.«

Eine Träne lief ihr über die Wange. »Also gab es niemanden, der eine Mutter oder ein Vater für euch war? Niemand, der euch Liebe und Zuneigung gab? Niemand, der euch einfach … liebte?« Ich spürte gähnende Leere in mir. So hatte ich noch nie zuvor darüber gedacht. Aber es hatte niemanden gegeben … niemand war je zu uns gekommen, wenn wir weinten, wenn wir verletzt waren. Nur immer Judah und ich, die einander Gesellschaft leisteten und einander halfen, wenn einer von uns krank war.

»Nein«, antwortete ich mit einem Kloß im Hals.

Ich dachte zurück an die Male als Kind, wenn Judah oder ich krank gewesen waren. Der Kloß wurde immer größer, als ich daran dachte, wie ich mich um Judah gekümmert hatte. Wie ich ihm mit einem kalten Tuch über die Stirn gewischt hatte, wenn ihn brennendes Fieber plagte, oder wie ich seine Wunden versorgt hatte, wenn er fiel. Es war seltsam, denn wenn ich an die Male dachte, als ich Hilfe gebraucht hatte, wenn mich Fieber oder die Grippe plagten, konnte ich mich nicht erinnern, dass Judah je für mich da gewesen wäre. Er war immer in seine Studien vertieft.

Die Wahrheit traf mich so brutal wie ein Brecheisen in die Rippen. Judah hatte sich nie um mich gekümmert, wenn ich krank gewesen war. Nicht wie ich es für ihn getan hatte.

Er hat mir nie geholfen. Mir war nicht klar, dass ich es laut ausgesprochen hatte, bis Schwester Ruth meine Hand nahm und sie fest drückte. Ich schluckte den Schmerz hinunter.

»Wieso hatte ich das anders in Erinnerung?«, fragte ich an niemanden konkret gerichtet. »Wieso habe ich in meiner Vorstellung geglaubt, dass Judah mir geholfen hat, wenn es gar nicht stimmt? Nicht ein einziges Mal?«

»Weil er alles war, was du hattest«, erklärte Schwester Ruth traurig. »Die Realität, dass ihr euch selbst großgezogen habt, ohne Liebe oder Fürsorge, war zu schwer zu ertragen, also hat dein Kopf eine Illusion geschaffen. Eine, die dich glauben ließ, dass dein Bruder dich liebt … und so für dich sorgte, wie du es für ihn getan hast.«

Ich lauschte ihren Worten. Sie klang, als würde sie mit Verständnis sprechen … aus eigenem Wissen. Sie hatte recht. Ohne Judah hätte ich nicht durchgehalten. Zumindest hatte ich mir das immer gesagt. Aber als ich daran dachte, was er alles getan hatte, all die Male, die er mich im Stich gelassen hatte, immer wieder, wurde mir klar, dass … dass …

»Ich war tatsächlich die ganze Zeit allein«, sprach ich es laut aus. Die Last der Erkenntnis traf mich schwer, und ich musste nach Luft schnappen.

»Nicht mehr«, sagte Schwester Ruth und legte mir die Hand an die Wange. Ich sah in ihre Augen und fühlte eine Wärme darin, die ich noch nie zuvor erfahren hatte. Als würde sie mich irgendwie kennen. Fast war mir, als würde ich sie kennen.

»Jetzt hast du uns. Wir unterstützen dich«, sagte Bruder Stephen und lenkte mich von Schwester Ruths freundlichen Augen ab.

Die beiden Wärter nickten. »Ich bin Solomon«, stellte sich der größere vor. »Und das ist mein Bruder Samson.«

»Ihr seid jetzt Wächterjünger hier in Neu Zion?« Solomon nickte. »Wie konntet ihr Judahs inneren Kreis infiltrieren?«

»Wir haben bewiesen, wie streng und wie gut wir in unserem Job sind, als wir ankamen. Wir sagten ihm, wir würden unsere Verfehlungen bereuen, aber darauf warten, dass der wahre Prophet kommt und uns aus unserem Exil rettet. Wir sagten, dass wir ihm unseren Wert beweisen wollen.« Samson nickte zustimmend. »Der Prophet braucht mehr fähige Männer für den Angriff, den er geplant hat. Er sah, dass wir groß und jung sind, und er hat uns genommen, ohne weiter darüber nachzudenken. Wir haben ihm immer Loyalität geschenkt … denkt er zumindest. Wir spielen unsere Rollen gut.«

»Der Angriff«, flüsterte ich.

Solomon beugte sich vor. »Auf eine Gruppe in der Außenwelt. Er nennt sie die Männer des Teufels.«

»Die kenne ich«, sagte ich. Alle anderen rissen schockiert die Augen auf. »Prophet David hat mich in ihre Gruppe eingeschleust, undercover, mehrere Jahre lang. Er stellte meine Stärke auf die Probe. Durch die Informationen, die ich sammelte, haben wir ihnen ihre Waffenverträge unter der Nase weggeklaut. Ich lebte wie sie, kämpfte wie sie und liebte wie sie … bis ich sie für den Orden verriet.«

»Mein Gott«, sagte Schwester Ruth und senkte den Blick auf meine Hangmen-Tattoos. »Deshalb trägst du diese unvergesslichen Bilder auf der Haut?«

»Ja.« Ich lehnte mich erschöpft zurück. »Judah will, dass diese Männer leiden, weil sie Prophet David Frauen weggenommen haben, die gebraucht wurden, um die Prophezeiung zu erfüllen. Er will, dass sie dafür bezahlen.«

Bruder Stephen sah Schwester Ruth an. Seine Miene verriet, dass er total geschockt war. »Die Verfluchten Töchter der Eva?«, fragte er mit gedämpfter und drängender Stimme.

»Ja. Sie leben nun bei den Hangmen.« Ich stellte sie mir alle vor, und mir wurde klar, welch unglaubliches Glück sie hatten, dass sie dort ein Heim gefunden hatten. »Sie sind verheiratet, oder stehen zumindest kurz davor. Sie sind glücklich … glücklich, von hier weg zu sein.«

»Sie haben überlebt«, sagte Solomon leise zu Bruder Stephen, und seine Miene war fassungslos. Solomon wandte sich an mich. »Uns hat man gesagt, sie seien alle umgekommen, als die Männer des Teufels Prophet Davids Gemeinde angriffen. Man hat uns gesagt, von den Verfluchten Töchtern hätte keine überlebt.«

»Nein«, sagte ich. »Sie sind am Leben. Ich … bis vor Kurzem hatten wir versucht, sie zurückzuholen. Deshalb will Judah diesen Angriff. Er hasst es zu scheitern. Ich … ich war derjenige, der sie gehen ließ.«

Stille senkte sich über die Gruppe. Plötzlich klopfte es leise an die Tür. Ich stand auf, bereit, zurück in meine Zelle zu stürmen, um Harmony zu schützen. Solomon eilte zur Tür. Ich befand mich kurz vor dem Eingang des langen Korridors, als ich eine vertraute Stimme hörte.

Ich drehte mich um und sah Schwester Phebe. Ihr Blick fiel auf mich, als sie hereinkam. »Du bist wach«, sagte sie erleichtert und warf mir ein kurzes Lächeln zu.

»Phebe, was hast du …?« Ich verstummte, denn ich wollte sie nicht in Gefahr bringen. Ich ging davon aus, dass sie die Wahrheit über die Menschen hier nicht kannte. Aber ich irrte mich.

Sie wandte sich an Bruder Stephen. »Sie haben ein Datum festgelegt.«

»Wann?«, fragte Bruder Stephen.

»In fünf Tagen. Um sechs Uhr. Er hat es Bruder Luke, der Hand des Propheten, verkündet, heute beim Abendessen. Sie werden sich auf die Zeremonie vorbereiten und die Anhänger überraschen.«

»Und der Angriff?«, fragte Samson neugierig.

»Ich hörte sie sagen: vier Tage später.« Phebe senkte den Blick. »Nachdem der Prophet Zeit allein mit seiner Braut hatte, um ihre Seele zu reinigen.« Mein unvermitteltes Gefühl von Ekel passte zu dem Gesichtsausdruck von Phebe, als mir klar wurde, wovon sie sprachen. Unsere Blicke begegneten sich, und ich sah Mitgefühl in ihren Augen.

»Was?«, fragte ich, denn ich wusste, dass sie etwas verschwieg.

»Vor dem Angriff, an diesem vierten Tag … Judah, er …« Phebe holte tief Luft.

Ich ging zu ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern und fragte: »Was ist? Sag es mir.«

Sie zuckte zusammen, als ich sie berührte. Ich sah den frischen Bluterguss auf ihrer Wange und eine neu aufgeplatzte Stelle an der Lippe. Doch sosehr ich ihr auch helfen wollte, brauchte ich die Informationen von ihr, und zwar auf der Stelle. Sie musste mir sagen, was zur Hölle mein Zwilling vorhatte. Es war die einzige Möglichkeit, wie ich dabei helfen konnte, den ganzen Mist aufzuhalten.

»Er wird dich töten, Prophet Cain. Judah … er hat vor, dich öffentlich zu opfern, direkt vor dem Angriff, vier Tage nach der Hochzeit mit Harmony. Er hat dich als Verräter des Glaubens gebrandmarkt, als unrettbar verdorbene Seele. Die Menschen glauben, du wurdest vom Bösen besessen und von den Verfluchten verdorben. Dein Tod wird den Beginn von Gottes Heiligem Krieg gegen die Männer des Teufels kennzeichnen.« Phebe hielt meinem Blick stand. »Dein Tag der Abrechnung wurde besiegelt.«

»Nein«, flüsterte Schwester Ruth. Ich ging durch den Raum und setzte mich wieder. Ich war nicht im Mindesten überrascht. Mir war klar, dass Judah mich nicht am Leben lassen würde, nicht nachdem ich versucht hatte, ihn umzubringen. Ich hatte es in seinen Augen gesehen. Weil er wusste, dass ich ihn umbringen konnte. Er wusste, ich wäre eine zu große Gefahr für alles, was er aufgebaut hatte, wenn er mich nicht für immer zum Schweigen brachte.

»Ich muss gehen«, sagte Phebe und drehte sich um. Mit der Hand auf der Türklinke blieb sie stehen. Sie drehte sich um und sagte: »Ich werde vor der Zeremonie diese Woche nicht mehr zu euch kommen können. Man wird andere Schwestern schicken, um dich zu säubern.« Ihre Stimme brach, doch sie nahm sich zusammen und sah Schwester Ruth an. »Meister … er wird misstrauisch. Er hält mich immer in seiner Nähe. Falls mir etwas zustößt, falls der Plan scheitert … bitte haltet euch an unsere Abmachung. Bitte … rettet nur …«

Schwester Ruth ging zu Phebe und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Das werde ich, versprochen«, sagte sie. Phebe nickte, warf mir ein letztes Lächeln zu und ging.

»Phebe unterstützt euch?«, fragte ich.

Bruder Stephen setzte sich neben mich. »Uns wurde klar, dass sie von einem engen Vertrauten des Propheten misshandelt wird. Er nennt sich Meister und ist fast so verrückt wie der Prophet. Phebe hat etwas, wobei sie Hilfe braucht. Sie hat uns mit Informationen versorgt, und wir haben zugestimmt, ihr die Hilfe zu geben, die sie braucht.«

»Fünf Tage«, sagte Samson, bevor ich Bruder Stephen fragen konnte, wobei Phebe Hilfe brauchte. Sie sprachen von der Hochzeit.

»Ihr habt vor, sie rauszuholen?«, fragte ich und zeigte auf meine Zelle.

Samson zögerte und seufzte dann resigniert. »Als wir wussten, dass der Prophet uns zurück nach Neu Zion ruft, wollten wir Harmony dazu bringen, zu gehen. Wir hatten Leute in Puerto Rico, die sie weggebracht hätten, aber sie wollte nicht gehen.«

»Sie kannte niemanden außer uns. Es gab keinen Ort, an den sie gehen konnte, niemanden, den sie liebt …«, ergänzte Bruder Stephen.

»Also erzählten wir ihr alles über Prophet David. Sie weiß, dass seine Offenbarungen von Gott gelogen waren. Dass er davon besessen war, Macht zu gewinnen. Sie weiß, dass er gern junge Mädchen vergewaltigte«, spuckte Solomon hasserfüllt aus. »Als wir ihr sagten, wir würden nach Neu Zion zurückkehren und versuchen, ihn zur Strecke zu bringen, wollte sie nicht, dass wir sie zurücklassen.«

»Ich wollte sie dazu bringen, dass sie fortgeht«, sagte Bruder Stephen. »Ich wollte nicht, dass sie hierher zurückkehrt oder von den Wärtern des Propheten entdeckt wird. Aber sie wollte nicht gehen. Aus irgendeinem sehr persönlichen Grund wollte sie helfen. Als der Wärter kam und sie zu einer Verfluchten erklärte, beschloss sie, dass es genau so geschehen sollte. Harmony sagte uns, sie wollte den Propheten heiraten, damit wir näher an die Beweise für die Verbrechen der Gemeinde herankommen. Sie hat freiwillig ihre Freiheit geopfert, um bei unserer Mission zu helfen.« Mir blutete das Herz, doch zugleich war ich voller Stolz auf sie, weil sie so tapfer war.

»Allerdings hat sie nicht damit gerechnet, dass der Prophet derart grausam ist«, flüsterte Schwester Ruth traurig. »Sie hat nie etwas gesagt, aber ich kann sehen, was die kommende Hochzeit mit ihr macht.« Ruth räusperte sich. »Sie hat das Gefühl, dass das Schicksal der Gemeinde auf ihren Schultern ruht. Und ganz die tapfere Seele, die sie ist, leidet sie still.«

»Sie wird freiwillig dieses Monster heiraten, um die zu retten, die sie liebt. Sie ist bereit, sich seiner Grausamkeit zu unterwerfen und ihr Leben zu riskieren, damit sie diejenigen retten kann, die gefangen sind«, fuhr Bruder Stephen fort. Er begegnete meinem Blick. »Wir wussten nicht, dass der Prophet so grausam ist.« Er verzog das Gesicht. »Ich hätte sie nie hierhergebracht, um das zu tun, wenn ich das vorher gewusst hätte … wir haben sie in die Hölle gebracht.«

Schwere Stille breitete sich über uns aus, und dann sagte Solomon: »Wir können nicht zulassen, dass er sie heiratet. Sie hat schon so viel durchgemacht. Wir können nicht zusehen, wie sie in aller Öffentlichkeit von ihm vergewaltigt wird. Am Ende wird der Prophet sie töten. Entweder er oder seine Gefährtin – auch über Schwester Sarai haben wir nichts als beängstigende Wahrheiten gehört. Über Dinge, die sie einigen der jüngeren Mädchen angetan hat, die der Prophet erweckt. Kranke Dinge. Sexuelle Dinge.« Er holte tief Luft. »Harmony wäre nie damit einverstanden, aber ich kann nicht damit leben, wenn ich nur dastehe und zusehe, wie sie für unsere Sache zugrunde gerichtet wird. Wir müssen uns einen anderen Weg einfallen lassen, um diesen Ort zu Fall zu bringen. Und wir müssen sie hier wegbringen, bevor sie uns entrissen und an den Propheten gebunden wird.«

»Wie?«, fragte ich. Ich stimmte absolut mit allem überein, was sie sagten.

»Wir haben vor, uns alle irgendwie hier rauszuretten, und dann gehen wir wohin auch immer es nötig ist, um die Beweise zu übergeben, die wir haben. Es ist nicht so viel, wie wir gern hätten, aber wir müssen bloß erreichen, dass Behörden von außerhalb kommen und ermitteln. Auf dem Gelände werden sich genügend Beweise finden, um alle wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und der Verbreitung von Kinderpornografie zu verhaften«, sagte Bruder Stephen. »Ehe ich mit Anfang zwanzig hierherkam, lebte ich in der Außenwelt. Es ist lange her, aber ich weiß noch, wie manche Dinge laufen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das wird nicht funktionieren.« Unvermittelt richteten sich alle Blicke auf mich. Ich holte tief Luft. »Wir sind mit dem KKK verbündet. Ich habe direkt dabei geholfen, den Deal zu machen. Wir haben – Judah hat – Verbindungen zur Regierung und zur Polizei. Die Gemeinde hat Beschützer, und zwar starken Schutz durch mächtige Verbündete. Man würde euch umbringen, ehe irgendwer, der helfen könnte, von diesem Ort erfährt. Zu viele Menschen haben zu viel zu verlieren. Ich wette alles Geld, das ich habe, dass diese Leute von den Pornovideos profitieren, von denen ihr mir erzählt habt. Die werden sich das nicht wegnehmen lassen.«

»Shit!«, schimpfte Solomon und rieb sich übers Gesicht. »Dann brauchen wir einen neuen Plan, und zwar schnell. Der Gedanke, dass der Bastard sie so nimmt, wie ich ihn mit anderen Frauen gesehen habe …«

Ich überlegte fieberhaft, welche Möglichkeiten es gab. Alle Wege führten mich allerdings immer nur an eine Stelle. An ein Ende. Es würde den Tod für mich bedeuten, doch es konnte den anderen helfen, die in diesem Leben gefangen waren … es konnte Harmony retten. Ich hob den Kopf. »Ich habe eine Idee. Sie ist riskant, und vielleicht funktioniert es gar nicht, aber es könnte unsere einzige Chance sein.«

Die anderen hörten mit großen, hoffnungsvollen Augen zu. Ich erklärte ihnen meinen Plan. Mit jedem Wort wurde ich zuversichtlicher, dass es funktionieren konnte, und wenn ich meinen Bruder so gut kannte, wie ich glaubte, würde er mir direkt in die Falle gehen. Judahs Stolz wäre sein größtes Verderben.

»Himmel«, sagte Bruder Stephen, als ich fertig war. Er wechselte Blicke mit Solomon und Samson, und am Ende mit Schwester Ruth. Sie war still geblieben, während ich gesprochen hatte, und hatte den Kopf gesenkt.

»Es ist unsere einzige Möglichkeit«, meinte Samson widerstrebend.

Bruder Stephen streckte die Hand aus. Ich nahm sie, und er sagte: »Dann sind wir uns einig.«

»Aber sagt Harmony nichts davon«, bat ich. »Ich will nicht, dass sie es weiß, falls es schiefgeht.«

Stephen ließ meine Hand los. »Ich wollte dich gerade um genau dasselbe bitten. Falls sie denkt, wir hätten den Glauben in sie verloren und würden sie von dieser Aufgabe abziehen, würde sie sich weigern. Sie hat ein ausgeprägtes Pflichtgefühl. Sie ist furchtlos wie niemand anders.«

Trotz allem, was schiefgehen konnte, und trotz allem, was ich eben entdeckt hatte, lächelte ich. Denn so war Harmony. Furchtlos und stark.

Ich lehnte mich zurück und atmete dreimal tief durch. Dabei spürte ich, wie die Müdigkeit, der ich schon vor Stunden hätte nachgeben sollen, meine Glieder schwächte. Ich zwang mich aufzustehen. »Ich gehe schlafen.« Trauer überkam mich, als ich an Harmony in meiner Zelle dachte. Mit jeder Sekunde, die ich mit ihr verbrachte, wollte ich mehr Zeit mit ihr. Ich kannte sie erst kurz, aber in dieser Zeit war ich mehr mein wahres Selbst gewesen als je zuvor im Leben. Als ich bei den Hangmen lebte, hatte ich einmal gelesen, dass das Wichtigste nicht die Anzahl der Minuten war, die man mit jemandem verbrachte, sondern der Wert der Wirklichkeit, der diesen Minuten innewohnte. Jeder Moment, den ich mit Harmony verbracht hatte, führte dazu, dass ein toter Teil von mir wiedergeboren wurde. Während ich ihre Hand durch den Spalt hindurch hielt und ihr in die Augen blickte, eroberte sie sich einen Platz in meiner Seele.

Es schmerzte mich, dass unsere Zeit nur begrenzt war. Mein Herz tat weh bei dem Gedanken, sie nicht an meiner Seite zu haben. Also beschloss ich, dass ich die Zeit, die mir noch blieb, in Ehren halten würde. Meine Füße bewegten sich, und meine schweren Glieder trugen mich dorthin, wo Harmony schlief. Bruder Stephen stellte sich mir in den Weg. Ich hob den Kopf, um zu sehen, was er wollte. »Cain«, sagte er kaum hörbar und griff mich am Oberarm. Sein Gesicht war aschgrau, und ich konnte sehen, dass ihn etwas quälte. »Bevor du gehst, ist da noch etwas, das du wissen solltest.«

Ich neigte den Kopf und bedeutete ihm, zu sprechen.

Und ich hörte zu.

Ich spitzte die Ohren und hörte mir an, was er zu sagen versäumt hatte … und die ganze Zeit stand ich da, reglos …

… völlig unter Schock.