10

Harmony

Fünf Tage später …

Die Gerüche der Vanille- und Lavendelöle, die über meine Haut gegossen wurden, bereiteten mir Übelkeit. Ich schlug die Augen nieder, als Sarai mich grob salbte und dabei die Finger in meine Haut grub. Ich spürte ihren stechenden Blick, mit dem sie meinen gesenkten Kopf musterte, aber ich blieb ruhig. Ich würde mich nicht von einem Mädchen ihres Alters einschüchtern lassen.

Eine andere Schwester, deren Namen ich nicht kannte, flocht mir zwei Strähnen vorn am Kopf zu Zöpfen und band sie dann aus meinem Gesicht nach hinten. Ich verzog keine Miene und mein Körper war reglos, aber das Herz schlug mir bis zum Hals.

Es war Angst, die nackte Angst.

Heute war der Tag meiner Hochzeit mit Prophet Cain. Trotz des langen Wartens auf diesen Moment konnte ich nicht glauben, dass ich wirklich hier war. Ich konnte nicht glauben, dass ich nun nach allem, was ich schon durch diese Religion erduldet hatte, in dieser Gemeinde war und mich freiwillig in diese Lage begab.

Aber es musste getan werden. Um unser aller Willen.

Ich atmete tief durch die Nase ein und langsam durch den Mund wieder aus, um die drohenden Tränen zurückzuhalten. Ganz von allein gingen meine Augen zu, und ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, wie diese Hochzeit sein würde.

Menschen. So viele Menschen, die nichts von meiner Existenz wussten, würden heute sehen, wie ich den Propheten heiratete. Einen Mann, dem ich nur einmal begegnet war … einen Mann, den ich, wie man mir gesagt hatte, bis zu unserer Hochzeit nicht wieder sehen würde, weil ich eine zu große Versuchung für ihn war. Sie würden sehen, wie er mich auf dem zeremoniellen Bett in Besitz nahm. Sie würden durch den Gazevorhang zusehen, wie ich gegen meinen Willen vom Propheten genommen wurde.

Und sie würden nichts dagegen unternehmen. Sie würden den Herrn für sein Erscheinen preisen.

Ekel tobte in mir, als ich an das Gesicht des Propheten dachte, aber dann wurde der Ekel zu Wärme, als ich meine Gedanken sofort auf Rider lenkte. Ich dachte nie an Rider als Prophet Cain. Prophet Cain war ein grausamer Mann, der seine Macht über unschuldige Menschen dazu nutzte, dass sie sich seinem Willen beugten. Rider war herzensgut und eine sanfte Seele, aber gequält. Ich unterdrückte mein Lächeln, als ich meine Gedanken zurück zu den letzten fünf Tagen schweifen ließ. Als ich am Morgen, nachdem Rider mir seine wahre Identität offenbart hatte, aufgewacht war, lag ich in seinen Armen. Ich, Harmony, hatte mich an seine Brust geschmiegt wie eine zufriedene Geliebte, und seine großen starken Arme hielten mich an seiner Seite, als habe er Angst, dass ich gehen würde.

Kein Mann hatte mich je so behandelt wie er. Er blickte mir in die Augen, als ich den Kopf hob, um ihm in die Augen zu sehen. Seine Hand streichelte langsam über mein Gesicht und hielt nur an, um mit der Fingerspitze über meine vom Küssen geschwollenen Lippen zu streichen. Jede Berührung von ihm war die Antwort auf ein Gebet, das Gebet meiner Kindheit, das ich nie hatte verblassen lassen – dass ich von jemandem begehrt werden würde … geliebt um ausschließlich meinetwillen. Der Wunsch, um den jede Verfluchte Tochter Gott anfleht, doch einer, der nie erhört wird.

Ich hatte den Atem angehalten, als ich die offenkundige Zuneigung in seinen dunklen Augen sah … aber ich sah auch den innerlichen Kampf, den er mit sich ausfocht. Das Lächeln erstarb auf meinen Lippen. Wenn es je einen Mann gab, der innerlich zerrissen war, dann war es Rider. Er war zwei Seiten derselben Münze, ein Mann, der ein Hindernis überwinden musste, das bloß sein Herz kannte. Jede Erwähnung seines Bruders machte den Schmerz in seinem Gesicht klar sichtbar. Jede Erwähnung der Sünden, die er, wie er sagte, begangen hatte, traf ihn wie ein körperlicher Schlag. Immer wenn seine Hand zufällig in meiner lag, drückte er sie ein wenig mehr. Ich hatte keine Ahnung, was er getan hatte, dass er sich selbst so sehr hasste. Ich konnte nicht glauben, dass dieser Mann fähig war, etwas Falsches oder Ungehöriges zu tun. Sein Herz war rein.

Sein Herz war wahrhaft.

Ich wollte ihm helfen, aber ich hatte keine Ahnung wie. Rider behielt so vieles für sich. Mir war bewusst, dass mein Wissen über ihn lediglich an der Oberfläche kratzte. Ich wollte, dass er sich mir mitteilte, doch so weit hatte er mich nicht gehen lassen, sondern mich stattdessen immer an einem Ort voll Wärme und Glück festgehalten. Er ließ nie einen Funken Finsternis in unsere kleine Oase.

Er hatte sie zu unserer ganz persönlichen Zuflucht gemacht.

Inzwischen wusste er, wer wir waren. Und er kannte den Grund, warum wir zurückgekommen waren. Er hatte nie viel darüber gesagt. Aber ich konnte sehen, dass das, wozu ich mich bereit erklärt hatte, ihm Schmerz bereitete.

Doch ich musste es tun. Wenn alles funktionierte, konnte ich vielleicht auch ihn retten.

Fünf Tage lang hatten wir uns geküsst. Federleichte, unschuldige Küsse zweier unerfahrener Menschen, die sich zu zeigen versuchten, wie kostbar sie einander waren. Ich war sicher, dass ich inzwischen süchtig nach diesen Küssen war. Kein Mann hatte je nur Küsse von mir gewollt und nicht mehr. Noch besser war, dass Rider mich nicht fürchtete. Er sah mich nicht als das personifizierte Böse. Diese Wahrheit sah ich jedes Mal, wenn er mich ansah. Dann verzog sich sein Mundwinkel immer zu einem zufriedenen Lächeln.

Rider sah mich. Mein wahres Ich … zumindest so weit, wie ich es ihn sehen ließ. Wir hatten beide Geheimnisse, eine Vergangenheit, die wir einander erst noch offenbaren mussten. Es hatte keinen Sinn, ihn mit meiner zu belasten, mit den Schrecken, die mich jede Nacht plagten. Denn dieses zeitweilige Stück Himmel, das wir in einer Steinzelle gefunden hatten, war genau das – zeitweilig.

Mein Herz war vor vielen Monaten unwiderruflich gebrochen worden, so sehr, dass ich beschlossen hatte, fast ein Einsiedlerleben in Puerto Rico zu führen. Aber seit ich mit Rider gesprochen hatte, hatte dieses Herz aufgehört, auseinanderzubrechen. Er hatte mir eine kurze Atempause verschafft, um Luft zu holen und mich nicht mehr einsam zu fühlen. Doch in dieser Woche war es langsam wieder zerbrochen, nur in größere Stücke. Denn genau wie die geliebten Menschen, die ich so vollständig verloren hatte, würde ich jetzt Rider verlieren. Als die Hochzeit stets näher rückte, war der Schmerz in meinem Herzen immer schlimmer geworden.

Und im Augenblick konnte ich kaum atmen.

Nach heute würde ich nicht mehr eine Zelle mit diesem Mann teilen … dem Mann, in den ich hoffnungslos verliebt war. Ich würde nicht mehr seine Berührung erfahren, den süßen Geschmack seiner Lippen, seine Güte. Von heute an würde ich mit einem Mann leben, der dasselbe Gesicht hatte wie Rider, aber nichts von seiner Güte.

In nur wenigen Minuten würde ich vor den Traualtar treten, um eine himmlische Verbindung zu einem Mann einzugehen, der alles darstellte, was ich verabscheute. Ein Wilder unter Grausamen. Ein Mann, der Schmerz zufügte.

Jemand zerrte aggressiv an meiner Hand und jagte mir einen glühenden Schmerz durch den Arm. Ich blinzelte und richtete den Blick auf den Schuldigen – Schwester Sarai. Ich sah die Frustration in ihren Zügen, als sie mich mit geschürzten Lippen finster ansah. »Hast du irgendetwas gehört, das ich gesagt habe?«, fuhr sie mich an. Ich schüttelte den Kopf. »Der Prophet hat mir Anweisungen gegeben, die ich dir weitersagen soll. Du musst während der Zeremonie den Blick gesenkt halten, und du darfst nicht sprechen, außer dann, wenn du dein Gelübde sprichst. Schau niemals ihm oder irgendwem sonst in die Augen. Ist das klar? Es ist unerlässlich, dass du diese Vereinigung absolut nach unserer Schrift durchführst. Die Menschen müssen die Bedeutung der Heirat der Verfluchten mit ihrem Propheten begreifen.«

Eine Welle aus Zorn erfasste mich bei Sarais schneidendem Tonfall, aber ich unterdrückte das Gefühl und nickte nur. Sarai ließ meinen Arm los. Eine Blumengirlande wurde mir auf den Kopf gesetzt, und dann bedeutete mir Sarai mit einem Winken, aufzustehen.

Ich gehorchte, und meine juwelenbesetzten Sandalen tappten leicht über den Steinboden. Von außen kam das blecherne Geräusch von Lautsprechern, die melodische Instrumentalmusik spielten. Aber meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das, was sich vor mir befand. Ein großer Spiegel hing an der Wand … ein großer Spiegel, in dem ich mich nun als Braut herausgeputzt betrachten konnte.

Ich starrte auf das ärmellose weiße Kleid, das sich an meinen Körper schmiegte. Das lange blonde Haar hing mir in losen Locken über den Rücken, und die beiden zu Zöpfen geflochtenen Strähnen waren an der Krone auf meinem Kopf befestigt, sodass mein unverhülltes Gesicht ganz zu sehen war. Ich hob die Hand und ließ die Finger über Wangen und Augen schweben.

Sarai neben mir rührte sich und schlug meine Hand weg. »Finger weg von deinem Gesicht«, befahl sie. »Sonst ruinierst du die Erscheinung, die wir dir verliehen haben.«

Dunkel gefärbte Wimpern wölbten sich wie lange Flügel über meine braunen Augen. Meine Wangen waren pink, als sei ich errötet, und meine Lippen waren tiefrosa geschminkt. Ich rieb sie aufeinander, und die gefärbte Creme schmeckte fruchtig auf meiner Zunge.

Auf meinem Kopf lag eine zarte Girlande aus frischen pastellfarbenen Blumen. Sarai drückte mir etwas in die Hände, und als ich nach unten blickte, sah ich, dass es ein kleines Sträußchen war, passend zu den Blumen auf meinem Kopf.

Ich konnte nicht aufhören zu zittern, als ich den Strauß umklammerte. Es passiert wirklich, dachte ich und starrte die geschminkte Fremde vor mir an. Ich erkannte nichts an dieser Frau wieder. Nichts an ihr fühlte sich wie mein wahres Ich an.

Plötzlich fühlte ich mich schwach. Jeglicher Hoffnung beraubt. Der Ruhe beraubt, die ich in Puerto Rico gefunden hatte, während meiner kurzen Atempause von diesem erstickenden Titel einer »Verfluchten« … beraubt des vorübergehenden Glücks, das ich in Riders Armen gefunden hatte. Rider, der geheimnisvolle, gebrochene Mann, der das gestohlen hatte, was von meinem zerschmetterten Herzen noch übrig war.

Ich gestattete meinen Gedanken, zu dem Mann zu wandern, der mir nie aus dem Sinn ging. Ich fragte mich, was er wohl in diesem Augenblick tat, und mir war zum Weinen zumute, als ich mich fragte, wer ihn nach seinen täglichen Züchtigungen von nun an pflegen und sich um ihn kümmern würde. Mein Herz machte einen Satz vor Trauer, als ich mich daran erinnerte, wie seine müden Augen mich beobachteten, wenn ich das Blut und den Schmutz auf seiner Haut abwusch. Als sei ich seine Erlöserin, als hätte ihm noch nie jemand so viel Zuneigung und Mitgefühl gezeigt … als habe er Angst, dass ich ihn verlassen würde, so wie es jeder in seinem Leben bisher getan hatte. Von heute an wäre er wieder allein. Ich konnte kaum atmen, als ich daran dachte, wie er Tag für Tag in dieser Zelle saß, einsam und niedergeschlagen.

Es brach mir das Herz.

Ich warf einen Blick auf mein mir fremdes Spiegelbild und spürte mit jedem Atemzug das Leben aus mir heraussickern. In einer besseren Welt würde ich zu einem Mann wie Rider gehören. Wir würden uns dafür entscheiden, einander in den Armen zu liegen. Ich hatte die Geschichten über die Außenwelt von Bruder Stephen und Schwester Ruth gehört, dass die Menschen dort frei waren und leben konnten, wie und mit wem auch immer sie wollten. Doch in meinem Leben hatte ich immer nur Schmerz und Leid erfahren. Und Verlust. So viel Verlust, dass ich mir nicht erlauben durfte, mich an jene zu erinnern, die ich bedingungslos geliebt und doch so tragisch verloren hatte.

Schon die Erinnerung verbrannte mich innerlich bei lebendigem Leib.

In diesen fünf vergangenen Tagen hatten Rider und ich kaum ein Wort miteinander gesprochen. Ich wusste, es war die Hochzeit, die seine Gedanken beherrschte. Und ganz offensichtlich hatte sie auch die Gedanken meiner Wächter, Solomon und Samson, beherrscht.

Als ich Rider heute Morgen verlassen hatte, um die Vorbereitungen für meine Hochzeit zu beginnen, hatte es keinen großen Abschied gegeben. Stattdessen hatten ungeweinte Tränen der Frustration in seinen Augen gestanden. Ich hatte ihn eng an mich gedrückt und mir seine Berührung eingeprägt. Wenn sein Zwilling über mich herfiel, wollte ich mir Riders Version des identischen Gesichts über mir vorstellen. Es würde die Situation erträglicher machen.

Als ich ging, hatte Rider mir wortlos einen sanften Kuss auf die Lippen gedrückt und mit dem Finger über meine Wange gestreichelt. Dann hatte er sich mit zu Fäusten geballten Händen zur Wand umgedreht, und ich war hinausgegangen.

Ich hatte ihn ganz allein zurückgelassen.

Plötzlich wurde mein Brautkleid von hinten an den Beinen hochgezerrt und mein nackter Unterleib entblößt. Instinktiv streckte ich die Arme aus, um denjenigen aufzuhalten, der mich berührte. Doch da wurden die mir von der Schwester, deren Namen ich nicht kannte, an den Seiten festgehalten. Sarai stellte sich zwischen mich und den Spiegel. Ohne den Blick von mir abzuwenden, streckte sie die Hand aus und fasste mir zwischen die Beine.

»Nein!«, protestierte ich. Doch schon spürte ich Sarais Finger, die eine kühle Flüssigkeit zwischen meinen Beinen verteilten. »Bitte«, flehte ich und wollte mich aus dem Griff der anderen Schwester befreien. Aber ich konnte mich nicht rühren. Ich wollte die Augen schließen. Als ich allerdings Sarais triumphierenden Blick sah, zwang ich mich, sie offen zu halten. Sie begegnete meiner Herausforderung, indem sie die Finger krümmte und die Flüssigkeit tiefer in mich einführte. Meine Nasenflügel bebten bei dem ungewollten Eindringen, aber ich atmete das Unbehagen weg.

Ich würde keine Schwäche zeigen.

Sarai führte den Mund an mein Ohr. »Das ist, damit du feucht bist und ihn im zeremoniellen Bett aufnehmen kannst. Er ist groß, und die Vereinigung muss nach Plan ablaufen. Nichts darf schiefgehen.« Ich kämpfte die Übelkeit nieder, die mir die Kehle hochstieg. Sarai zog die Hände weg und ließ die Innenseiten meiner Oberschenkel feucht zurück.

Die Tür ging auf und tauchte den Raum in Tageslicht. Ein Wärter stand in der Tür.

»Bewegung«, befahl er streng.

Ich gehorchte und ging an ihm vorbei zu einem weiteren Wärter, der draußen wartete. Sogar von hier, in den kleinen Quartieren neben dem Herrenhaus des Propheten, konnte ich die Aufregung unserer Leute in der Luft spüren. Sie würden zeremonielles Weiß tragen. Man forderte sie nur dann auf, zeremonielle weiße Gewänder zu tragen, wenn etwas wirklich Besonderes oder Wichtiges geschah. Doch ich war überzeugt, dass sie nie mit dem rechneten, was heute kommen würde.

Die Wärter nahmen mich zwischen sich und führten mich über einen Pfad zu der Stelle vor der Residenz des Propheten. Mit jedem Schritt schlug mein Herz schneller. Die vermeintlich fröhliche Musik, die durch die Lautsprecher drang, klang in meinen Ohren bloß unheilvoll. Meine Schritte stockten, als die Musik plötzlich abbrach und eine vertraute Stimme durch die Lautsprecher drang.

Der Wärter vorn blieb unvermittelt stehen und hob die Hand zu jemandem, den ich nicht sehen konnte. Mir wurde klar, dass wir vor dem Altar angekommen sein mussten. Meine Hände umklammerten die Blumenstängel meines Brautstraußes.

Der Prophet begann zu sprechen. »Mitglieder des Ordens. Ihr wurdet heute hier versammelt, um Zeuge eines Wunders zu werden. Einer Hoffnung, die wir verloren geglaubt hatten.« In den langen Pausen zwischen seinen Worten blieb die Gemeinde totenstill, während die Menschen an jedem Wort hingen, das der Prophet von sich gab. Seine Stimme jagte mir einen eiskalten Schauder über den Rücken, und ich atmete langsam ein und aus, um nicht die Fassung zu verlieren.

»Heute werdet ihr Zeuge eines erhörten Gebets werden. Als wir schon glaubten, dass eine Prophezeiung sich nicht erfüllen würde, hat Gott uns gezeigt, dass er sein Volk nie verlassen würde, und uns ein Geschenk gesandt … das Geschenk der Erlösung. Heute feiern wir dieses Geschenk!«

Mit einer Handbewegung befahl mir der Wärter, weiterzugehen, doch meine Beine fingen so sehr zu zittern an, dass ich nicht sicher war, ob ich laufen konnte. Sarai tauchte in meinem Augenwinkel auf und bedeutete mir mit einer Fingerbewegung, den Blick zu senken. Ich gehorchte.

Ich achtete darauf, gleichmäßig zu atmen, und ging weiter, bis der Pfad unter meinen Füßen zu grünem Gras wurde. Der Wärter legte mir die Hand an den Rücken und leitete mich so lange, bis ich wusste, dass ich der Versammlung gegenüberstand. Ein kollektives Aufkeuchen war in der Menge zu hören, und in diesem Moment war ich froh, dass ich die Anweisung hatte, den Blick gesenkt zu halten. Ich wäre nicht in der Lage, mich zu rühren, wenn ich meinen Leuten in die Augen sehen müsste … Leuten, die mich ebenso verabscheuten, wie sie glaubten, dass sie mich brauchten, um ihre sterblichen Seelen zu retten.

»Geh«, sagte der Wärter hinter mir leise, so leise, dass nur ich es hörte. »Der Prophet wartet vor dem Altar.«

Langsam ging ich auf den Altar zu. Die Menschen waren weiß gekleidet und saßen auf dem Boden. Aus den Augenwinkeln konnte ich ein paar Gesichter sehen. Die wenigen, die ich sah, blickten mir tatsächlich in die Augen, und ihnen blieb vor Schock der Mund offen stehen. »Eine Verfluchte«, flüsterten sie, und die Bestätigung ging wie ein Lauffeuer durch die Versammlung.

Ich hörte Menschen weinen und jubeln über die Erlösung, für die sie mich hielten. Noch schlimmer, ich hörte, wie sie den Propheten priesen, in Zungen redeten und vor Verzückung heulten.

Die Atmosphäre lud sich immer mehr auf, als ich mich dem Altar näherte. Ich blieb stehen und drehte mich zu Prophet Cain um. Er nahm meine Hand, und mir war, als müsse ich mich jeden Moment übergeben. Er war nicht sanft wie Rider, sondern hatte meine Hand in seiner arroganten Art aggressiv gepackt.

»Mach weiter«, fuhr er Bruder Luke an, die Hand des Propheten. Sein schroffer Tonfall ließ mich zusammenzucken, und ich gab mein Bestes, nicht zu zittern.

Die Zeremonie begann. Ich hörte zu, wie Bruder Luke aus der Schrift las und von der Prophezeiung der Verfluchten Schwestern sprach. Ich hörte zu, als er Prophet Davids Worte vorlas über die vom Teufel befleckte Seele einer Frau, die sich mit dem Propheten vereinigte, um all jene zu retten, die dem Weg des Ordens folgten. Viel anderes hörte ich nicht, denn die Menschen in ihrer Aufregung waren lauter geworden. Ich hörte Bruchstücke von Prophet Cains Antwort auf etwas, das Bruder Luke gefragt hatte. Dann zog der Prophet an meiner Hand, und mir war klar, dass ich an der Reihe war zu sprechen.

»Willst du, Harmony, Verfluchte Tochter der Eva, deinen Propheten und Erlöser zu deinem angetrauten Ehemann nehmen? Ihn zum König deines Herzens und deiner Seele werden lassen? Ihn als deinen Meister und spirituellen Anführer über dich herrschen lassen? Jedem seiner Befehle gehorchen und ihn willkommen heißen, um das Böse aus deiner befleckten Seele auszutreiben?«

»Ich will«, flüsterte ich und spürte, wie es mir vor Trauer schwer ums Herz wurde.

Die Menge brüllte auf, als Bruder Luke die Hände hob und rief: »Die Vereinigung der Verfluchten mit dem Propheten wurde besiegelt!«

Ich sah Prophet Cains Füße näher zu meinen kommen. Er zog mich enger an sich. Ich schrie auf, als mein Körper auf seinen prallte, und bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte Prophet Cain meinen Hinterkopf nach hinten gezogen, um meinen Mund an seinen zu heben. Ohne Warnung presste er die Lippen auf meine in einem groben, unnachgiebigen Kuss. Ich wimmerte, als seine Zunge sich in meinen Mund drängte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, die ihn instinktiv abwehren wollten. Aber dann ließ ich die Hände sinken und ließ zu, dass er meinen Mund in Besitz nahm. Dies war nur der Anfang dessen, was er sich ohne Erlaubnis nehmen würde.

Und ich hatte keine andere Wahl als zu gehorchen.

Ich hielt den Blick gesenkt, als der Prophet mich losließ und sich an die Menge wandte. »Ich werde nun mein Mädchen zum Hochzeitsbett führen und den langen und mühsamen Prozess beginnen, ihre Seele vom Bösen zu befreien. Den Teufel mit meiner Kraft aus ihrer Seele zu vertreiben.«

Die Menge schrie glückselig auf. Prophet Cain drehte uns weg von der Menge zu einer erhöhten Plattform. Ich riskierte einen Blick die Bühne hinauf, und mir drehte sich vor Beklommenheit der Magen um. In der Mitte stand eine große, hohe Matratze, gehüllt in einen Schleier aus hauchdünnen weißen Gazevorhängen.

Prophet Cain packte meine Hand fester und führte mich die Stufen hinauf zum Bett. Mit jedem Schritt wurde meine Angst größer. Als wir das Bett erreicht hatten, fürchtete ich, vor Angst ohnmächtig zu werden.

Der Prophet blieb stehen. Ich sah Bruder Lukes Füße vor uns. »Prophet«, sagte Bruder Luke, »das Bett zur Vereinigung ist bereit.«

»Danke, Bruder«, antwortete der Prophet und ließ meine Hand los, um die Vorhänge zu teilen. Ich blieb stehen und wartete auf Anweisung, und meine Beine zitterten so sehr, dass ich glaubte, ich würde mich nicht rühren können.

Ich schnappte nach Luft, als hinter mir jemand auftauchte und das Kleid von meinen Schultern riss. Es fiel zu meinen Füßen auf den Boden. Ich schloss vor Scham die Augen, als mein nackter Leib offen vor unserem Volk entblößt wurde. Die Erniedrigung ließ mich zittern, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Geh zu deinem Propheten«, flüsterte mir eine tiefe, strenge Stimme befehlend ins Ohr. Ich öffnete die Augen. Bruder Luke hielt die Vorhänge um das Bett auf. Der Prophet lag mitten darauf, immer noch vollständig bekleidet.

»Geh«, befahl Bruder Luke erneut, als ich mich nicht rührte. Mit bleischweren Füßen zwang ich mich zu gehen. Ich atmete nicht, als ich zum Bett ging. Als ich das Knie hob und neben dem Propheten auf das Bett kroch, war ich sicher, dass ich nie wieder atmen würde.

Wie die Schwestern mich heute Morgen angewiesen hatten, legte ich mich flach auf den Rücken und hielt den Blick gesenkt, um dem Propheten nicht in die Augen zu sehen. Ich legte die Hände auf meinen Bauch und war frustriert über mich selbst, als ich ihr heftiges Zittern nicht unterdrücken konnte.

Die Vorhänge um uns wurden zugezogen. Die Menge begann um Erlösung zu beten, und ihr Murmeln drang durch die Vorhänge. Ich schaute zu den Vorhängen und versuchte zu erkennen, wie durchsichtig sie wirklich waren. Durch den Stoff hindurch konnte ich Bruder Luke und die anderen Ältesten sehen, doch ihre Züge waren undeutlich.

Darin fand ich ein wenig Trost. Obwohl diese Vereinigung öffentlich stattfinden würde, würde man nur unsere Bewegungen sehen. Meine Tränen würden den Leuten nicht meine Angst verraten. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie mich brechen sahen.

Du musst das tun.

Blecherne Gebetsmusik drang aus den Lautsprechern um die Gemeinde herum, und mein Herz pochte im selben schnellen Takt. Ich nahm wahr, wie der Prophet seine Hose auszog, aber nicht das Hemd. Dann legte er sich wieder neben mich.

Ich begann zu weinen, als er sich über mich schob. Als ich seinen warmen Atem über mein Gesicht streifen fühlte, schloss ich die Augen. Ich erwartete, dass er etwas sagte. Ich rechnete damit, dass er grob und grausam war, daher war ich überrascht, als er mir vorsichtig eine Haarsträhne aus der Stirn schob.

Seine Hand legte sich auf meine auf meinem Bauch. Ich versteifte mich, als er seine Finger mit meinen verschränkte, und sog geschockt die Luft ein, als ich erkannte, dass seine Hand zitterte.

Ich erstarrte zu völliger Reglosigkeit und rang mit mir, ob ich die Augen öffnen sollte oder nicht. Ich zählte bis drei und blinzelte dann durch meine langen getuschten Wimpern … und direkt in die gütigsten dunklen Augen, die ich je gesehen hatte … ein Augenpaar, das ich unter allen anderen erkennen würde …

Er bewegte unsere verschränkten Hände an seine Lippen. Und da sah ich es. Ich sah, was seine unmerkliche Bewegung mir zeigte – die vielen Tattoos auf seiner Haut, die dämonischen Bilder, die unter den Ärmeln der Tunika hervorlugten. Mir ging das Herz auf und ich war total erleichtert, denn damit hätte ich nie im Leben gerechnet.

»Rider«, formte ich lautlos und stieß den Atem aus, den ich so fest angehalten hatte. Auch seine dunklen Augen schlossen sich erleichtert. Er drückte einen Kuss auf unsere verschränkten Finger und öffnete die Augen wieder.

Seine Angst vor diesem Moment war ein Spiegelbild meiner eigenen.

Rider starrte mir in die Augen, und wir beide spannten uns an, als die Gebete der Menge lauter wurden und uns drängten, die Vereinigung zu vollenden. Bruder Luke hüstelte neben dem Bett. »Prophet Cain? Ist alles in Ordnung?«

»Verschwinde von diesem Bett! Auf der Stelle!«, knurrte er. Ich bekam Gänsehaut, denn Rider klang genau wie sein Zwilling. Bruder Luke eilte ans andere Ende der Plattform. Aber ich sah, dass er von dort, wo er stehen geblieben war, zusah.

»Es tut mir so leid«, flüsterte Rider. Ich blickte ihm ins Gesicht und sah Bedauern und Kummer in jedem seiner schönen Züge.

»Wie?«, flüsterte ich zurück. »Ich verstehe das nicht. Wie kommt es, dass du hier bist?«

Riders Kopfschütteln sagte mir lautlos, dass jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt war, um Fragen zu stellen. Ich hatte diese Rolle der Versprochenen des Propheten viele Tage lang gespielt. Da konnte ich es auch noch ein wenig länger tun. Er schloss die Augen. Die Menge draußen wurde unruhig. Diskret bewegte ich die Hand auf seinem Brustkorb, und er öffnete die Augen.

Der Schmerz, der mir entgegenblickte, schnitt mir ins Herz. »Rider«, sagte ich fast unhörbar, »wir müssen es tun. Judah … er hätte nicht gezögert.«

Er zuckte zusammen. »Ich weiß. Aber …« Ein Schatten von Scharlachrot huschte über seine dunkle Haut.

»Was?«, fragte ich, drückte mich enger an ihn und wollte ihn drängen, sich direkt auf mich zu legen. Rider riss vor lauter Schock die Augen noch weiter auf, aber er schob sich über mich, sodass sein nackter Körper meinem begegnete. Seine Pupillen wurden größer, als Haut über Haut streifte.

Er sog die Luft ein, und ich hob meine Hand an seine Wange. »Rider …«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, fiel er mir ins Wort. Kummer drang in mein Herz, als ich diesen so eindrucksvollen Mann so verängstigt sah. Riders Gesicht wurde noch röter, aber dieses Mal vor Zorn. »Harmony«, flüsterte er heiser, »es tut mir so verdammt leid. Das hier sollte nicht passieren … nicht so.«

Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme ließ mich fast zerbrechen. Als ich sah, dass Riders Miene lebhaft vor Abscheu und Unsicherheit wurde, und der tiefe Widerstreit in ihm, mich hier und jetzt nehmen zu müssen, immer deutlicher wurde, wusste ich, dass ich die Führung übernehmen musste.

Ich musste ihn anleiten.

Langsam spreizte ich die Beine. Riders Körper auf meinem sank dazwischen. »Harmony«, flüsterte er nervös.

»Sch«, flüsterte ich beruhigend und nickte, »wir müssen es tun.«

Er wandte den Kopf ab. »Ich komme mir vor wie ein Vergewaltiger. Ich fühle mich, als sei ich hier, genau wie mein Bruder es gewesen wäre, und zwinge dich gegen deinen Willen. So bin ich doch gar nicht.«

Und da wusste ich es. Da wusste ich, dass er absolut in nichts so war wie sein Zwillingsbruder. Weil diese Vereinigung ihn so unglaublich hin und her riss. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, sich mir aufzuzwingen.

Das war genau der Grund, warum ich das wollte.

Warum ich es willkommen heißen würde. Ich hatte noch nie solche Güte kennengelernt.

»Ich will es«, platzte ich heraus. Rider erstarrte.

Er sah mich an. »Das kann nicht dein Ernst sein. Es ist falsch … es ist so was von falsch.«

Ich strich durch sein langes Haar und sagte: »Es ist nicht ideal, aber ich wehre mich nicht dagegen. Du … und ich … gemeinsam auf diese Weise … das ist kein Zwang. Niemals mit Zwang, sondern mit offenen Augen und willigem Herzen.«

»Harmony«, flüsterte Rider und beugte sich hinab, um meinen Mund mit einem Kuss zu erobern. Als sein Kuss mich einhüllte, schob ich meine Hand zwischen uns nach unten und ergriff seine Männlichkeit. Rider zuckte zusammen, als ich ihn nervös umfasste, doch ich hörte nicht auf. Die Menge würde bemerken, dass etwas nicht stimmte, wenn er nicht handelte … und wenn es auf dem Laken keinen Beweis unserer Vereinigung gab, nachdem das hier vorbei war.

Ich löste den Kuss und streifte mit den Lippen über seine. »Ich will das hier, Rider. Ich könnte dies nur mit dir wollen.«

»Harmony«, flüsterte er. Ich brachte seine Männlichkeit an die richtige Stelle und führte ihn in mich, die Beine hinten auf seine Oberschenkel gelegt, um ihn zu leiten. Und dieses Mal tat Rider das, worum ich ihn bat, und die Flüssigkeit, die Sarai in mich verteilt hatte, half ihm, leicht in mich einzudringen.

Ich biss die Zähne zusammen, als er mich ausfüllte, langsam, Zentimeter für Zentimeter, und mich weit dehnte. Meine Hände legten sich an seine Arme, als er mich so unglaublich ausfüllte. Ich öffnete die Augen und begegnete Riders Blick.

Seine Wangen waren gerötet, als er tiefer in mich drang, und sein Gesicht verriet, wie er sich fühlte – im Widerstreit, doch zugleich gefangen in unglaublicher Wonne. »Harmony«, flüsterte er und schob sich vollständig in mich. Rider erstarrte und legte den Kopf in den Nacken, um die Augen zu schließen und einfach nur zu atmen. Und ich war sprachlos. Schlicht sprachlos, weil er über mir war. Er hatte mir in die Augen gesehen. Seine Arme stützten sich schützend über meinen Kopf. Sein Blick war voller Zuneigung und hemmungslosem Verlangen. Es lag kein Hass darin. Und auch kein Stolz.

Das ließ mich fühlen … Es ließ mich etwas fühlen.

Bis dahin hatte ich nie etwas bei Vereinigungen gefühlt. Ich zwang mich dann immer, an etwas anderes zu denken und von einer Welt zu träumen, weit weg von dem gerade stattfindenden Akt. Doch genau hier, mit Rider, fühlte ich alles. Ich fühlte die warme Brise durch die Gazevorhänge wehen, fühlte Riders warme Haut über meine streifen, die mich vor Lust schaudern ließ. Aber vor allem fühlte ich jede Sekunde hiervon in meiner Seele. Ich war glücklich … ich fühlte mich frei.

»Harmony«, flüsterte Rider und schaute mich besorgt an, »alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete ich leise. »Mehr als in Ordnung.«

Meine Worte schienen etwas in seinem Blick zu besänftigen, und er begann sich zu bewegen, zog sich sachte zurück und drang wieder ein, und seine sanften Stöße fühlten sich anders an als alles, was ich je erfahren hatte.

Je schneller er sich bewegte, umso vorsichtiger wurde er. Riders Haut schimmerte vor Hitze, während er sich in mir bewegte. Und als er den Kopf senkte, um seine Stirn auf meine zu drücken, musste ich fast weinen.

Ich wusste nicht, dass eine Vereinigung so sein konnte. So rein und wahrhaft … so zärtlich. Mir stockte der Atem, als ein fremdartiges Gefühl in mir aufstieg. Ich öffnete die Augen, und Rider legte den Kopf in den Nacken.

»Rider.« Ich begegnete seinen wunderschönen Augen, die mich ansahen. »Rider«, wiederholte ich, als ich denselben ehrfürchtigen Ausdruck in seinem Gesicht sah, den ich in meinem eigenen wusste.

»Harmony«, flüsterte er, kehlig und heiser, und seine Hüften bewegten sich schneller. Mein Atem wurde schneller, so schnell wie seiner. Und dann, überraschend für mich, bog sich mein Rücken durch in einem Ansturm glühender Hitze, die durch meinen Leib pulsierte und mich von innen in die Höhe katapultierte. Ein lauter Aufschrei drang über meine Lippen, als ich spürte, wie ein strahlendes Licht mich zerspringen ließ, bloß um mich mit einem unglaublichen Gefühl von Wonne wieder zusammenzufügen.

Ich hielt mich an Rider fest und versuchte das strahlende Leuchten, das in mir explodierte, in mir einzuschließen. Dann öffnete ich die Augen und sah, wie Riders Halsmuskeln sich anspannten und dieselbe Lust, die ich fühlte, von seiner Miene abzulesen war. Doch anders als ich hatte Rider mich die ganze Zeit angesehen. Er blieb bei mir, tief in meinem Blick und meinem Herzen geborgen, als er seine Erlösung hinausschrie und mich mit seiner Wärme füllte.

Danach bewegten sich Riders Hüften sanft in mir weiter. Er keuchte in kurzen, angestrengten Zügen und wurde dann still, als wir aufhörten, uns zu bewegen. Beide waren wir schockiert über das, was eben geschehen war … über das unbeschreibliche Gefühl von Gnade, das wir beide gerade miteinander geteilt hatten.

»Harmony«, flüsterte Rider wieder, und mein Name klang wie ein Gebet, das aus seiner Seele drang. Er beugte sich nieder und küsste mich, vereinte unsere Lippen so sicher, wie unsere Seelen nun vereint waren.

Als wir uns voneinander lösten, begann die Menge zu jubeln und durchdrang damit den Kokon aus Wärme und Licht, in dem wir uns kurze Zeit befunden hatten. Es war wie ein kalter Schwall Wasser über den Kopf, der uns ins Hier und Jetzt zurückbrachte.

»Wir müssen gehen«, sagte Rider traurig. Und ich wusste, dass er, genau wie ich, wünschte, wir könnten die Zeit anhalten, das ungewollte Publikum auslöschen und genau hier bleiben. Mit vor Glück und Zufriedenheit fast übergehendem Herzen.

»Ich weiß«, antwortete ich widerstrebend und seufzte, als er sich aus mir zurückzog. Es war seltsam. Als Rider nicht mehr in mir war, war mir, als hätte ich auch einen Teil meiner Seele verloren.

Rider schlüpfte in seine Hose und stand auf. Ich sah zu, wie er sich wieder fing, und folgte ihm aus dem verhüllten Bett. Rider drückte meine Hand, als wir durch die Vorhänge schritten, wo mein nackter Körper unvermittelt für alle zur Schau gestellt war. Er schirmte mich so gut wie möglich ab, bevor er einem Wärter in der Nähe mit einem Fingerschnippen bedeutete, mir mein Gewand zu geben. Eilig streifte ich das Kleid über und wartete darauf, was als Nächstes käme.

Mein Gesicht wurde rot vor Scham, als Bruder Luke zum Bett ging und beim Zurückkommen das befleckte Laken hochhielt, damit die Menge es sehen konnte. Die Leute jubelten und streckten dem Propheten die Hände entgegen.

Die Prophezeiung war vollendet. Ich konnte die pulsierenden Wellen ihrer Freude spüren.

Rider hob die Hände und sah dabei haargenau aus wie der Prophet des Ordens. Die Menge wurde still. »Nun beginnen die vier Tage der Abgeschiedenheit für mich und meine neue Ehefrau. Nutzt diese Zeit, um über eure Sünden nachzudenken und für die Errettung eurer Seelen zu beten.« Die Leute sprangen jubelnd auf. »Eure Feierlichkeiten werden in der Westhalle beginnen. Geht und feiert eure Erlösung und Umarmung in der Liebe, die der Herr seinem auserwählten Volk gesandt hat!«

Ich hörte, wie die Menge sich eilig zerstreute, um die Feierlichkeiten zu beginnen. Rider wandte sich an Bruder Luke. »Ich bringe die Verfluchte ins Haus der Abgeschiedenheit. Niemand darf uns stören, bis die vier Tage vorüber sind, verstanden?«

»Ja, Prophet. Ich habe hier alles im Griff. Genieße du nun die Reinigung deiner neuen Braut.«

Rider nahm meine Hand und zerrte mich mit sich in die andere Richtung, weg von der Menge. Ich hielt den Blick gesenkt und gab mein Bestes, mit Riders raschen Schritten mitzuhalten. Das weiche Gras wich schon bald einem Pfad, und als ich einen Blick riskierte, sah ich das abgeschieden gelegene Hochzeitshaus vor uns.

Doch als wir es erreichten, führte Rider mich nicht wie erwartet hinein. Stattdessen lief er am Eingang vorbei und steuerte auf den umgebenden Wald zu. Ich runzelte verwirrt die Stirn, als der Boden unter uns zu rauer, trockener und von Zweigen bedeckter Erde wurde. Einige zerbrochene Zweige kratzten über meine nackten Füße, dort wo sie nicht von den Riemchensandalen bedeckt waren, doch Rider zog mich immer tiefer mit sich in den Wald, voll darauf konzentriert, wohin er mit mir wollte.

Als das Tageslicht über uns zu schwinden begann, wurde mir langsam unheimlich zumute.

Rider blickte nicht zurück, sondern drängte immer weiter. Schweißperlen standen mir auf der Stirn, als seine Schritte schneller wurden. Die feuchte Luft wurde immer dichter, je weiter wir liefen. Wir arbeiteten uns durch den Wald, bis so viel Zeit vergangen war, dass die Nacht hereinbrach. Ich schnappte nach Luft, denn so viel körperliche Anstrengung war ich nicht gewohnt.

Dann plötzlich schob Rider einen Ast aus dem Weg, und ein Zaun kam in Sicht. Er war aus Metall, doch der Teil vor uns war aufgeschnitten worden … weit genug, dass wir hindurchpassten. Rider schob das aufgeschnittene Blech zur Seite. Ich wankte, denn ich war so verwirrt und erschöpft, dass mein Kopf schmerzend pochte.

»Komm weiter, Baby«, drängte Rider und bedeutete mir, hindurchzuschlüpfen. Ich zögerte gerade so lange, dass er nach meinem Arm griff und mich hindurchgeleitete. Hinter uns schob Rider das Blech wieder an seinen Platz und griff dann nach meiner Hand. So schnell wie zuvor arbeiteten wir uns durch noch mehr Baumreihen, bis wir eine verlassene Straße erreichten … verlassen bis auf ein schwarzes Fahrzeug mit verdunkelten Fenstern.

Ich schnappte nach Luft. Was war da los? Wohin gingen wir? Rider drehte sich zu mir um. Er legte mir die Hände an die Oberarme und schob mich rückwärts, bis ich mit dem Rücken an das Fahrzeug gedrückt dastand. Seine Hände glitten von meinen Armen nach oben und umfassten meine Wangen.

»Rider«, flüsterte ich und rang nach Luft. Ich beugte mich vor, legte meine Hände auf seine, atmete seinen Duft ein und fühlte sein schnell klopfendes Herz an meinem. Er sah mich an, als sei ich seine Sonne, und in meinem Herzen fühlte ich, dass er die meine war.

»Wie?«, fragte ich leise. »Wie hast du … wie ist das überhaupt möglich? Ich bin ganz durcheinander. Ich sollte doch den Propheten heiraten! Ich musste, um unserer Sache zu helfen … was … was hast du getan?«

Er trat einen Schritt zurück und schob meine Frage beiseite. »Wir müssen los, Baby.«

Ich griff nach seinem Handgelenk. »Wohin? Wohin gehen wir? Ich muss wissen, was jetzt passiert!« Ich warf einen Blick zurück zur Gemeinde, und Angst rauschte durch meine Adern. »Meine Freunde. Meine Hüter … wir können sie nicht zurücklassen! Sie brauchen mich. Es war wichtig für sie, dass ich nahe an den Propheten herankomme!«

Rider blieb stehen und zog mich enger an sich. »Sie wissen Bescheid, Harmony. Sie haben mir geholfen, das alles durchzuziehen. Und jetzt ist es notwendig, dass du mit mir kommst, damit wir auch ihnen helfen können. Der Plan hat sich geändert. Wir haben es dir nur nicht gesagt, für den Fall, dass dieses Wissen dich in Gefahr bringt.«

Eine dichte Wolke vernebelte mir den Verstand. Wenn sie Rider geholfen hatten … »Man wird sie bestrafen!« Ich drückte mir die Hand auf den Mund. »Er wird sie töten. Er wird sie alle für ihren Verrat töten. Und wohin habt ihr deinen Bruder gebracht? Lebt er noch?«

Rider umfasste wieder mein Gesicht. Seine Miene war mitfühlend, aber entschlossen. »Er ist am Leben. Harmony, dieser Moment war der Grund, warum deine Freunde all die Jahre in Puerto Rico blieben, obwohl sie hätten fliehen können. Das war auch der Grund, warum du dich bereit erklärt hast, zurückzukommen. Wir haben diesen Plan in Gang gesetzt; er sieht bloß anders aus, als du dachtest.«

»Ich verstehe nicht«, antwortete ich und hielt Riders Handgelenke fester. »Ich musste ihn heiraten.«

»Sie – Bruder Stephen, Schwester Ruth, Solomon und Samson – konnten das nicht zulassen. Wir alle sahen, was diese Hochzeit dir antut. Es hat dich innerlich umgebracht. Niemand von uns konnte dabei zusehen, wie du dich selbst opferst. Mein Bruder … er hätte dir wehgetan. Und selbst wenn du es ertragen hättest. Ich hätte es nicht gekonnt. Wir hätten es nicht gekonnt.« Rider schloss die Augen. »Diesen Plan haben wir uns in der Nacht ausgedacht, als sie entdeckten, wer ich bin. Ich kann zu Leuten kommen, die uns helfen können. Denn wir schaffen das nicht allein. Wir müssen Hilfe holen … ohne dich dabei zu zugrunde zu richten.«

In seinen Augen sah ich, dass es ihm ebenso wenig gefiel, sie zurückzulassen wie mir. »Rider«, sagte ich heiser vor Tränen, die mir schon die Kehle zuschnürten, »wer kann uns denn aus diesen Schwierigkeiten heraushelfen? Die Behörden, von denen Bruder Stephen gesprochen hat?«

Riders Hände an meinen Wangen spannten sich ein wenig an. »Nein. Die Menschen, die Judah am meisten fürchtet.«

Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, wer das sein sollte. Doch dann gingen mir die Lehren des Propheten durch den Kopf. Seine Predigten durch die Lautsprecher an die ganze Gemeinde. »Die Männer des Teufels«, flüsterte ich, und Rider nickte einmal kurz. »Um uns vom Propheten zu befreien, müssen wir durch die Hölle gehen?«, fragte ich und versuchte den Mut aufzubringen, solchen Männern zu begegnen.

Rider starrte mich eine gefühlte Ewigkeit lang an. »Ich fürchte, in der Hölle haben wir schon gelebt, Baby.« Seine durchdringenden Worte raubten mir den Atem. »Wir müssen gehen, jetzt gleich«, sagte Rider und wollte sich umdrehen.

Doch da zog ich an seinem Handgelenk, bis er mich ansah. Er hatte die Stirn gerunzelt und blickte mich besorgt an. Ich trat näher, ein, zwei Schritte, bis ich direkt vor ihm stand. »Wir sind verheiratet«, flüsterte ich ehrfürchtig. Ich schaute hinab auf meine linke Hand in seiner, jeder von uns hatte am Ringfinger einen Goldring, die zusammenpassten. Ich strich mit dem Daumen über Riders Hand und sah ihm in die Augen. Er musterte mich mit funkelnden Augen. »In den Augen unserer Anhänger sind wir auf ewig Mann und Frau. Und wir sind himmlisch vereint. Du und ich …«

Rider sagte nichts. Ich sah zu, wie er schluckte und sein Adamsapfel dabei hüpfte. Mein Herz pochte schneller, als ich fürchtete, dass meine Gefühle – die berauschende Leichtigkeit des Glücks, die in meinem Herzen flatterte – nicht erwidert wurden. Dass es einfach nur zum Plan gehörte.

Schon wollte ich Rider meine Hand entziehen, als er mich wieder mit dem Rücken an das Fahrzeug drückte, und jetzt klopfte mein Herz ganz anders. Es lag an dem seltsamen Ausdruck in seinem eindringlichen Blick. Als würde ein Feuer in seinen dunklen Augen auflodern, ein brennender Hunger in ihren Tiefen.

Ich öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Doch Riders Hände legten sich an mein Gesicht, und er drückte den Mund auf meine Lippen. Ich war wie benommen, atemlos, als Riders Mund meinen eroberte – leidenschaftlich, verzweifelt und so voller Begehren, dass mir die Beine zitterten. Meine Hände wanderten an seinen Brustkorb, und ich wollte dieses neue Gefühl, so erobert zu werden, festhalten. Die Geste drängte Rider weiterzumachen. Seine Zunge spielte mit meiner, dominant und zugleich so unglaublich sanft. Mein Körper fühlte sich lebendig mit Licht und Feuer, so sehr, dass mir das Herz schmerzte und ich die Beine zusammenpressen musste, als ein inzwischen vertrautes Gefühl zwischen meinen Beinen aufstieg.

Schließlich zog sich Rider zurück und legte seine Stirn an meine, während wir nach Luft rangen. Unsere Atemzüge waren tief und hektisch. Als wir endlich dringend nötige Luft gefunden hatten, strich Rider mit dem Damen über meinen Ehering. »Ich will dich, Harmony. Im Moment kann ich gar nicht glauben, dass du meine Frau bist. Dass wir … dass du meine Erste warst. Dass ich dich auf diese Weise hatte …« Er legte den Kopf nach hinten, streifte mit seinen Lippen über meine und sagte: »So wunderschön und perfekt. Und mein. Wahrhaft mein, auf jede Weise.« Ich schloss die Augen, erleichtert, dass er mich auch wollte. »Aber ich verdiene dich nicht. Kein bisschen.«

Ich öffnete die Augen und wollte ihm widersprechen, ihm sagen, dass er mich mehr verdiente, als irgendwer anders es je könnte. Doch er ging schon zum Fahrzeug und öffnete die Tür. »Steig ein, Baby, wir müssen los.«

Ich fragte mich, warum er mich immer wieder »Baby« nannte. Ich hatte nie gehört, dass eine erwachsene Frau so genannt wurde, doch ich erkannte Zuneigung in seinem Tonfall.

Baby.

Ich vertraute darauf, dass Rider wusste, was er tat, also stieg ich ein, und Rider setzte sich auf den Fahrersitz. Er startete den Motor, ließ aber die Scheinwerfer aus. Wir saßen im Dunkeln. Rider atmete tief durch. Ich sah zu, wie er die Augen schloss und seine Lippen sich anzuspannen schienen. Etwas bereitete ihm Sorgen; er wirkte nervös, vielleicht sogar furchtsam. Es machte auch mir Angst.

Die Männer des Teufels.

Ich hatte keine Ahnung, wer sie waren. Doch dann dachte ich an die Bilder auf Riders Armen, und langsam ergab alles einen Sinn. Er kannte diese Männer, und zwar gut.

Ich nahm seine Hand. Rider drehte sich zu mir und schenkte mir ein Lächeln unter Tränen. Daraufhin seufzte er, denn er wusste bestimmt, dass ich seine Angst bemerkt hatte.

Rider hob meine Hand an seinen Mund und drückte einen züchtigen Kuss auf meine nach Vanille duftende Haut. Danach fuhr er auf die Straße, fort von dem Gefängnis, in dem wir viel zu lange gefangen gewesen waren. Ich ließ seine Hand nicht los, als wir über die dunklen gewundenen Straßen fuhren.

Ich ließ auch nicht los, als sich ein ungutes Gefühl in meinen Eingeweiden rührte. Als ich mich von Rider in die Höhle des Bösen führen ließ, sagte mir etwas in meinem Herzen, dass uns an ihren Toren nur Schmerz der schlimmsten Sorte erwarten würde.

Also hielt ich ihn weiter fest.

Ich gelobte, mich mit allem, was ich war, an meinem neuen Ehemann festzuhalten.

Ich gelobte, ihn nie mehr loszulassen.