11

Rider

In mir tobte eine Mischung aus Adrenalin und Grauen, als wir uns mit Vollgas von der Gemeinde entfernten. Ich hatte bloß ein Ziel vor Augen, einen Ort, an den ich Harmony ohne Zwischenfall bringen musste. Es war die einzige Möglichkeit. Ich betete nur zu wem auch immer, der über uns wachen mochte, dass ich es schaffte.

Sie musste dorthin. Nach allem, was sie hinter sich hatte … fuck. Mir schwirrte der Kopf. Ich hatte sie gerade erst geheiratet … war eben erst mit ihr zusammen gewesen. Meine Haut brannte. Es war das schönste Gefühl der Welt. Doch zugleich fühlte ich mich, als hätte ich sie hintergangen. Sie hatte sich zum ersten Mal in ihrem Leben jemandem hingegeben … und ich war ein Betrüger.

In meinen Augen war ich schlimmer als Judah.

Ich spürte Harmonys Blick auf mir, als ich mich unbehaglich auf meinem Sitz rührte. Ihre zierlichen Finger wanden sich ein klein wenig fester um meine, jedes Mal, wenn sie ganz richtig wahrnahm, dass ich am Zusammenbrechen war. Aber ich wollte nicht zusammenbrechen. Ich musste mich zusammenreißen und das durchziehen. Bruder Stephen, Schwester Ruth, Solomon und Samson verließen sich auf mich.

Über eine Stunde verging in Schweigen. Die Außenbezirke von Austin kamen in Sicht. Ich gestattete mir einen Blick auf Harmony. Sie hielt den Rücken kerzengerade und sah mit riesengroßen Augen, wie die Außenwelt an uns vorbeiflog. Sie hatte meine Hand fest umklammert, während sie alles zu erfassen versuchte.

Ich erinnerte mich an das Gefühl. Ich war achtzehn, als Scholar Abraham zum ersten Mal mit mir in die Außenwelt gegangen war, um mich darauf vorzubereiten, die Hangmen zu infiltrieren. Ich erinnerte mich daran, von der Außenwelt derart überwältigt gewesen zu sein, dass ich zurücklaufen und mich in der Gemeinde verstecken wollte. Aber nach und nach hatte ich mich an die Lichter und die Hektik der Städte gewöhnt … an die geistlosen Sünder, für die ich sie damals gehalten hatte.

Tatsächlich hatte ich mich nur aus dem einen Grund so gut an die Außenwelt angepasst, weil ich wusste, dass sie ganz und gar verdammt war. Ich war ein Heiliger unter Sündern, das hatte ich mit hundertprozentiger Überzeugung geglaubt. Als ich aus dem Fenster starrte, war auch mir, als würde ich die Welt mit anderen Augen sehen. Dieses Mal war ich der verkorkste Sünder. Dieses Mal war ich der Böse, der eine Religion auf Basis von Pädophilie und Vergewaltigung gefördert hatte.

Noch nie war ich so angewidert von mir selbst gewesen.

So angewidert von allem, was ich im Namen eines Gottes getan hatte, der mich ganz sicher nicht mehr mit Wohlwollen betrachtete. Je mehr ich darüber nachdachte, umso sicherer war ich, dass etwas anderes mich in der Hand hatte. Ich konnte das Höllenfeuer praktisch schon an meinen Fußsohlen lecken fühlen.

»Es ist so hell, dass ich kaum alles erfassen kann«, sagte Harmony ehrfürchtig. »Bruder Stephen hat mir das so oft erklärt und mir alles über die Außenwelt erzählt, aber es zu hören und es zu sehen, sind zwei ganz unterschiedliche Dinge.« Mir wurde es schwer ums Herz. In ihrem Alter sollte sie das alles nicht zum ersten Mal im Leben sehen. Ich musterte ihr Gesicht und dachte an alles, was Bruder Stephen mir erzählt hatte in der Nacht, als ich entdeckt hatte, wer sie alle waren.

Zuerst hatte ich es nicht glauben können. Mein Verstand hatte das nicht zugelassen. Aber ich wusste, es war die Wahrheit. Nun, als ich sie genau musterte, konnte ich es sehen. Sie war so wunderschön, das Schönste, was ich je gesehen hatte.

Es ergab total Sinn.

Ich ließ Harmonys Hand los und griff ins Handschuhfach. Wie Solomon versprochen hatte, befand sich darin genug Geld, um zu tun, was nötig war, und mehr, falls wir fliehen mussten. Die Abtrünnigen aus Puerto Rico hatten an alles gedacht. Sie waren nach Neu Zion gekommen, gerüstet und bereit zu siegen.

Harmony musterte mich schweigend. Ich sah mich prüfend um und erkannte, wo wir uns befanden. Nicht allzu weit von unserem Ziel entfernt. Ich fuhr noch drei Meilen weiter, bog dann rechts ab und atmete tief aus, als ich den Drugstore vor uns sah. Ich fuhr auf den Parkplatz und machte den Motor aus. Harmonys Blick ruhte immer noch auf mir. In ihrer Miene sah ich Verwirrung und Furcht. Ich nahm ihre Hand und zog sie an mich. »Ich muss hier etwas holen, okay?«

Sie musterte den Laden. »Soll ich hier warten?«, fragte sie nervös. Ich nickte und nahm ein Bündel Geld aus dem Handschuhfach.

»Ich sperre die Tür ab«, sagte ich. Ich musste mich von ihrem verängstigten Gesicht abwenden und aussteigen. Der Zorn, der in den letzten Wochen so ungehindert durch meine Adern geflossen war, kam jetzt mit aller Gewalt zurück. Zu sehen, wie Harmony sich zwang, tapfer zu sein, brachte mich schier um den Verstand.

Meine Gefühle für sie brachten mich echt hart zu Fall.

Ich erinnerte mich an die Liste mit den Dingen, die Bruder Stephen mir zu besorgen aufgetragen hatte, als ich durch den ruhigen Laden eilte und die seltsamen Blicke des Personals ignorierte. Ich wusste, die weiße Tunika würde für einiges Stirnrunzeln sorgen. Doch das war eben Austin. Hier war alles und jeder seltsam.

So schnell wie möglich verließ ich den Laden wieder und warf die Sachen hinten auf die Ladefläche. Dann stieg ich wieder ein und beugte mich zu Harmony. Sie war kreideweiß im Gesicht und hatte die Hände im Schoß zu Fäusten geballt. Doch ihr Blick war nach wie vor entschlossen.

Ich wusste, an ihrer Einstellung würde sich nichts ändern. Sie schien in jeder Situation eine Kämpferin zu sein.

»Alles okay, Baby?« Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und danach einen auf ihre Lippen.

»Ja.« Sie nickte. Ihre Stärke ließ mich lächeln. Sie hob die Hand, streichelte über meine Wange und ließ den Blick über mich schweifen. »In diesem Licht kann ich dich erst richtig sehen. Dein Haar, deine braunen Augen … dein gepflegter Bart …« Ihre Wimpern legten sich auf ihre Wangen, als sie den Blick senkte. Dann sah sie wieder auf, starrte mich scheu an und fuhr fort: »Du siehst so gut aus.« Ich antwortete nicht. Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Sie haben sogar die tieferen Blutergüsse überdeckt.« Ich rieb den Puder weg, den Schwester Ruth auf meine Haut aufgetragen hatte.

»Bei mir haben die Schwestern dasselbe gemacht«, sagte sie. »Ich bin nicht an so etwas auf meinem Gesicht gewöhnt.« Harmony war von Natur aus schon absolut bezaubernd, aber nun mit dem Make-up, das ihre schon makellosen Züge verschönerte, war ich hin und weg. Keine Frage, warum Judah sie als Verfluchte gefangen gesetzt hatte.

Sie war bei Weitem die schönste Verfluchte, die ich je gesehen hatte. Sogar noch schöner als Mae. Mae war wunderschön, doch jetzt wusste ich, dass meine Gefühle für sie nicht einmal annähernd an das reichten, was ich für Harmony empfand. Mit Harmony war es mehr … alles. Ich konnte es nicht einmal erklären. Sie gab mir einfach das Gefühl, gefestigt zu sein. Geerdet. Und das, obwohl ich so lange verloren gewesen war.

Wir fuhren noch einige Meilen weiter, bis ich das heruntergekommene Motel links sah. Ich fuhr hin, stieg aus und ging zur Beifahrertür, öffnete sie und nahm Harmonys Hand. Ihre Finger in meiner Hand zitterten, als sie ausstieg. Sie blickte sich um. »Sind wir da? Ist das der Ort, wo wir hinwollen, um Hilfe zu holen?«

Ich schüttelte den Kopf und griff nach der Tüte aus dem Laden auf der Ladefläche. »Vorher noch ein Zwischenhalt, dann geht es weiter.«

Harmony nickte und versuchte zu lächeln. Sie war so verdammt tapfer. Und sie vertraute mir. Sie vertraute mir vollkommen. Fuck, ich hatte doch nichts getan, um das zu verdienen. Schon bald würde auch sie mich total hassen.

Ich wusste, ich lebte mit geborgter Zeit.

Ich hielt Harmonys Hand, als wir zum Empfang des Motels gingen. Als der pickelgesichtige Junge am Empfangstresen nicht aufhörte, Harmony anzustarren, wollte ich ihm am liebsten eine verpassen. Besitzanspruch überkam mich und brachte mein Blut in Wallung. Er hatte Glück, dass ich es eilig hatte, denn sonst hätte er seine Zähne zum Abendessen schlucken können. Ich nahm ihm die Schlüssel aus der Hand und führte Harmony hinaus zum Zimmer.

Es war ein Drecksloch, aber wir waren nicht zum Schlafen hier. Ich schloss die Tür hinter uns und machte eine Lampe an. Harmony schnappte nach Luft, als die schäbigen Möbel sichtbar wurden. Ich wollte ihr gerade sagen, dass wir höchstens eine Stunde hierbleiben mussten, als sie sagte: »Das ist ein wunderschönes Zimmer.« Harmony wandte sich mit funkelnden Augen zu mir. »Hierher hast du mich gebracht, Rider? In ein Zimmer mit einem Bett und einem Badezimmer?«

Sie ging zum Bett und drückte die Hand auf die Matratze, bevor sie sich daraufsetzte. Dann hob sie das Kinn und ihr Lächeln strahlte noch heller als die Lampe neben mir. »Es ist so weich«, sagte sie glücklich, und ein leises Kichern gluckerte aus ihrer Kehle. »Und es hat Laken.«

Ich stand da wie ein stummer Idiot und sah ihr zu, meiner Frau, die da über einem beschissenen Bett und zu steifen Laken ins Schwärmen geriet. Und da wurde mir erst richtig klar, was sie wirklich ihr Leben lang durch die Hand meiner Familie, durch meine Hand, durchgemacht hatte.

Wir hatten ihr jede Form von Freude geraubt, sogar etwas geradezu Selbstverständliches wie ein verdammtes Bett. Sie hatte nichts gehabt. Nichts als Hass und Vorurteile, die ihr entgegengeschleudert wurden. Vergewaltigt, misshandelt … und die grundlegendsten Menschenrechte verweigert.

Ich verdiente den Tod. Wir alle, die verantwortlich dafür waren, dass das alles für sie normal war, hatten den verdammten Tod verdient.

»Rider?« Ich blinzelte den roten Nebel weg, der vor meinen Augen aufgestiegen war. Harmony lächelte immer noch. Dieses Lächeln musste sie behalten. Und bis die Nacht vorbei war, würde ich dafür sorgen, dass dieses Lächeln nie mehr aus ihrem schönen Gesicht verschwand.

»Komm«, bat ich sie mit erstickter Stimme. Ich ging in das winzige Badezimmer und leerte den Inhalt der Tüte auf den verblichenen weißen Tresen. Harmony stand wie eine Statue in der Tür und verfolgte jede Bewegung von mir. Ihr Blick fiel auf die Haarfarbe auf dem Tresen.

»Wir müssen dein Aussehen verändern«, sagte ich und hob die Schachtel auf. »Damit mein Bruder und die Wächterjünger dich nicht erkennen, wenn sie kommen und nach dir suchen.«

Harmony musterte mich lange, bevor sie langsam nickte und dann zaghaft ins Badezimmer kam. Ich nahm ihr die Blumengirlande vom Kopf und löste die beiden Zöpfe, die ihr Haar aus dem Gesicht hielten. Die Strähnen fielen in lockeren Wellen um ihr Gesicht.

Harmonys Lächeln war nicht zurückgekehrt, als wir die Farbe in ihr langes blondes Haar einarbeiteten. Sie stand still da und starrte in den Spiegel, während ich die Farbe auftrug, aber ihr argwöhnischer Blick ließ mich nicht aus den Augen. Während die Farbe ihr helles Haar zu einem mitternachtsdunklen Schwarz machte, stand ich wie gebannt da und sah zu, wie sich ihre Erscheinung veränderte.

Danach ging Harmony unter die Dusche, um sowohl die Überreste unserer Vereinigung als auch der Farbe abzuwaschen. Dann zog sie sich an und ich trocknete ihr Haar. Als die letzte Strähne nicht mehr feucht war, stand ich hinter ihr und schluckte, zu lange, um die Minuten zu zählen.

Schließlich riss ich mich aus meiner Benommenheit und drehte sie an den Schultern herum. »Schau hoch, Baby.« Harmony ließ die Schultern hängen, und mein Mund wurde trocken, als ich den Finger erst an das eine, dann das andere Auge hob und ihre Kontaktlinsen abnahm.

Ich schaute meine Frau an und taumelte fassungslos rückwärts. Dann zwang ich mich, so etwas wie meine Fassung wiederzugewinnen, und ging erneut zu ihr, während sie noch vollkommen reglos dastand. Ich sah die ungeweinten Tränen in ihren Augen schimmern.

»Bruder Stephen hat dir erzählt … von mir …?«, flüsterte sie. Es war nicht wirklich eine Frage, sondern eine Feststellung. Eine geschockte Erkenntnis, dass ich alles über sie wusste.

Ich nahm ihre Hand, hob sie und wischte mit einem feuchten Waschtuch das Make-up von ihrem Handgelenk …

Ein Tattoo. Ein Tattoo, das ich zuvor erst drei Mal gesehen hatte, mit der Versnummer einer Passage der Heiligen Schrift: »Der Verzagten aber und Ungläubigen und Greulichen und Totschläger und Hurer und Zauberer und Abgöttischen und aller Lügner, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der andere Tod.«

»Offenbarung 21.8«, sagte Harmony vorsichtig. Ich hob ihr Handgelenk an den Mund und drückte einen Kuss auf das Tattoo. Dann schlang ich die Arme um sie, drückte sie an mich und hielt sie geborgen in meinen Armen.

»Es tut mir leid«, sagte ich heiser. »Es tut mir wahnsinnig leid, dass du so ein Leben hattest.« Harmony fing zu weinen an, aber nur kurz. Danach löste sie sich von mir und wischte sich über die Augen. Ich musste sie einfach anstarren. Mein Herz schlug und blutete zugleich für sie. Sie war jetzt sogar noch schöner, allerdings nicht so, wie ich gedacht hatte. Sie war schlicht eine noch schönere Harmony. Niemand sonst. Ich konnte sie mit niemandem vergleichen. Für mich gab es keinen Vergleich. So schwer es auch zu glauben war.

Harmony rang um Fassung, und ich sagte: »Du bist der stärkste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Was du durchgemacht und überlebt hast … was du zu tun bereit warst, um die Menschen in der Gemeinde zu retten …«

Harmony gab ein kurzes, freudloses Lachen von sich. »Das ist nicht wahr. Ich musste stark sein, weil sich andere auf mich verließen. Die Menschen, die ich liebte, blickten zu mir als die Starke auf. Doch innerlich« – Harmony hob die Hand und drückte sie aufs Herz –, »hier drin brach ich zusammen wie jeder andere auch. Ich habe es nur vor der Welt verborgen. Ich wollte nicht, dass die grausamen Männer, die uns wehtaten, sich von meinen Tränen angespornt fühlten. Stärke ist ein Schutzschild, den bloß Vertrauen senken kann.«

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag, doch das Funkeln in ihren Augen war das, was mich wirklich fertigmachte, denn es verriet mir, dass sie mir vertraute. Fuck … gerade mir.

Ich ging zu ihr, ließ die Hand auf ihr nun schwarzes Haar sinken und blickte in ihre bezaubernden Augen. Ich war verloren in ihrer Schönheit, aber wir mussten hier weg. Es war Zeit für Harmony, ihren Frieden zu finden … selbst wenn das für mich den Beginn eines höllischen Krieges bedeutete.

Ich nahm ihre Hand und fragte: »Bist du bereit, Baby?«

»Ja«, sagte sie und stahl mir dann das letzte Bruchstück meines Herzens, als sie nervös hinzufügte: »Baby.« Ich lächelte, als ich den Kosenamen hörte, und sie errötete.

Ich geleitete Harmony hinaus zum Wagen. Wir hatten noch etwa zwanzig Meilen vor uns.

Und so hielt ich wieder Harmonys Hand und lächelte in dem Wissen, dass ihre zerbrochene Seele bald wieder heil sein würde.

Ein kleiner Akt der Wiedergutmachung in meinem total verkorksten Leben.

Ich wusste nicht, was ich empfinden würde, wenn ich den Ort erreichte, den ich einmal mein Zuhause genannt hatte. Ich rechnete damit, nervös zu sein – verdammt, ich erwartete, dass ich totale Angst vor dem Unausweichlichen hätte … doch seltsamerweise fühlte ich mich bloß wie betäubt. Weder raste mein Herzschlag noch jagte mein Puls. Ich war einfach nur ruhig, denn ich wusste, dass es richtig war, Harmony hierherzubringen.

Sie hatte es verdient.

Als ich den Wagen um die letzte Biegung steuerte, die mich vor ihre Tore bringen würde, sah ich die flackernden Lichter des Quartiers.

Harmony rutschte auf ihrem Sitz. Ich spürte, dass sie mich eingehend und argwöhnisch musterte, aber ich hielt den Blick stur geradeaus. Ich machte mir nicht die Mühe zu blinken, als ich nach links abbog und den Wagen ausrollen ließ. Ich musterte das Quartier. Seit ich zum letzten Mal hier gewesen war, war ein Haufen Sicherheitskram angebracht worden. Die Tore waren nicht mehr aus Gitterstäben, sondern aus massivem Eisen. Die Mauern waren höher, stärker und dicker. Aber noch neuer waren die hochgezogenen Wachtürme, die die einzige Straße rein und raus überblickten.

Das Ding war eine regelrechte Festung. Uneinnehmbar. Unmöglich da reinzukommen – und noch wichtiger: zu entfliehen.

Eine Bewegung in einem der Türme fiel mir ins Auge, und ich sah einen schwarz gekleideten Typen, der zu mir herunterstarrte. Die Fenster des Wagens waren verdunkelt, und in diesem Augenblick war ich dankbar dafür. Niemand konnte hineinschauen, was ja auch der Plan war.

Der Typ im Turm hatte eine Knarre in der Hand und musterte unseren Wagen gründlich, doch ich konnte nicht sehen, welcher Bruder es war. Harmony hatte vor Angst die Augen weit aufgerissen. »Bleib hier, okay?«, bat ich.

Sie schluckte und warf einen langen Blick auf die schwarzen Eisentore vor der Frontscheibe. »Rider … ich habe Angst. Etwas in meinem Herzen sagt mir, dass das eine schlechte Idee ist.«

Ich beugte mich über die Konsole, legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihre Lippen an meine. Ich küsste sie sanft, liebevoll und so lange wie nur möglich. Mir war klar, dass dies wahrscheinlich das letzte Mal war, dass ich sie so spüren, so bei ihr sein konnte … einen Moment wie diesen mit ihr haben konnte. Harmony schmolz an meinen Lippen dahin, und ich fühlte mich so verdammt lebendig. Vor ihr war ich tot gewesen.

Ich drückte meine Stirn an ihre und schloss die Augen. Ich wollte mich nicht vom Fleck rühren, und ich hätte alles gegeben, um genau so, genau hier, im Wagen zu bleiben, für den Rest meines erbärmlichen Lebens. Aber es war Zeit, mich meinen ehemaligen Brüdern zu stellen.

Es war Zeit, für all den Mist, den ich verbrochen hatte, zu bezahlen.

Es war Zeit für Harmony, frei zu sein … von mir und den Menschen, die sie gefangen gehalten hatten.

Laute Stimmen draußen durchdrangen die Stille im Wagen. Es war so weit. »Bleib hier, bis ich dich rufe. Komm nicht vorher raus … bitte«, bat ich drängend. Ohne einen Blick zurück öffnete ich die Tür und stieg aus.

Mit erhobenen Händen ging ich vor den Wagen. Ein Licht nach dem anderen ging hinter den Mauern des Quartiers an, um meine Anwesenheit zu offenbaren. Ich zuckte zusammen, als ich mich so in Licht getaucht sah.

»Ach du Scheiße.«

Die Stimme erkannte ich, und mir rutschte das Herz in die Hose, als ich meinen ehemals besten Freund sah. Mein Bruder auf der Straße, der einzige wahre Freund, den ich je in diesem Club gehabt hatte.

Smiler.

Ich trat zur Seite, aus einem direkten Lichtstrahl heraus, sodass ich aufschauen und sein Gesicht deutlich sehen konnte. Als ich seinem Blick begegnete, sah ich ein Aufblitzen reiner Trauer über sein Gesicht huschen. »Smiler«, rief ich so laut, dass er es hören konnte. Meine Stimme schien ihn aus seiner Trance zu reißen, und seine Miene wandelte sich zu einer Maske aus hellem Zorn.

Smiler beugte sich über das Geländer des Turms und rief über das Gelände: »Holt den Präs. Sofort!« Dann drehte er sich wieder zu mir um. »Kommando zurück! Holt alle! Holt jeden einzelnen Bruder hier raus! Wir haben hier ein verdammt riesiges Problem!«

»Es gibt kein Problem!«, widersprach ich ruhig. Smiler drehte mir ruckartig den Kopf zu. Er richtete die Waffe auf meinen Kopf und blickte dann prüfend auf die Straße hinter sich hinaus. »Was zur Hölle soll das werden, Mann? Habt ihr Arschlöcher dem Club nicht schon genug angetan? Kommen da noch mehr Sektenfreaks hinter dir? Wollt ihr noch mal die Mädchen entführen wie ein Haufen verzweifelter Scheißkerle?«

Die Bösartigkeit in seiner Stimme war schneidend, aber ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nur ich bin hier. Und ich bin nicht hier, um Schwierigkeiten zu machen.«

Smiler schnaubte, tänzelte dann herum und reckte dabei ständig den Hals zur Kurve, um Ausschau nach mehr von meinen Leuten zu halten … meinen ehemaligen Leuten.

Polternde Schritte auf Asphalt donnerten hinter den Eisentoren heran. »Was ist los, zur Hölle?«, rief eine Stimme. Ich war mir nicht ganz sicher, aber es klang wie Ky.

Ach du Scheiße.

Ich schloss einen Moment lang die Augen, und die vergessene Angst kam mit voller Kraft zurück und löschte die Ruhe aus, die ich auf der Fahrt hierher begrüßt hatte.

»Das verdammte Jüngste Gericht!«, rief Smiler zurück. »Macht das Tor auf!« Mein Herz begann zu hämmern, als es langsam aufging.

Ich wollte tief einatmen, aber die Luft war zu feucht und stickig. Entweder das, oder meine verdammte Lunge wollte nicht. Schweiß lief mir über den Nacken. Mit wachsamen Augen sah ich zu, wie die Schatten vieler Füße ungeduldig hinter dem aufgehenden Tor tanzten. Ich hob die Hände noch höher, während es weit genug aufging, um meine ehemaligen Brüder hindurchzulassen.

Von den Bäumen um uns herum war das Klicken von Waffen zu hören, die entsichert wurden. Und dann, wie eine perfekt organisierte und erbarmungslose Flut, erschienen die Hangmen, wie eine vereinte Front.

Vor mir blieben sie wie angewurzelt stehen.

Mein Blick glitt über jeden Einzelnen meiner ehemaligen Brüder. Jeder von ihnen starrte mich mit einem Ausdruck totalen Schocks an, auf den sehr schnell reiner Hass folgte. Ky brach als Erster das Schweigen. »Was zum Teufel macht der hier?«, zischte er. Seine blauen Augen durchbohrten mich, und er wollte auf mich losgehen, aber Styx packte ihn am Kragen seiner Kutte und zerrte ihn zurück.

»Was soll das?«, schimpfte Ky und schlug Styx’ Arm von seinem Nacken. Einer der Brüder scherte aus und fing an, mit der Waffe im Anschlag die Straße abzusuchen. AK, der ehemalige Scharfschütze, der nach Gefahren in der Nähe suchte.

»Ich bringe den Scheißkerl um!« Ein vertraut kehliges, schneidendes Brüllen drang durch die Nacht, und bevor ich wusste, wie mir geschah, lag ich rücklings auf dem Boden. Zwei Fäuste prasselten wie verdammte Vorschlaghämmer auf mich ein, und mir wurde verschwommen vor Augen. »Du wolltest sie mir wegnehmen, du verdammter schwanzlutschender Wichser! Du und dein Kinderschänder von Bruder!«

Hände legten sich um meinen Hals und drückten zu wie ein Schraubstock. Mir blieb noch genug Zeit, aufzublicken und Flames dunkle Augen zu sehen. Ich wehrte mich nicht. Es hatte keinen Sinn.

Plötzlich wurde Flame von mir runtergeschubst, und ich hörte sein markerschütterndes Brüllen, als er wieder auf mich losgehen wollte. »Flame, Bruder. Komm runter.« Ich musste Viking nicht sehen, um die laute Stimme hinter seinem besten Freund zu erkennen.

Ich kam taumelnd auf die Beine und hielt wieder die Hände hoch. Ich sah Tank und Bull, die ihre Waffen auf mich gerichtet hatten. Daneben ein riesiger Kerl, den ich nicht kannte – voll mit Neonazi-Tattoos – und der mich finster anstarrte. Seine Waffe zielte direkt auf meinen Kopf. Dann noch zwei Mitglieder, die ich nicht kannte, ein Bruder mit strahlend blauen Augen und neben ihm ein Blonder mit Stetson auf dem Kopf. Beide musterten mich, als sei ich der Leibhaftige persönlich.

Schließlich fiel mein Blick auf Styx, und ich war überzeugt, wenn Blicke töten könnten, läge ich schon längst erledigt auf dem Boden. Seine Augen zuckten, und er hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass sein Kinn tatsächlich vor Anstrengung bebte. Aber er ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Und als sein VP dieses Mal ausscherte und auf mich zustürmte, hielt er ihn nicht auf. Der Wichser grinste nur. Kys harte Faust rammte sich in meinen Bauch und trieb mir die Luft aus den Lungen. Er trat einen Schritt zurück, das Gesicht rot vor brennendem Zorn. Ich zwang mich, mich aufzurichten, und sah, dass der sonst so entspannte Bruder echt beschissen aussah. Er sah blass aus, und das scherzhafte und sorglose Funkeln in seinen Augen war verschwunden. Stattdessen stand darin nur noch der finstere Blick eines verdammten eiskalten Killers.

Ky fletschte die Zähne und sah aus, als wollte er etwas sagen. Aber nichts kam aus seinem Mund. Er strahlte solche Wut aus, dass ihm Tränen in die Augen traten. Und da wusste ich Bescheid. Ich wusste, dass es etwas mit Delilah zu tun hatte.

Es brach mir das Herz. Denn wir hatten sie verschleppt. Und mein Bruder … er hatte sie zugrunde gerichtet. Ich hatte die Vergewaltigung vielleicht nicht befohlen, die Folter … aber ich hatte sie geschehen lassen. Ich war genauso schuldig wie alle anderen.

Ich senkte die Arme und atmete lang gezogen aus. Jetzt würde er mich umbringen. Ich sah das Versprechen in seinem Gesicht.

Wie der Blitz packte Ky mich an den Haaren und trat mir dann von hinten gegen die Beine. Ich fiel auf die Knie, und Ky drückte mir ein Messer an die Kehle. Grob zog er meinen Kopf nach hinten und legte es an meine entblößte Haut.

Ich schloss die Augen.

Die Klinge bewegte sich langsam über meine Haut. Ich hörte einen Bruder rufen: »Ky! Wage es ja nicht, ihn zu töten! Wir müssen wissen, wieso zum Teufel er hier ist! Mach ihn fertig, okay, aber mach ihn ja nicht alle!«

Dann hörte ich die Wagentür aufgehen, und ein lautes »NEIN!« übertönte den Tumult …

… Harmony.

»Harmony!«, rief ich und versuchte mich in ihre Richtung zu drehen. Kys Klinge über meiner Kehle hielt inne, aber seine Hand in meinem Haar hielt mich fest. »Harmony!«, krächzte ich noch einmal.

»Was in aller Welt …?«, hörte ich einen der Brüder sagen und schloss die Augen.

»Ach du Scheiße! Die sieht ja genauso aus wie …«, war eine andere Stimme zu vernehmen, die aber mitten im Satz verstummte.

Ich spürte, wie Ky den Kopf drehte und dann erstarrte. »Was zur Hölle …?« Er ließ das Messer sinken und stieß mich mit der Stahlspitze seines Stiefels zu Boden. Als ich aufprallte, sah ich ein Aufblitzen von Weiß, das sich vor mir bewegte.

Sie wollte mich schützen.

Harmony stand da, Angesicht zu Angesicht mit den Brüdern, die Arme ausgebreitet, als wolle sie verhindern, dass sie mich packten. »Fasst ihn nicht an!«, rief sie drohend. Ich schluckte gegen die Rührung an, die in meinem Herzen aufstieg und mir die Brust zuschnürte.

Ich kam auf die Beine und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen, und da sah ich, wie sehr sie mit den Nerven am Ende war. Sie warf mir einen Blick zu, und ihre von Natur eisblauen Augen fixierten sich auf mich. Ich bewegte einen Finger an ihre Wange und sagte: »Es ist okay.«

Harmony war blass geworden. Sie schaute mich an, als sei ich verrückt. »Sie haben dir wehgetan«, sagte sie. Um uns herrschte Totenstille. Es war mir egal.

»Ich habe es verdient«, antwortete ich. Ich wusste, dass die Hangmen das wohl alle gehört hatten, aber das war mir egal. Inzwischen war mir alles egal.

Ich nahm Harmonys Hand, hob sie an meine Lippen und küsste ihre weiche Haut. Tränen der Trauer und Verwirrung traten in ihre Augen. Ich ließ unsere verschränkten Hände wieder sinken und blickte nach vorn.

Ich sah Styx direkt in die Augen und sah seine Fassungslosigkeit. Viking schaute Styx an. »Präs, wieso sieht die Hure von Prophet Vollpfosten aus wie …«

Styx hob die Hände und feuerte in Zeichensprache los: »Schafft Mae und die Schwestern her, und zwar sofort!«

Bull drehte sich um und schlüpfte durchs Tor. Totenstille, während ich meine ehemaligen Brüder anstarrte. Sie starrten finster zurück. Anspannung lag in der Luft und machte das Atmen fast unmöglich.

Harmonys Hand in meiner begann zu zittern. Ich wusste, dass mir nur noch ein paar Minuten mit ihr blieben, also ignorierte ich die starrenden Brüder und drehte mich zu der Frau, die mein Leben verändert … mich aus der Einsamkeit gerettet … die mir das Geschenk ihrer selbst gemacht hatte. Die mir die einzigen wenigen kostbaren Wochen des Glücks geschenkt hatte, die ich je hatte.

Harmony blickte blinzelnd zu mir auf. Ihre langen Wimpern streiften über ihre Wangen, und mir wurde beklommen zumute. Ich beugte mich vor und versuchte zu lächeln.

»Harmony.« Ich holte tief Luft. »Danke«, sagte ich dann. »Danke, dass du mir gezeigt hast, wer ich wirklich bin.« Ich schüttelte den Kopf und lachte freudlos. »Oder zumindest, wer ich hätte sein können, wenn nicht alles so beschissen gelaufen wäre.«

»Rider«, flüsterte sie traurig, und eine Träne lief ihr über die Wange. Es brach mir das Herz. Niemand hatte je solche Gefühle für mich gehegt, und niemand würde es je wieder tun. Ich würde nie vergessen, was das für ein Gefühl war. Was Zuneigung und Vertrauen mit der Seele eines Menschen machen konnten.

Ich hörte eilige Schritte aus dem Quartier näher kommen. In dem Wissen, dass meine Zeit um war, beugte ich mich zu Harmony und küsste sie. Als unsere Lippen sich trafen, unsere Version eines Gebets, genoss ich ihr süßes Aroma auf meiner Zunge und prägte mir genau ein, wie sie duftete, sich anfühlte und schmeckte.

»Ich werde nie vergessen, welche Gefühle du in mir geweckt hast.« Ich drückte ihre Hand. »Wie diese Berührung meine Hoffnung neu entfacht hat, als ich nichts mehr hatte, woran ich mich festhalten konnte.« Mit der Fingerspitze fuhr ich über ihre Unterlippe. »Wie diese Lippen mein Herz höherschlagen ließen, als ich überzeugt war, dass es nie wieder schlagen könnte.«

»Rider …«, flüsterte Harmony, aber ich unterbrach sie.

»Danke … danke so viele Male dafür, dass du mir klargemacht hast, wie es ist, eine Zeit lang normal zu sein. Bis du kamst, wusste ich nicht, dass ich mein ganzes Leben lang mit Scheuklappen gelebt habe. Du …« Ich holte tief Luft. »Du hast das alles für mich verändert. Du hast mich die Wahrheit erkennen lassen. Auch wenn es zu spät war, bin ich froh, dass ich sie erkannt habe. Man sollte dem Tod sehenden Auges und mit offenem Herzen entgegengehen.«

Panik breitete sich in ihrem Gesicht aus. Doch da sah ich Bull mit drei Frauen durch die Tore kommen, trat beiseite und stellte mich den Frauen der Hangmen. Harmony legte mir die Arme um die Taille und vergrub den Kopf an meiner Brust. Sie hielt mich so fest, dass ich sie fast nicht hörte, als sie fragte: »Wieso habe ich das Gefühl, dass du mir Lebewohl sagst?«

Ich zuckte zusammen und versuchte die Trauer, die mich überwältigen wollte, niederzukämpfen. Ich riss mich so weit zusammen, dass ich antworten konnte: »Ich lasse dich frei.«

Während Harmony sich noch fester an mich klammerte, blickte ich auf und sah, dass Mae nach Styx’ Hand griff. »Was ist los, Styx?«, fragte sie. Sie klang sanft und verwirrt … und dann sah sie mich.

Als ihr Blick auf mich fiel, drückte sie sich die Hand auf den Mund. »Rider«, flüsterte sie, und mir brach von Neuem das Herz. Mae hatte mich immer Rider genannt, selbst dann, wenn ich keine Spur des Mannes zeigte, den sie zu kennen glaubte. Sie hatte nie den Glauben an mich verloren.

Mir wurde klar, was für eine gute Freundin sie für mich gewesen war. Sie war meine Freundin, nur meine Freundin, und ich hatte das alles versaut für eine Prophezeiung, die so real war wie der Weihnachtsmann.

Ich sah Delilah in Kys Armen an. Er hielt sie aufrecht, und sie sah aus, als hätte sie Schmerzen. Hielt sich bloß mühsam aufrecht. Ihr Gesicht war ausdruckslos, als sie mich musterte … ich wusste, welchen Mann sie an meiner Stelle wohl sah. Mein Blick ging weiter zu Maddie, die in Flames Armen dastand. Sie klammerte sich an ihn, und Flames dunkle Augen schworen mir einen Tod, der eines Verräters der Hangmen würdig war. Ich nickte dem Psychobruder zu. Er würde seine Chance bald bekommen.

Dann schloss ich die Augen und genoss noch einige wenige Momente einfach das Gefühl, Harmony in meinen Armen zu halten. Schließlich schob ich sie sanft von mir. Sie sah mich verwirrt und forschend an. »Du bist nicht länger allein, Baby«, sagte ich.

Ihre schwarzen Augenbrauen verzogen sich zu einem liebenswert verwirrten Stirnrunzeln. Langsam drehte ich Harmony zu den Verfluchten Schwestern um und spürte, wie sie sich anspannte, als alle Blicke sich auf sie richteten. Ich beobachtete Mae, Lilah und Maddie, als sie die Frau in meinen Armen allmählich erkannten.

Über Harmonys Lippen kam ein langes, ungläubiges Aufkeuchen. »Nein …«, flüsterte sie. »Nicht möglich …« Ich sah, wie sich Maes Pupillen weiteten. Lilah und Maddie waren anscheinend ebenfalls schockiert, denn sie standen eine gefühlte Ewigkeit lang mit vor lauter Schock offen stehendem Mund da.

Harmony taumelte rückwärts an meine Brust, und zugleich löste sich Maddie aus Flames schützenden Armen und flüsterte vorsichtig: »Bella?«

Harmony drehte ruckartig den Kopf zu der jüngsten Verfluchten Schwester, und ein schmerzerfüllter Aufschrei drang über ihre Lippen. »Maddie?«, flüsterte sie. »Meine kleine … Maddie?«

Maddies gequälter Aufschrei kam zugleich mit dem von Harmony, und sie lief los. Harmony wartete nicht länger als zwei Schritte ihrer kleinen Schwester, bis sie ihr entgegeneilte. Als sie sich trafen, im Niemandsland zwischen mir und den Hangmen vor den Toren, fielen sie einander in die Arme und sanken auf die Knie. Schweren Herzens sah ich zu, wie Harmony ihre Schwester so fest hielt, dass ich glaubte, sie würde sie nie wieder loslassen.

Maddies langes dunkles Haar hatte genau denselben Farbton wie das von Harmony. Ich sah, dass Flame hin und her zu tigern anfing, als er die beiden beobachtete, und die Hände an den Kopf drückte, als könne er so viele Emotionen nicht ertragen.

Eine Bewegung fiel mir ins Auge: Lilah kam langsam auf ihre beiden Schwestern zu, und Tränen strömten über ihr vernarbtes Gesicht. Sie hielt den Arm auf den Bauch gedrückt, und ihre Bewegungen wirkten angestrengt. Und sogar von da, wo ich stand, konnte ich sehen, dass ihre Hände zitterten. Ihre Miene war fassungslos. Harmony löste sich vorsichtig aus Maddies Armen und stand auf. Auch Maddie stand auf, ohne von Harmonys Seite zu weichen, und sie starrte auf zu ihrer älteren Schwester, als sei sie der auferstandene Christus.

»Lilah …«, flüsterte Harmony. Ihr standen Tränen in den Augen. »Lilah … was ist mit dir geschehen?« Die Schuld nagte an mir. Ich spürte zwei Augen, die sich in mich bohrten. Als ich aufblickte, sah ich Ky mit zusammengebissenen Zähnen, der mich mit Blicken förmlich abstach. Seine Botschaft war laut und deutlich: Ich war verantwortlich für die Entstellung und den Schmerz seiner Frau. Verantwortlich für das, was auch immer sie gerade durchmachte.

Ich war vollkommen seiner Meinung.

»Bella.« Lilah weinte und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Mädchen. Sie antwortete nicht auf Harmonys Frage, sondern erwiderte vorsichtig ihre Umarmung.

»Sch«, tröstete Harmony sie und hielt sie fest. Ich sah, wie sie aus Schmerz die Augen zudrückte – aus Schmerz darüber, was ihre Schwester in ihrer Abwesenheit durchgestanden haben musste –, und Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Du hast mir gefehlt, Bella. So sehr, dass ich kaum atmen konnte«, weinte Lilah an Harmonys Schulter. »Aber wie … ich verstehe das nicht … du bist gestorben … ich kann nicht …?«

Ein lauter, gequälter Aufschrei kam aus der Menge. Mae. Harmony drückte Lilah einen Kuss auf die Wange und löste sich aus ihrer Umarmung. Dann sah sie Mae an. Ich blickte zwischen Harmony und Mae hin und her. Sie konnten fast als Zwillinge durchgehen. Und doch sah ich sie kurioserweise nicht als gleich an. Sie hatten dieselbe Größe, denselben Körperbau, dunkles Haar und eisblaue Augen … und doch war da in Harmony ein Funke, den Mae in meinem Herzen nicht besaß. Ein Funke, der mir sagte, dass sie mein war, auf eine Weise, wie es Mae nie gewesen war.

Und auch nie hätte sein sollen.

Mae weinte heftiger, als Harmony langsam auf sie zukam. Mae hatte mir einmal von ihrer Schwester Bella und der besonderen Bindung, die sie geteilt hatten, erzählt. Sie liebte alle ihre Schwestern, aber ich hatte immer gewusst, dass die Bindung zwischen Bella und Mae eine ganz besondere gewesen war. Selbst jetzt konnte ich es sehen, an der Art, wie sie einander ansahen.

Mae hatte sich an Styx geschmiegt, und der Präs hielt seine schwangere Verlobte aufrecht. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und beobachtete die Szene mit einem absolut fassungslosen Ausdruck im Gesicht.

Harmony blieb wie angewurzelt stehen.

»Mae«, sagte sie.

»Du warst tot«, flüsterte Mae und trat einen Schritt auf ihre Schwester zu. »Du warst tot … ich war bei dir, als du gestorben bist.« Maes Gesicht verzog sich vor Schmerz. »Ich hielt deine Hand, als sie reglos und kalt wurde. Ich spürte, wie deine Finger zu zittern aufhörten und sich nicht mehr bewegten …«

»Ich weiß«, flüsterte Harmony.

»Du hast mir gesagt, dass ich weglaufen soll. Du hast gesagt, ich solle weglaufen und nie zurückblicken.« Maes Blick wurde gequält. »Also habe ich es getan … ich bin weggelaufen … aber … aber … aber ich habe dich dort zurückgelassen, am Leben und ganz allein?« Sie schüttelte den Kopf und schluckte die Tränen hinunter. »Bella, ich hätte dich doch nie zurückgelassen … wenn ich gewusst hätte … hätte ich nur gewusst …«

Maes Knie gaben nach, und sie sank zu Boden. Styx wollte zu ihr hin, um sie aufzufangen, aber Harmony war schneller und kniete sich zu ihrer Schwester auf den Boden. »Mae, gib dir nicht die Schuld.« Harmony hielt Maes Kopf in den Armen, und Mae weinte und weinte – laut und bitterlich.

Als sie sich wieder beruhigt hatte, hob sie den Kopf und sah Harmony forschend ins Gesicht. »Du hast dich nicht verändert.« Mae lächelte und streichelte über Harmonys Wange. »Immer noch so wunderschön. Die Schönste von allen.«

»Mae, es tut mir so leid«, schluchzte Harmony. »Ich dachte … man hat mir gesagt, dass ihr alle tot seid. Ich dachte, ich hätte euch alle verloren.«

Mae streckte die Hände nach Lilah und Maddie aus. Die beiden Schwestern kamen heran und sanken ebenfalls zu Boden. Sie umarmten einander und bildeten einen undurchdringlichen Kreis, die Köpfe gesenkt, als seien sie tief im Gebet. Mir wurde es schwer ums Herz, als ich in diesem Moment sah, was für ein Leben sie alle in der alten Gemeinde gehabt haben mussten. Sie hatten nur einander als Unterstützung gehabt. Bloß die Liebe der anderen Schwestern gekannt, denn niemand sonst hatte sie akzeptiert.

Harmony hob den Kopf. »Man hat mir gesagt, ihr wärt alle tot.« Sie schüttelte den Kopf. »So lange habe ich geglaubt, dass ich niemanden mehr auf der Welt habe. Dass ich allein bin.« Dann sah sie mich an – und lächelte. »Bis ich Rider begegnet bin.«

Ihr liebevolles Lächeln durchstieß das schützende Eis, das ich um mein Herz gebildet hatte, als wir hier ankamen. Ich hatte mich gezwungen, innerlich auf Distanz zu ihr zu gehen, um mein Herz vor dem Zerspringen zu schützen. Denn ich wusste, dass das passieren würde.

Und dann war es so weit.

»Ihr wollt mich doch wohl verarschen!«

Harmony zuckte zusammen. Ich hob den Blick und sah, wie Ky den Kopf schüttelte und sich frustriert das lange Haar aus dem Gesicht strich. Er deutete auf seine Frau. »Willst du wissen, wieso Li Narben im Gesicht hat? Dann frag mal das Sadistenschwein, das dich hergebracht hat.« Harmony wurde blass. »Willst du wissen, wieso ich und meine Frau – deine Schwester – vielleicht nie Kinder haben können? Wieso Li kaum laufen kann wegen der Operation, die den Mist beheben soll? Dann frag mal den verfluchten Bastard von Vergewaltiger, der dich hergebracht hat.« Harmonys Blick fiel auf Lilah, die beschämt den Kopf gesenkt hatte. »Frag deinen verdorbenen Scheißkerl von Typen danach, wie er Mae entführt hat und dazu zwingen wollte, ihn zu heiraten. Frag ihn danach, wie er Li verschleppt und gebilligt hat, dass sein Dreckskerl von Bruder und seine schwanzlosen Kumpane sie verbrennen wollten und immer wieder vergewaltigt haben. Frag ihn nach seiner irren Besessenheit von Mae, und jetzt taucht er hier auf mit dir, ihrem verdammten Spiegelbild! Und wie …«

»Ky! Es reicht!«, rief Lilah und stand mühsam auf. Sie zuckte zusammen und atmete zischend aus, als sie sich aufrichtete. Aber sie schluckte ihren Schmerz hinunter, als sie sah, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Sie wandte sich ihrem Ehemann zu. »Hör auf. Wir haben gerade erst unsere Schwester zurückbekommen. Ein Wunder.« Sie schüttelte den Kopf. »Also … hör auf.« Sie wirkte erschöpft.

Ich fühlte mich genau wie das Stück Scheiße, für das Ky mich hielt.

Harmony kam langsam zu mir. Ihre Unterlippe zitterte, und ihre mit Tränen gefüllten Augen suchten meinen Blick. »Rider?«, flüsterte sie. Ich senkte den Kopf. Ich schämte mich. Schämte mich in Grund und Boden.

Dann holte ich tief Luft, blickte in ihre wunderschönen eisblauen Augen und sagte: »Es ist alles wahr. Alles, was sie sagen … habe ich getan. Ich habe das alles getan.«

Harmonys Gesicht verzog sich gequält, und sie schüttelte den Kopf. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Nein, das glaube ich nicht. Du würdest so etwas Böses nie tun. Der Mann, den ich kennengelernt habe, würde das nie tun. Er ist gütig und hat ein großes Herz … er hat mich zurück zu meinen Schwestern gebracht. Er hat mich vor einer ungewollten Heirat gerettet. Sich gegen sein eigen Fleisch und Blut gewandt für das größere Wohl … für mein Glück, das Glück einer Frau, die er erst seit Kurzem kennt.«

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Denn ich wollte so unbedingt der Mann sein, für den sie mich hielt. Ich wollte alles ganz genau erklären und ihr sagen, warum das alles geschehen war – und wie es geschehen war. Aber ich wusste, es gab keine Entschuldigung für das, was nicht nur ihren Schwestern hier angetan worden war, sondern viel zu vielen mehr, um sie alle zu zählen. Eingeschlossen die Hangmen selbst. Ich hatte das alles zugelassen. Ich war der Prophet, und ich hatte nicht verhindert, dass Dinge geschahen in meinem Namen, wenn auch ohne mein Wissen. Ich war ein verdammt erbärmliches Exemplar eines Anführers – hatte den Kopf in den Sand gesteckt, wenn es hart auf hart kam.

Ich hatte einem wahnsinnigen Möchtegerngott die Führung überlassen. Diese Schuld lag bei mir. Ich war so schuldig wie die Sünde. Vielleicht nicht direkt, aber in meinen Augen machte es das nur noch schlimmer.

»Rider«, drängte Harmony mich zu antworten, die Hände verzweifelt verschränkt an die Brust gedrückt wie zum Gebet.

»Ich habe es getan«, platzte ich wieder heraus, diesmal nachdrücklicher. Ich hörte die Überzeugung laut und deutlich in meiner Stimme. Meine Wahrheit war nicht zu überhören.

»Nein«, widersprach Harmony und schüttelte wieder den Kopf. Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle, und sie trat einen Schritt vorwärts. Ihre Hand legte sich auf meine Brust, und ich musste den Kopf wegdrehen, als ich den Ehering an ihrem Finger sah, das Symbol meines Versprechens an sie, das mir im schroffen Licht der Sicherheitsleuchten entgegenschimmerte. Das war schlimmer als alles, was Ky mir antun konnte. Dieser Ring verspottete mich, verhöhnte mich mit etwas, von dem ich mir so sehr wünschte, ich hätte es gewinnen können – eine Liebe ohne Scham oder Konsequenzen. Und eine Frau, die ich ohne Schuldgefühle lieben konnte. »Du hast einen sehr schlechten Menschen geheiratet, Harmony …«

»Bella«, unterbrach sie mich heiser. Ich schloss kurz die Augen, unfähig, den zunehmenden Schmerz und das Gefühl von Verrat in ihrem Tonfall zu ertragen. »Mein wahrer Name ist Bella.«

Es brach mir das Herz. »Bella«, sagte ich heiser. Ich öffnete die Augen. »Du hast den Propheten geheiratet, den wahren Propheten. Einen, der genauso schuldig und verdorben war wie die Alternative, vor der du die meiste Angst hattest.«

»Rider …«

»Cain.« Der Name fühlte sich wie Essig auf meiner Zunge an, aber ich zwang mich, zu beenden, was ich sagen wollte. »Ich bin Cain, egal wie sehr wir so getan haben, dass ich es nicht sei. Ich habe Böses getan, Unentschuldbares … Wir haben von Judah gesprochen, als sei er der einzige Schuldige im Orden. Als sei ich so gar nicht wie er … aber ich bin genauso. Wir sind aus demselben Stoff gemacht, haben dasselbe Blut und dieselbe Seele. Das Böse, das in ihm lebt, fließt auch durch meine Adern. Wir haben nur so getan, als sei es anders.« Ich starrte Harmony in die Augen. »Du musst loslassen, Baby. Du hast deine Schwestern wieder. Du bist frei. Ich bin nicht der Mann, für den du mich gehalten hast. Und ich kann niemals der sein, den du verdienst.« Mir blutete das Herz, als ich ihr den Todesstoß versetzte und ihr jegliche Hoffnung nahm. »Du hast mein wahres Ich nie gekannt. Ich bin das Böse in der Verkleidung des Guten. Ich bin deiner Zuneigung nicht würdig. Du musst mich gehen lassen.«

Bella sagte nichts, sondern betrachtete mich bloß, als sei ich ein Fremder. Ky packte mich am Kragen und zerrte mich durch die Tore. Jemand spuckte mir im Vorbeikommen ins Gesicht, und ein anderer Bruder streckte die Faust aus und boxte mich in die schon lädierten Rippen.

Aber ich marschierte erhobenen Hauptes über das Gelände des Quartiers. Ich war schwach gewesen und hatte unter meiner Führung den ganzen Mist geschehen lassen. Dieses Mal würde ich jede Bestrafung akzeptieren, die die Hangmen mir zudachten. Alles, was ich brauchte, war, dass sie mir vorher noch zuhörten und mir halfen.

Und wenn sie mir ihre Hilfe gewährt hatten, konnten sie mit mir machen, was immer sie wollten.

Egal, wie hart ihre Vergeltung ausfallen würde.

Denn dass ich sie verdiente, war keine Frage. Keine Vergeltung wäre je genug.