Ich drückte die Hände auf mein Herz, als ich die Männer hinter Rider – nein, Cain – verschwinden sah, und als seine leuchtend weiße Tunika von Schwarz verdeckt wurde, fühlte ich, wie mir das Herz brach.
»Rider«, flüsterte ich, als er außer Sicht war. Ich wollte ihm nachlaufen, aber meine Beine waren zu schwach. Ich blinzelte die immer noch fließenden Tränen weg.
Alles, was sie ihm vorgeworfen hatten, hatte er getan.
Er hatte alles zugegeben.
Lilah, meine wunderschöne Lilah. Er hatte sie verletzt … ihr schönes langes Haar war kurz geschnitten, und im einst makellosen Gesicht hatte sie eine lange Narbe … alles wegen Rider. Ich konnte es nicht glauben. Denn der Mann, in den ich mich durch eine Steinwand hindurch verliebt hatte, der Mann, neben dem ich letzte Woche jede Nacht geschlafen hatte – dessen Hände mein Gesicht gestreichelt und der mich nie nach mehr als einer schlichten, unschuldigen Berührung gedrängt hatte –, der konnte doch nicht zu solchen Gräueltaten fähig gewesen sein.
Aber Mae … er hatte meine Mae entführt? Warum? Warum hätte er das tun sollen? Ich begriff das alles nicht.
»Bella?« Mae kam zu mir, und Maddie und Lilah sahen zu.
Ich schloss fest die Augen. »War das alles wahr? War das, was der Mann mit dem langen blonden Haar gesagt hat, wahr?«
»Ky.« Ich öffnete die Augen und sah Lilah neben Mae stehen. Maddie stand auf der anderen Seite neben ihr, und für einen kurzen Moment starrte ich meine drei Schwestern an, und mir ging das Herz auf. Tränen liefen mir über die Wangen.
Sie hatten mir so gefehlt.
»Bella«, sagte Maddie leise und löste sich nervös von der Gruppe. Vor mir blieb sie stehen und hob die Hand, um meine Tränen wegzuwischen. Ich starrte meine jüngste Schwester an. Ihre grünen Augen funkelten, und in ihnen stand etwas, das nie zuvor darin gewesen war – Frieden.
Maddie hatte Frieden gefunden.
»Wie?«, fragte ich.
Als würde sie meine Gedanken lesen, antwortete Maddie knapp: »Flame.«
Ich runzelte verwirrt die Stirn. Ich verstand nicht. Mae legte den Arm um meine Schultern. »Wir sollten hineingehen. Es gibt so viel zu erzählen.«
Ich blickte durch die Tore des Quartiers und sah zwei Männer – nein, eher Jungen –, auch schwarz angezogen. Sie warteten darauf, die Tore hinter uns zu schließen, ihre Waffen fest in den Händen.
Ich ließ mich von Mae hindurchführen. Sobald wir die Tore hinter uns ließen, schlossen die beiden Jungen sie. Ich zuckte zusammen, als Metall auf Metall prallte. Der jünger aussehende Junge senkte den Kopf und kam zu uns.
»Madds«, sagte er mit einem Blick auf meine jüngere Schwester. »Sie sieht genauso aus wie du.«
»Sie ist meine ältere Schwester, Ash.«
Er sah mich erstaunt an. »Ich dachte, die wäre tot.«
Maddie legte die Hand auf Ashs Arm. »Das dachte ich auch«, sagte sie. »Bella, das ist Ash, Flames jüngerer Bruder. Er hat sich uns auch vor Kurzem angeschlossen.«
Die Verwirrung war wieder da. Maddie hielt die linke Hand hoch. Sie trug einen Ring. »Flame ist mein Ehemann«, sagte sie stolz.
Ein leichtes flatterndes Gefühl erfüllte mein Herz und vertrieb die schwere Last, die mich erstickt hatte, seit die Männer Rider weggebracht hatten. »Maddie«, flüsterte ich und sah ein süßes Lächeln um ihre Lippen spielen, »du hast Liebe gefunden? Wahre Liebe?«
Maddie nickte. »Ja. So tief wie sie nur sein kann.« Ich musste die Lippen aufeinanderreiben, um sie vom Zittern abzuhalten. Meine kleine Maddie. Meine scheue, verängstigte Maddie hatte gewonnen, was ich gefürchtet hatte, das sie in unserem früheren Leben in der Gemeinde nie haben könnte – wahre Liebe. Jemand, der sich um sie sorgte, wie sie es verdiente. Jemand, der das Böse zerschlug, das Bruder Moses ihr aufgebürdet hatte.
Ich sah Mae und Lilah an. Auch Lilah trug einen Ring, ebenso Mae. »Ihr beide seid auch verheiratet?« Lilah nickte, doch Mae schüttelte den Kopf.
Sie strich ihr langes fließendes schwarzes Kleid glatt, und ihre Lippen formten sich zu einem glücklichen Lächeln. Sie legte die Hände schützend an ihren Bauch. »Bella, ich erwarte ein Kind.«
»Mae«, flüsterte ich, und reines Erstaunen ließ mir die Worte im Hals stecken bleiben. Aber dann geriet ich in Panik. Sie war nicht verheiratet wie meine Schwestern, doch sie erwartete ein Kind. Hatte jemand sie verletzt … hatte man sie gegen ihren Willen angefasst … hatten sie …?
Mae legte mir beruhigend den Arm um die Schultern. »Ich bin verliebt, Bella. Wir sind verlobt. Wir müssen nur erst noch heiraten. Aber ich liebe ihn trotzdem von ganzem Herzen. Wir sind schon auf jede Art verheiratet, die für mich zählt.«
Ich erinnerte mich an die Männer, neben denen meine Schwestern gestanden hatten. »Der mit dem dunklen Haar. Der Anführer, der nicht gesprochen hat«, sagte ich. Mae nickte.
»Styx«, erklärte sie mir. »Sein Name ist Styx … oder für mich River.«
Mein Blick wanderte über meine Schwestern, und Friede erfüllte mein Herz. Lilah strich mir das Haar nach hinten. Ich blickte in ihr Gesicht. Die Narbe auf ihrer Wange war auffällig, und sie hatte offensichtlich Schmerzen. Doch sie war auch glücklich, das sah ich ihr an.
Frieden. Sie alle hatten Frieden gefunden.
»Ihr seid glücklich«, sagte ich. Ein paar Sekunden lang schwieg ich, und dann drang ein Schluchzen aus meiner Kehle.
»Bella«, rief Maddie, aber ich wich zurück und hob die Hand, um sie aufzuhalten. Ich kannte das Gefühl nicht, dass sich in mir breitgemacht hatte. Einerseits war ich verzückt vor Freude, dass meine Schwestern, die einzige Familie, die ich je gekannt hatte, am Leben waren … und sie waren in Sicherheit. Alles, was ich je für sie gewollt hatte, war, dass sie glücklich waren. Dass sie frei waren. Deshalb hatte ich Mae gesagt, sie solle weglaufen. Ich hatte gewollt, dass sie auch Lilah und Maddie mitnahm und aus ihren Fesseln des Missbrauchs befreite.
Und das hatte sie tatsächlich getan. Offensichtlich war es nicht leicht gewesen, doch Mae hatte für meine Schwestern getan, was ich nie konnte. Sie hatte sie gerettet.
Sie waren am Leben. Sie hatten Frieden gefunden.
Sie waren erlöst.
Riders Gesicht ging mir durch den Kopf. Ich konnte den Schmerz in seinen Augen nicht vergessen, als er bekannte, dass er meine Schwestern verletzt hatte. Die Worte des blonden Mannes kamen mir unvermittelt wieder ins Gedächtnis … Frag deinen verdorbenen Scheißkerl von Typen danach, wie er Mae entführt hat und dazu zwingen wollte, ihn zu heiraten. Frag ihn danach, wie er Li verschleppt und gebilligt hat, dass sein Dreckskerl von Bruder und seine schwanzlosen Kumpane sie verbrennen wollten und immer wieder vergewaltigt haben. Frag ihn nach seiner total irren Besessenheit von Mae, und jetzt taucht er hier auf mit dir, ihrem verdammten Spiegelbild! …
»Der blonde Mann«, sagte ich zu Lilah.
»Er ist mein Ehemann. Sein Name ist Ky«, antwortete sie. Das zu hören machte alles noch schlimmer. Denn wenn das stimmte, dann liebte er Lilah mit Haut und Haaren. Er würde keine Lügen erzählen über das, was ihr widerfahren war. Tief in mir wusste ich, dass es stimmte. Ich hatte den Schmerz in seiner Stimme gehört.
»Er hat das alles wirklich getan?«, fragte ich fast unhörbar. Meine Stimme fand keine Kraft. »Rider. Cain. Er hat euch allen so wehgetan?« Meine Schwestern tauschten besorgte Blicke. »Sagt es mir!«, rief ich durchdringend in die Stille der Nacht.
Maddie zuckte zusammen, und Mitgefühl trat in Lilahs und Maes Mienen. Ich schüttelte den Kopf, denn ich konnte es nicht glauben. Dass Rider ihnen das alles angetan haben konnte … meinen Schwestern … den einzigen Menschen, die ich je in diesem gottverlassenen Leben geliebt hatte.
»Gehen wir zu mir nach Hause«, sagte Mae. Ich folgte ihr, als sie uns zu einem Wagen brachte. Ash, der Bruder von Maddies Ehemann, fuhr uns hin. Aber ich bekam nicht viel von der Reise mit. Eine seltsame Taubheit hatte mich erfasst, und ich versuchte nicht einmal, ihr zu entkommen.
Als der Wagen hielt, blickte ich auf und sah ein Holzhaus am Ende eines schmalen Weges. Es war wunderschön. Mae half mir aus dem Wagen. »Das ist mein Haus. Hier lebe ich mit Styx.«
Ich nickte wortlos und ließ mich von Lilah, Maddie und ihr durch die Tür in eine Küche führen. Sie sah anders aus als die einfachen Küchen, die ich von der Gemeinde her kannte. Eine Mischung aus Metall und Holz, und die silberfarbenen Geräte glänzten so, dass ich mein Spiegelbild in den polierten Oberflächen sehen konnte. Die Arbeitsflächen waren schwarz und mit Silberglas gesprenkelt. Hinter dem Küchenbereich lagen weiche Teppiche in kräftigen, warmen Farben auf poliertem Holzboden. Große Fenster, elegant verhüllt mit Vorhängen in schönen Blumenmustern. Das Haus roch nach frisch gebackenem Brot und einem Anflug von würzigem Moschusduft.
Mae ging zum Herd, um Wasser zu kochen. Maddie half Lilah auf einen Stuhl an einem großen Tisch. Ich blieb in der Tür stehen und sah zu, wie sie sich unbeschwert und vertraut in dem üppig gestalteten Raum bewegten.
Noch nie hatte ich mich mehr allein gefühlt.
Meine Schwestern hatten überlebt, ein neues Leben gefunden … und sie hatten einen Platz in der Welt ohne mich gefunden. Diese seltsame neue Welt, deren Gerüche und Geräusche ich nicht kannte. Eine Welt, die ich fürchtete – und in die ich meiner Überzeugung nach nicht gehörte.
»Rider«, flüsterte ich und spürte, wie meine Schwestern erstarrten. Aber ich sah sie nicht, denn ich hielt den Blick auf eine Stelle im Holzboden fixiert und sah nur noch verschwommen. »Er ist ein guter Mann«, erklärte ich. »Er ist ein gütiger Mann. Ich weiß es.«
»Bella«, sagte Mae nach vielen Sekunden vorsichtig, »komm her.« Ich blinzelte, bis meine Augen wieder klar waren, und sah sie auf einen leeren Stuhl an ihrem Tisch deuten.
Mein Magen machte einen Satz.
Ich wusste nicht, was ich hier sollte. Ich wusste nicht, wie ich mich in Gegenwart meiner Schwestern verhalten sollte, nachdem wir so lange voneinander getrennt gewesen waren. Das Gefühl zerstörte mich fast so sehr, wie es die Unterweisungen von Bruder Gabriel je getan hatten. Denn diese Frauen waren meine Rettungsleine, sie waren meine Sicherheit. Sie waren alles, woran ich immer gedacht hatte, wenn ich fürchtete, zu scheitern. Für sie hatte ich gelebt.
Aber jetzt war ich durcheinander und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und ich … ich …
Ich wollte Rider. Ich brauchte ihn.
Meine Hand brannte, als würde ich noch seine Finger tröstend mit meinen verschränkt fühlen. Wenn ich mich nur genug konzentrierte, konnte ich fast hören, wie seine raue Stimme durch die dicke Steinmauer hindurch »Harmony« flüsterte. Seine Stimme hallte in meinem Kopf, und mein Herzschlag wurde wieder so regelmäßig, wie er es gewesen war, bevor sie ihn wegbrachten. Wenn ich bei ihm war, konnte ich atmen und fühlte mich ganz. Dann fühlte ich mich nicht verloren.
Ich fühlte mich … vollständig.
Ich schloss die Augen und war nicht überrascht, dass mein Gedächtnis mich zurück in den kleinen Zellenblock in Neu Zion führte. Tatsächlich fand ich es ironisch. Ich hatte mein ganzes Leben damit verbracht, mich nach Freiheit zu sehnen. Und doch wusste ich, dass das einzige Mal, dass ich je etwas empfunden hatte, das auch bloß entfernt an Freiheit erinnerte, in der Gefangenschaft in diesen vier Steinwänden gewesen war, mit seiner starken und sicheren Hand in meiner.
Mae räusperte sich, und ich öffnete die Augen. Ich setzte mich auf den Stuhl, den sie mir anbot, und brach fast zusammen, als sie sich bückte und mir einen Kuss auf den Scheitel gab. Sie setzte sich – die vier Verfluchten Schwestern, wiedervereint in diesem Fast-Paradies aus Holz.
»Dieses Haus …« Ich wusste nicht, wie ich die Fremdheit erklären sollte, die ich dabei empfand, dass meine Schwester an einem solchen Ort lebte.
Mae wurde rot, und mir war klar, nicht vor Stolz. Sie war verlegen. Ich kannte meine Schwester. Einst kannte ich sie alle in- und auswendig – jeden Gesichtsausdruck, jedes leise gesprochene Wort. Jetzt stand ich da und betrachtete von außen ihr neu gefundenes und so sehr verdientes Glück.
»Es ist zu viel«, sagte Mae, als ich den Blick über ihr Zuhause schweifen ließ. An Maddies und Lilahs Gesichtern sah ich, dass sie in ebenso prachtvollen Häusern leben mussten.
»Schämt euch nie dafür, dass ihr frei seid«, sagte ich und wandte mich ihnen wieder zu. Ich meinte jedes Wort ernst. »Freiheit kommt nie ohne Opfer. Freut euch am Lohn. Ich bin sicher, dass ihr das alles verdient.«
»Bella«, fragte Lilah voller Anteilnahme, »was ist passiert?« Sofort legte ich meine Hand auf ihre, und die Mutterrolle, die ich immer bei Lilah eingenommen hatte, drängte an die Oberfläche. »Ich kam zu dir … als Mae fort war. Ich kam, um bei dir vor der Zelle zu sitzen, obwohl du tot warst.« Sie holte Luft. »Aber du warst verschwunden.« Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Maddie nahm Lilahs andere Hand, und da wusste ich, dass Maddie auch dort gewesen war. Sie war ebenfalls gekommen, um mir Lebewohl zu sagen. »Ich dachte, sie hätten deine Leiche schon weggebracht. Aber … aber offensichtlich habe ich mich geirrt … du warst am Leben, und ich kam dir nicht zu Hilfe.«
»Du wusstest doch nichts davon. Wie hättest du je glauben sollen, dass mein Herz noch schlug?«
»Weil ich irgendwie hätte nachsehen müssen«, mischte Mae sich ein. »Ich hätte nie einfach davon ausgehen sollen, dass du tot bist. Ich hätte irgendwie in die Zelle kommen und versuchen sollen, dich zu retten.«
»Du kannst nicht …«, flüsterte ich. »Du darfst dir nicht für irgendetwas daran die Schuld geben.« Helle Wut überkam mich, als ich an Bruder Gabriel und jene Nacht dachte.
»Bella«, sagte Maddie leise, und ich blickte ihr in die großen grünen Augen.
»Er war es ganz allein«, stieß ich hervor und versuchte kopfschüttelnd die Erinnerung an jene letzte Begegnung aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Aber ich konnte es nicht.
»Erzähl es uns«, bat Mae. Also schloss ich die Augen und führte mich zurück in jene Tage, die ich mir geschworen hatte, nie wieder zu durchleben. Denn es tat zu sehr weh.
Aber für meine Schwestern würde ich es tun.
Wir waren wieder zusammen, und alles musste erklärt werden …
Ich blinzelte in die Dunkelheit von Bruder Gabriels Zimmer. Mein Körper fühlte sich an wie totes Gewicht. Meine Wange pochte und mein Kopf hämmerte so sehr, dass ich es bis in den Schädel spürte.
Ich wollte das Bein bewegen, musste dabei aber ein ersticktes Stöhnen unterdrücken. Der Schmerz in meinem Kopf war nichts im Vergleich zu den Todesqualen zwischen meinen Beinen. Ich holte durch die Nase Luft und gab mir Mühe, den Schmerz wegzuatmen.
Es half nicht, denn er war zu groß. Langsam führte ich den Arm an meine nackten Oberschenkel hinab. Ich kämpfte die Übelkeit nieder, als ich zwischen meinen Beinen eine warme Flüssigkeit spürte – Blut.
Tränen liefen mir über die Wangen. Die salzigen Tropfen brannten auf meiner verletzten Haut, aber ich ließ sie fließen. Ich war müde. Ich war so, so müde. Und ich hatte nicht nur genug von dem Schmerz, den Bruder Gabriel mir über die letzten paar Wochen zugefügt hatte. Sondern von allem.
Und alles, weil ich die Fassung verloren hatte.
Jahrelang war ich seiner Folter ausgesetzt gewesen. Tägliche Göttliche Teilhabe, bei der er mich auf jede Art nahm, wie er nur wollte. Ich konnte nichts dagegen tun.
Der schlimmste Schmerz kam immer dann, wenn ich meine Schwestern neben mir sah. Immer wieder lagen wir alle geduckt da, Kopf auf den Boden gedrückt, die Hände hinter dem Rücken. Dann blickte ich ihnen in die Augen und versuchte ihnen stillen Trost zu spenden. Doch Tag für Tag, Jahr für Jahr, sah ich ihr Licht mehr verlöschen. Ich sah, wie das Leben aus ihren Seelen schwand.
Ich war ihre ältere Schwester. Bei mir suchten sie Hilfe … allerdings konnte ich nichts tun. Ich musste die Gewissheit ertragen, dass wir in diesem Leben gefangen waren.
Die Tür ging auf und Bruder Gabriel kam herein. Doch dieses Mal erstarrte ich nicht. Er konnte mir nichts mehr antun, was er nicht schon getan hatte. Er konnte mir nicht noch mehr wehtun. Ich hatte keine Schreie mehr. Keine Kraft mehr, an der ich festhalten konnte.
Gabriel lebte für meine Schreie, und meine Tränen waren sein Lebenselixier. Er lebte dafür, seinen vom Teufel verfluchten Schützling fallen zu sehen. Und ich war immer gefallen. Als Kind hatte ich stets geweint, wenn er in mich eindrang. Ich hatte geschrien, während ich mich nicht rühren konnte wegen der Falle zwischen meinen Beinen.
Ich hatte mich stets unterworfen … bis vor einigen Tagen. Es war kein konkreter Funke gewesen, der mich zurückschlagen ließ. Es war nichts Großes passiert, das mich dazu brachte, den Befehlen des Propheten zu trotzen, dass ich Gabriel auf jede Weise dienen sollte, die er wünschte.
Es war schlicht so, dass ich genug hatte. Jeder Mensch brach an einem bestimmten Punkt.
Als Gabriel mich gerufen hatte, damit ich mich mit ihm vereinte, als er mich nackt ausgezogen, seine Finger in mich gerammt und mit den Fingernägeln über die empfindliche Haut in mir gekratzt hatte, hatte ich seine Hand gepackt. Ich hatte impulsiv gehandelt und mich aus seinem Griff losgerissen. Ich stieß ihn zurück, schlug ihm ins Gesicht und grub meine Fingernägel in seine Wangen. Und dann war ich losgerannt, zur Tür hin. Aber Gabriel hatte mich zu Boden geworfen und selbst zugeschlagen.
Ich hatte einen Krieg begonnen.
Mit seiner Kraft hatte er mich überwältigt und meinen nackten Körper auf den Boden niedergedrückt. Sein großer Körper schob sich über mich, und ich sah Herausforderung in seinen Augen aufflackern. »Jezebel … du musst den Verstand verloren haben.«
»Geh runter von mir!«, zischte ich.
Gabriels Pupillen weiteten sich. Noch nie hatte ich so mit ihm geredet. Ich hatte überhaupt nie mit ihm gesprochen. »Da ist sie ja«, sagte er selbstgefällig … wissend. »Ich wusste immer, dass der Teufel in dir eines Tages sein hässliches Gesicht zeigen würde.« Er beugte sich zu mir hinab und fuhr mit der Nasenspitze über meine Wange. »Ich wusste, dass dieser Kampf eines Tages kommen würde. Der sündige Dämon in deinem Herzen würde kommen, um die Kontrolle zurückzuerlangen.« Er verstummte und hob dann langsam den Kopf nach hinten. Sein Blick bohrte sich in meinen. »Und ich heiße den Kampf willkommen, Jezebel. Ich werde dich von deiner Sünde reinigen.«
»Fass mich nicht an!«, fauchte ich und wollte mich aus seinem Griff losreißen.
Gabriel nahm meine beiden Hände in seine und fuhr mit der anderen über meine Brüste und den Bauch abwärts, bis er grob zwischen meine Beine fasste. Ich presste die Augen zu, als seine Finger über meine Schamlippen schrammten. Er beugte sich über mich, und sein Atem streifte über mein Gesicht. »Ich fasse dich an, Hure. Das werde ich immer wieder tun, bis du deinen Platz in dieser Welt kennst. Es ist dir verboten, irgendetwas, das ich von dir verlange, zu verweigern. Und es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass du gemäß unserer Schrift bestraft wirst.«
Er nahm die Hand zwischen meinen Beinen weg, und eine Sekunde später rammte er sich in mich. Ich schrie, als der qualvolle Schmerz seines unerwünschten Eindringens meinen Körper erfasste. Und ich schrie wieder, als er mir mit dem Handrücken ins Gesicht schlug. Aber schon bald wurde ich wie betäubt und meine Schreie hörten auf. Und seitdem hatte ich all die Tage lang nicht mehr geschrien.
Er würde mich umbringen, und ich würde sterben, ohne ihm den Sieg zu schenken, meinen Schmerz zu hören.
Ich blieb völlig reglos, als mein Gedächtnis mich zurück in die Gegenwart brachte. Gabriels Hand wanderte an der Rückseite meines Oberschenkels nach oben. Seine Finger glitten durch das nasse Blut, das immer noch auf meiner Haut klebte. Er kroch über mich und stieß sich in mich. Also schloss ich die Augen und betete zu Gott, dass er mich holen möge. Ich wollte nicht mehr hier sein. Ich wollte dieses Leben nicht mehr.
Ich ließ mich von der Finsternis überwältigen.
Als ich die Augen wieder öffnete, dachte ich, mein Wunsch wäre wahr geworden. Doch als ich es schaffte, den Kopf zu heben, sah ich, dass ich in einer kleinen Zelle lag. Metallgitter vor der Tür. Und mir war kalt. So kalt. Mein Kopf war ganz wie von dickem Nebel bedeckt, und ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich hatte Durst. Meine Lippen waren aufgesprungen und wund.
Ich konnte meinen Körper nicht spüren.
»Bella«, hörte ich eine Stimme vor der Zelle rufen.
Mae? Meine Mae? Ich konnte mich nicht konzentrieren …
Ich öffnete den Mund, um zu antworten. Ich wollte etwas sagen, aber ich war nicht sicher, ob meine Worte herauskamen. Ich war todmüde und wollte bloß schlafen. Ich musste schlafen. Nur noch ein wenig. Plötzlich füllte Wärme meine Hand. Ich zwang meine geschwollenen Augen auf. Das Licht von draußen blendete mich fast. Und dann sah ich ein Paar blaue Augen … Mae.
Mir wurde es schwer ums Herz, als ich sie weinen sah. »Sch«, wollte ich sagen. Ich war nicht sicher, ob ich es schaffte. »Ich liebe dich«, wollte ich ihr sagen, doch ich wusste nicht, ob meine Stimme gehorchte.
Ich sah, wie Maes Mund sich bewegte, konnte allerdings nicht hören, was sie sagte. Ich schaffte es wohl, auf die Worte zu antworten, die ich durch das laute Klingeln in meinen Ohren hindurch ausmachen konnte. Aber es war nicht genug. Mir wurde langsam schwarz vor Augen.
»Ungehorsam …« sagte ich, als Mae mich fragte, was passiert war. Ich wollte ihr sagen, was ich getan hatte. Doch meine Gedanken kamen nicht schnell genug, alles war verzögert und zu langsam. »Ich denke … ich wurde … betäubt …« Sie sagte noch mehr, aber ich konnte mir nicht merken, was Mae sagte oder was ich darauf geantwortet hatte.
»… ich sterbe, Mae … ich will beim Herrn sein …«
Mae wollte für mich kämpfen. Ich versuchte ihr zu sagen, dass es zu spät war. Ein Gefühl von Übelkeit drehte mir den Magen um. Ich hielt Maes Hand fester, als ich Blut im Mund schmeckte. Ich hustete und spürte kupferne Nässe über mein Kinn laufen. Ich hörte Mae aufschreien. Und ich hörte auch meine süße Lilah. Doch die Finsternis kam immer näher und nahm mir die Sicht.
Ich war so müde.
Ich schloss die Augen und hielt mich an den Schwestern fest, die ich so bedingungslos liebte, als ich dahinging …
Ich ließ mich von der Finsternis davontragen … ich wollte nur sterben …
Allerdings hatte es in der Finsternis flüchtige Augenblicke des Lichts gegeben. Leise, unbekannte Stimmen, die mit mir sprachen und mir sagten, dass ich in Sicherheit sein würde. Jemand säuberte mich. Während ich immer wieder bewusstlos wurde, war mir, als würde ich schweben.
Als ich wieder ganz wach wurde, befand ich mich in einem kleinen Zimmer. In der Wand gegenüber war ein kleines Fenster, und ich lag auf einer Matratze – sie fühlte sich fremd an. Sie war nicht bequem, aber besser als die, auf der ich jahrelang geschlafen hatte.
Ich wollte mich bewegen, war allerdings zu geschwächt. Schweiß lief mir über den Hals, und eine fast unerträgliche Hitze hüllte meinen schmerzenden Leib ein.
Dann ging eine Tür auf, und mir stockte der Atem. Ein Mann kam herein. Als er sah, dass ich wach war, blieb er auf der Stelle stehen. Er schluckte, und ich sah voll Verwirrung und einem Anflug von Besorgnis, wie seine dunklen Augen sich mit Tränen füllten.
Mein Herz hämmerte wie rasend. »Du bist frei«, sagte er leise. Drei Worte, die mich in Schockstarre versetzten. »Du bist nicht länger in der Hauptgemeinde. Du wurdest aus einer Zelle gerettet. Ein Freund hat dich gefunden und konnte dich wegbringen.«
Der Mann drückte sich die Hand aufs Herz. »Ich bin Bruder Stephen. Ich habe nicht den Wunsch, dich zu verletzen … niemand wird dich je wieder verletzen …«
»Ich wollte zurückkommen. Ich wollte zurückkommen und euch alle holen.« Ich holte Luft und rang um Fassung. »Der Plan war, dass wir nach meiner Genesung versuchen wollten, auch euch zu holen … aber dann erfuhren wir von dem Massaker. Vom Tod des Propheten … und man hat mir gesagt, dass ihr alle tot wärt. Ich« – mir stockte der Atem –, »ich konnte den Schmerz nicht ertragen.«
»Bella«, sagte Mae und schniefte. Ich schaute auf den Tisch: Alle drei Schwestern hatten ihre Hände auf meine gelegt.
Sekunden vergingen in schwer lastendem Schweigen. »Ich wollte in der Zelle sterben. Nachdem Gabriel mich so sehr gequält hatte, wollte ich bloß noch sterben.« Ich senkte den Kopf. »Ich hatte immer versucht, stark zu sein, denn ich musste euch alle schützen … aber ich konnte es nicht. Es hat mich verfolgt, jedes Mal, wenn die Wächterjünger kamen, um euch zu holen.« Ich wandte mich an Maddie. »Vor allem dich, Schwester. Was er dir immer antat.«
»Es ist okay«, antwortete Maddie tapfer.
Ich schüttelte den Kopf und fühlte die Woge aus Zorn zurückkehren. »Nein, ist es nicht. Nichts davon ist okay. Deshalb habe ich zurückgeschlagen. Ich konnte es einfach nicht länger ertragen.« Ich schluckte und flüsterte dann: »Es war töricht. Ich war töricht. Es hat alles nur noch schlimmer gemacht.«
Einige Momente lang herrschte Stille, und dann sagte Mae: »Es hat alles besser gemacht, Bella.« Ich blinzelte die neblige Traurigkeit aus den Augen und sah meine Schwester an. »Dein Tod …« Mae zuckte mit den Schultern und hielt meine Hand fester. »Er hat alles für uns verändert. Er hat in Gang gesetzt, was uns am Ende gerettet hat.« Mae beugte sich vor und strich über meine Wange. »Ich habe dieses Zuhause gefunden. Ich habe Styx gefunden. Es waren die Hangmen, die Prophet David getötet haben.« Mae zögerte, und ich sah, wie ihre Miene traurig wurde.
»Was ist?«, fragte ich.
»Danach wäre alles gut gewesen, aber dann hat Rider …«
Ich holte tief Luft. »Er hat sich gegen diese Männer gewandt … gegen euch.«
Keine meiner Schwestern antwortete. Mehr brauchte ich als Antwort nicht.
Mae warf einen schnellen Blick zur Tür und lehnte sich dann zu mir. »Bella, er war im Irrtum. Was Rider tat, war falsch, doch er hat mich gehen lassen. Er hätte mich zwingen können, mit ihm zu kommen … aber am Ende hat das Gute, das noch in seiner Seele übrig war, mich gehen lassen.«
Ich starrte meiner Schwester in die Augen und sah etwas darin, das mir völlig das Herz brach. Ich hörte es in ihrer leisen Stimme. »Er wollte dich«, sagte ich. »Rider … er wollte dich.«
Mae lehnte sich zurück, und ich sah das Unbehagen in ihrer besorgten Miene. Mein Kampfgeist verpuffte. Ich hatte ihm mein Herz geschenkt. Doch er hatte nur Mae gewollt.
Ich zog meine Hand unter den Händen meiner Schwestern hervor und drückte sie auf mein Herz. Etwas in mir tat so weh, dass ich fürchtete, etwas könnte nicht stimmen. »Bella«, sagte Mae leise.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, beteuerte ich. »Es geht mir gut.«
»Du liebst ihn«, stellte Maddie fest. Mein zerbrochenes Herz schaffte es noch, weiterzuschlagen. Ich öffnete den Mund, um ihrer Behauptung zu widersprechen, aber meine Seele ließ mich nicht lügen.
Nein. Ich kenne ihn nicht … ich liebe ihn nicht …
Total niedergeschlagen ließ ich die Schultern hängen. Ich hatte mich in einen Heuchler verliebt.
Lilah wischte sich eine Träne aus dem Gesicht, und die Bewegung weckte meine Aufmerksamkeit. Sie zuckte zusammen; eine schlichte Bewegung wie das Heben eines Arms ließ sie vor Schmerz zusammenfahren.
»Du hast Schmerzen«, stellte ich fest und zeigte auf ihren Bauch. Lilah wurde blass. Ihr Gesicht hatte schon immer jede Emotion widergespiegelt. »Wegen Rider«, sagte ich und erinnerte mich an die Anschuldigungen, die ihr Ehemann mir entgegengebrüllt hatte. Ich versuchte mich genau daran zu erinnern, was er gesagt hatte. Meine Unterlippe zitterte. »Rider ließ zu, dass du von vielen Männern vergewaltigt wurdest. Verletzt und bestraft … und deshalb kannst du keine Kinder haben.«
Lilah schloss die Augen und atmete tief ein. »Ich erwartete ein Kind, aber ich habe es verloren.« Sie presste die Lippen zusammen, und ich wusste, dass sie mühsam die Tränen zurückhielt. Maddie und Mae hatten den Blick auf den Tisch gesenkt. Ich gab mir alle Mühe, mit allem, was ich da hörte, fertigzuwerden. Es hörte nie auf. Der Schmerz, der Verlust … es hörte nie auf. Da kam immer noch mehr.
»Ich musste mich operieren lassen, um das zu beheben«, sagte Lilah, und ihre Stimme wurde am Ende brüchig. Ich griff über den Tisch und verschränkte unsere Finger miteinander. Lilah blickte mit einem leisen Lächeln auf unsere Hände. »Sie haben mich entführt. Rider hatte die Entführung genehmigt, aber, Bella …« Lilah zögerte und sah sich wachsam um, als wolle sie prüfen, ob wir noch allein waren. »Ich glaube, dass Rider versucht hat, die Bestrafung zu verhindern. Als er mit mir sprach, hat er mich angefleht, mich zu fügen … ich glaube, er wollte mir helfen.«
Ich war wie erstarrt, unfähig mich zu rühren. Ein Schatten huschte über Lilahs Gesicht. »Es war sein Bruder Judah, der mir all das angetan hat. Es war alles sein Plan.«
»Rider hat uns gesagt, dass er nicht wusste, dass das alles mit Lilah passiert ist«, sagte mir Mae. »Er glaubte nur, dass die Hangmen gekommen waren, um sie zurückzuholen, und dabei seine Männer töteten. Er sagte, dass er zuerst nicht wusste, was diese Männer ihr angetan hatten.«
Stille. »Und ich habe ihm geglaubt«, sagte Maddie.
Ich drehte mich zu meiner jüngsten Schwester. Maddies Blick ruhte auf mir und beschwor mich, ihr zuzuhören. »Als wir entführt wurden, dachten wir alle, dass Rider das eingefädelt hätte.«
»Aber er war es nicht?«, beendete ich den Gedanken für sie und versuchte all diese neuen Informationen zu erfassen. Man hatte sie entführt? Auch verletzt?
Meine Schwestern … nein …
»Er hat uns gehen lassen«, fuhr Mae fort. »Er hatte nichts von unserer Entführung gewusst. Ich sah es in seinen Augen, Bella. Er wollte uns nicht mehr zurückholen. Etwas in ihm hatte sich verändert. Der Prophet war verschwunden, und eine Spur des Riders, den ich als Freund gekannt hatte, war zurückgekehrt.«
Meine widerstreitenden Gedanken und Gefühle wurden zu viel zu ertragen, und ich wandte den Kopf ab. »Bella?«, fragte Maddie und drückte meine Hand. »Geht es dir gut?«
Ich wollte Ja sagen, doch stattdessen schüttelte ich den Kopf. Denn es ging mir nicht gut. Ich war weit davon entfernt. »Der Mann, dem ich in der Zelle begegnet bin. Rider. Er war der freundlichste, liebevollste Mann, dem ich je begegnet bin. Ich … er hat mir geholfen. Wir« – ich holte hörbar Luft und hob die linke Hand –, »wir wurden verheiratet. Ich … wir …« Mehr konnte ich nicht sagen. Ich konnte meinen Schwestern nicht sagen, dass der Mann, der ihnen solchen Schmerz zugefügt hatte, derselbe war, der mir nichts als Heilung gebracht hatte.
Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich mit ihm geschlafen hatte. Und dass ich es zum ersten Mal im Leben gern getan hatte … es hatte mir etwas bedeutet. Es hatte mir alles bedeutet.
Aber Mae flüsterte: »Die zeremonielle Vereinigung.« Ihre blauen Augen wurden groß.
»Ja«, bekannte ich. Meine Hände zitterten. »Ich habe mich ihm versprochen … und er …«
»War er gut zu dir?«, fragte Lilah mit deutlicher Besorgnis in der Stimme. »War er sanft, als er …?«
»Ja«, sagte ich und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Er war vollkommen.«
»Er war unberührt, als ich ihn kannte«, erklärte Mae. »Er hat sich für die Heirat mit der Verfluchten aufgespart. Er sagte mir, dass er nie an einer Göttlichen Teilhabe teilgenommen hätte. Er hatte noch nie eine Frau gehabt.«
»So war es noch immer.« Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. »Er war unberührt. Er … er war nur mit mir zusammen. Ich war die Eine für ihn. Und auf jede Weise, die wichtig ist, war er auch der Eine für mich.« Ich stieß ein freudloses Lachen aus. »Ich habe ihm mein Vertrauen und mein Herz geschenkt. Ich hätte nie geglaubt, dass ich bei irgendwem dazu in der Lage wäre. Aber bei ihm konnte ich es … und jetzt entdecke ich, dass er nicht der Mann ist, für den ich ihn hielt.«
Ich stand auf und ging zu dem großen Küchenfenster. Draußen war es dunkel bis auf ein paar Lichter in der Ferne. Ich verschränkte die Arme, und mir war plötzlich kalt.
»Ich bin mir nicht so sicher, ob du da recht hast«, meinte Mae.
Ich versteifte mich und sah dann meine Schwester an, die noch am Tisch saß. Mae warf einen nervösen Blick auf meine anderen beiden Schwestern und rutschte auf ihrem Stuhl. »Unsere Männer sind blind vor Hass auf ihn, wegen dem, was er ihnen angetan hat. Wegen dem, was man uns angetan hat, ohne dass er etwas dagegen tat, vor allem Lilah. Aber …« Sie holte Luft und fuhr fort: »In meinem Herzen glaube ich nicht, dass er ein schlechter Mensch ist. Ich habe oft darüber nachgedacht, Bella. Rider war ein guter Freund für mich, und ich glaube, dass diese Freundschaft aufrichtig war, obwohl seine späteren Handlungen es anders aussehen ließen. Eine Zeit lang fürchtete ich, dass er an den Glauben verloren sei, aber als er uns gehen ließ, sah ich das Licht in ihm durchscheinen.« Mae seufzte. »Und heute habe ich gesehen, dass er vollständig zurückgekehrt ist. Rider. Nicht Cain, sondern der Mann, der den Orden verlassen hatte. Er hat dich zu uns zurückgebracht. Ein schlechter Mensch könnte das nicht und hätte es auch nicht getan.«
Ich ließ ihre Worte auf mich wirken und schmeckte dann die Tränen auf meinen Lippen. »Ich bin so durcheinander«, gestand ich. »Es ist zu viel passiert. Ich … ich weiß nicht mehr, was ich denken soll … ich … ich …«
Die Tür ging auf, und mir wurde es schwer ums Herz, als Maes Liebster hereinkam. Im Licht sah ich ihn zum ersten Mal aus der Nähe. Er war groß und breit gebaut und hatte forschende haselnussbraune Augen. Seine Haut war bedeckt von farbigen Bildern. Ein furchterregender Anblick.
Als würde er meinen Blick spüren, sah er mich an, und ich konnte spüren, dass auch er mich abschätzte. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf.
Mae trat an seine Seite. Trotz unserer Gegenwart zog Styx sie für einen heißen Kuss an sich. Der Anblick ließ mich erröten. Da wusste ich, dass dieser Mann Macht besaß. Er nahm sich, was er wollte, wann immer er es wollte.
Nachdem er sich aus dem Kuss gelöst hatte, hob er die Hände und teilte Mae etwas mit. Ich sah meine Schwester blass werden.
»Nein«, sagte sie geschockt. Styx blieb nur gelassen stehen.
»Was?«, fragte ich.
»Kann ich es ihr sagen?«, fragte Mae. Er nickte. Und als Mae sprach, ließ Styx mich nicht aus den Augen. »Rider hat Styx erzählt, dass der Orden einen Angriff auf uns plant.«
Mein Herz raste, als ich an die Waffenübungen dachte und an den Propheten, der unser Volk für das Jüngste Gericht bewaffnete, an seine Predigten voller Hass. »Ja«, sagte ich. »Judah bereitet sie auf das Ende vor.«
Mae blickte zu Boden. »Also kommen die Hangmen ihm zuvor.« Sie zögerte und fuhr dann fort: »Die Hangmen und Rider.«
Angst jagte durch meine Adern. »Nein«, flüsterte ich. »Er wird Rider umbringen. Judah, sein Zwilling … er wird ihn umbringen.«
Styx zuckte mit den Schultern, und das ließ ein Feuer in mir auflodern. Ohne bewusst an etwas zu denken, lief ich plötzlich auf ihn zu. »Bella«, rief Mae und wollte nach meinem Arm greifen. Ich riss mich los.
Styx sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und verschränkte die Arme. Doch das machte mich noch wütender. »Du hast ja keine Ahnung«, sagte ich und gab mein Bestes, meine überlasteten Nerven zu kontrollieren. »Du hast ja keine Ahnung, was Judah über Wochen mit Rider angestellt hat. Er hat ihn auf jede nur mögliche Weise verletzt. Er hat ihn verstoßen, den Kontakt zu seinem Bruder total abgebrochen. Und es hat Rider das Herz gebrochen. Sein einziger Verwandter, der einzige Mensch, den er je geliebt hat, will nichts mehr mit ihm zu tun haben, da er versucht hat, das Richtige zu tun.« Meine Beine zitterten vor Wut, aber ich wich nicht zurück. »Rider hat einen Mann getötet, als er schließlich Zeuge einer Göttlichen Teilhabe wurde. Er hat sich gegen alles gestellt, das er je kannte, um etwas aufzuhalten, von dem er schlicht wusste, dass es falsch war. Er war der Prophet, und doch hat er eine der wichtigsten Praktiken des Ordens beendet. Weißt du, wie das für ihn war? Nein, kannst du gar nicht, weil du nicht dort gelebt hast. Aber ich schon. Wir!« Mae wollte wieder nach mir greifen, doch ich drehte mich zu ihr um und rief laut: »Nein!«
Mae wich zurück, und ich drehte mich wieder zu Styx um. »Er hat alles riskiert, um mich zu retten. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber er hat den Platz mit seinem Bruder getauscht, um mich davor zu bewahren, dass der mich bekommt. Er hat sich gegen sein eigen Fleisch und Blut gewandt, um mich zu retten und zu meinen Schwestern zurückzubringen. Und jetzt schickt ihr ihn zurück, ihnen genau in die Arme … sie werden ihn umbringen.«
Ich wartete darauf, dass Styx antwortete, dass er etwas sagte. Doch er fuhr sich nur mit der Zunge über die Unterlippe und zuckte mit den Schultern. Ich wich geschockt zurück und sah meine Schwestern an. Lilah und Maddie hatten die Köpfe gesenkt, und Mae … Mae wippte auf den Füßen hin und her, sagte allerdings nichts.
»Was für Menschen seid ihr eigentlich?«, fragte ich und fühlte einen eisigen Schauer über meinen Rücken laufen.
Maes Liebster teilte ihr wieder etwas mit den Händen mit. Mae wurde noch bleicher und schüttelte den Kopf. Er bewegte die Hände noch nachdrücklicher, und diesmal sah Mae mich an und sagte: »Styx will, dass ich dir sage … dass ich dir sage, dass du Rider nicht so kennst, wie du glaubst. Und dass du nun, wo du bei uns bist, nichts mehr mit ihm zu tun hast. Rider wird hier nie willkommen sein. Nie mehr.«
Da lachte ich. Ich lachte einfach und schüttelte ungläubig den Kopf. »Bella«, bat Mae. Sie war bestürzt über diese plötzliche Spannung zwischen ihrem Liebsten und mir, das konnte ich sehen.
»Nein«, sagte ich leise. »Ich … ich muss nur etwas schlafen. Ich muss allein sein.«
»Wir haben dich erst wiedergefunden«, sagte Maddie scheu.
»Ich weiß, Schwester«, sagte ich, und es brach mir fast das Herz. »Aber ich kann das alles nicht begreifen. Ich kann nicht erkennen, wie dieses Leben hier anders sein soll.« Ich blickte Styx wieder in die Augen. »Für mich sieht es so aus, dass ihr einfach bloß eine Umgebung, die euch kontrolliert, gegen eine andere eingetauscht habt. Ich habe Sorge, dass ihr hier ganz und gar nicht frei seid. Ihr habt lediglich einen größeren Käfig, in dem ihr euch bewegen könnt.«
Meine Worte waren wie ein Auslöser für Maes Liebsten. Sein Gesicht wurde rot vor kaum unterdrückter Wut. Mae nahm seinen Arm und brachte ihn dazu, sie anzusehen. Sie legte die Hände an seine Wangen, und er schloss die Augen und atmete tief ein. Ihre Berührung schien ihn zu beruhigen.
»Maddie«, sagte Mae, »bitte zeige Bella doch dein altes Zimmer. Dort kann sie sich ausruhen.«
Maddie nahm meine Hand, und ich ließ mich von ihr die Holztreppe hinauf zu einem Schlafzimmer führen. Maddie blieb an der Tür stehen, als ich zum Bett ging und mich setzte. Ich ließ den Blick über die hübschen Möbel schweifen und dann aus dem großen Fenster hinaus, das auf eine Grünfläche hinausging.
»Bella«, sagte sie schließlich. Ich sah meine Schwester an. Sie hatte den Kopf gesenkt und die Hände vor sich verschränkt. »Ich … ich will nur, dass du glücklich bist.«
Mein Herz zersprang bei ihren Worten, denn ich wusste, dass sie es ernst meinte. Maddie war der gütigste Mensch, dem ich je begegnet war.
»Ich weiß.«
Ich bemerkte, dass sich am Fenster etwas regte, und sah eine große dunkle Gestalt zwischen den Bäumen hervorkommen. Mir drehte sich der Magen um: Es war der Furcht einflößendste Mann, den ich je gesehen hatte. »Da kommt jemand«, erklärte ich. Maddie seufzte.
»Das wird Flame sein. Er lässt mich nie lange allein.«
»Das ist dein Ehemann?«
Maddie nickte, und ich sah, wie sie vor Glück von innen leuchtete. »Ja. Er ist der Eine, den ich liebe. Er ist die andere Hälfte meine Seele.«
Flame blieb unter dem Fenster stehen und starrte zu mir hoch. Dann blickte er neben mich, und sein Mund verzog sich zum Anflug eines Lächelns. Maddie. Maddie hatte sich neben mich gestellt.
Meine Schwester drückte mir einen Kuss auf die Wange und ging zur Tür. Ich ließ den Kopf hängen und spürte langsam beginnenden Schmerz hinter meinen Augen pochen.
»Bella?«
»Ja?«
»Ich weiß nicht viel über Herzensangelegenheiten. Aber ich weiß, wie es ist, Gefühle für einen Mann zu haben, den andere Menschen zutiefst ablehnen. Den andere für nicht richtig, unrettbar oder sündig halten.« Maddie wurde rot. »Aber ich weiß auch, wie es ist, wenn man in seinen Armen liegt. In seinem Herzen wohnt. Es ist anders. Man kann ihn ändern … man kann ihm zeigen, dass auch er gerettet werden kann, selbst wenn er sich selbst für einen hoffnungslosen Fall hält.« Maddie sah mir direkt in die Augen. »Ich weiß, dass Rider Schlimmes getan hat. Und ich kann sehen, welchen Tribut das alles von dir gefordert hat. Aber … aber ich glaube nicht, dass er böse ist. Vielleicht verloren, verwirrt … trotzdem kann er bestimmt gerettet werden. Du, Bella, du kannst ihn retten. Du hast die Fähigkeit dazu.«
»Maddie!« Ich fuhr zusammen, als ein lautes Brüllen unter dem Fenster ertönte.
Maddie lächelte. »Ich muss gehen.«
Und weg war sie. Mir wurde klar, dass mein scheues zerbrochenes kleines Mädchen verschwunden war, und an ihre Stelle war eine erwachsene und starke Frau getreten. Eine, die gerade meine Welt erschüttert hatte.