Durch Lücken in den Holzwänden des Schuppens sah ich den Sonnenaufgang … allein. Bella war kurz vorher gegangen. Es hatte sein müssen. Es war nicht sicher für sie, bei mir zu bleiben.
Obwohl ihr das egal zu sein schien. Ich spürte ein Lächeln um die Mundwinkel spielen, als ich daran dachte, als wie trotzig sie sich entpuppt hatte. Heute früh war ich damit aufgewacht, dass sie mein Gesicht mit Küssen bedeckte.
Ich liebte sie. Wenn mir das nicht schon vorher klar gewesen wäre, dann in diesem Augenblick. Aber ich hatte es schon gewusst. Ich hatte es von dem Moment an gewusst, als sie erfahren hatte, wer ich war, und nicht davongelaufen war. Sie wollte mich, trotz meiner Vergehen.
Das wollte mir so gar nicht in den Kopf.
»Komm zu mir zurück«, hatte sie zum Abschied gesagt. Ich hatte es ihr versprechen wollen, doch tief in mir wusste ich, dass ich ihr dieses Versprechen nicht geben konnte.
Keine Ahnung, wie lange ich dasaß und die Sonne langsam am Himmel aufgehen sah. Dann hörte ich Stimmen draußen. Das Schloss drehte sich, und die Tür ging auf. Ich machte mich darauf gefasst, den Präs oder den VP zu sehen … aber es war keiner von beiden.
Es war der Bruder, den zu sehen ich am meisten fürchtete. Der Typ, den ich am schlimmsten belogen hatte … der eine, dessen Täuschung ich mir nie verzeihen konnte.
Smiler.
Mein ehemaliger Bruder der Straße schloss die Tür des Schuppens. In der Hand hatte er ein Bündel aus schwarzem Leder. Ich sah zu, wie er mit ausdruckslosem Gesicht auf mich zukam. Sein Haar war nach hinten gebunden, und er trug dasselbe wie immer – Lederhose, weißes Shirt und seine Hangmen-Kutte.
Er blieb vor mir stehen und warf die Ledersachen auf den Boden. In dem Haufen befand sich keine Kutte – nur Jacke, Hose, Stiefel und ein schwarzes Shirt.
»Zieh dich an. Der Präs ist gleich hier. Du gehst als Erster rein, wie du wolltest.«
»Ich weiß«, antwortete ich. »AK war gestern Nacht da und hat mir den Plan erklärt.«
Smiler warf mir einen finsteren Blick zu, bückte sich dann und befreite mich von den Fesseln. Anschließend drehte er sich auf dem Absatz um. Schuld und Scham überwältigten mich, als er ging, nun ein Fremder für mich. Als er an der Tür ankam, sagte ich: »Es tut mir leid.«
Smiler blieb wie angewurzelt stehen. Er drehte sich nicht um, aber er hörte zu.
Das war immerhin ein Anfang.
Ich stand auf und kickte die schweren Fesseln zu Boden. »Es tut mir so wahnsinnig leid … Bruder.«
Smilers Schultern hoben und senkten sich wieder, und dann schockte er mich total, als er sich umdrehte und wieder auf mich zukam. Seine Miene war eiskalt, aber als er vor mir stehen blieb, fragte er: »Wieso zum Teufel hast du es getan? Wieso zum Teufel hast du das alles aufgegeben, hast uns aufgegeben? Ich habe für dich gebürgt, Mann. Ich habe dich in den Club gebracht. Hast du irgendeine Ahnung, wie dermaßen blöd ich dastand, als du dich als Ratte herausgestellt hast? Also, wieso?«
Ich ließ den Kopf hängen. »Ich weiß nicht.« Dann schüttelte ich den Kopf. »Nein, das ist Blödsinn. Natürlich weiß ich es. Jetzt. Aber ich wusste wirklich nicht, dass der Glaube, in dem ich aufwuchs, nur Tarnung für einen verdammten Sexring war. Ich hatte absolut keine Ahnung, dass alles, was ich wusste, falsch war.«
Ich spürte, wie Smilers Blick sich in meine Augen bohrte. »Du warst mein bester Freund, Rider. Du warst mein Bruder, verdammt. Ich lasse niemanden an mich ran. Ich entwickle nie Nähe zu irgendwem. Aber bei dir war es anders … und dann stellt sich raus, dass du eine Scheißratte bist.«
»Ich weiß«, antwortete ich und fühlte mich beschissen dabei. Ich hob den Kopf. »Ich habe keine Worte dafür, außer dass es mir leidtut. Wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich es auf der Stelle tun. Ich wäre bei den Hangmen geblieben und hätte ihnen ganz genau erklärt, wer ihnen in ihre Geschäfte pfuscht. Aber ich habe es nicht getan. Und das tut mir absolut leid.«
»Du warst nie bei den Marines, oder? Das hast du alles nur erfunden.«
Ich seufzte. »Ich habe nie gedient. Medizin habe ich in der Gemeinde gelernt. Mein Onkel wollte, dass ich in der Lage bin, die Leute zu heilen.« Ich lachte sardonisch auf. »Er wollte, dass ich wie ein neuer Christus erscheine. Ein Wunderheiler für unsere Herde. Aber nein, Militärdienst gab es keinen. Ich hatte mein Heim nie verlassen, bevor ich hierherkam.«
Smilers kalte Miene schien zu wanken. Aber schnell brachte er seine Züge wieder unter Kontrolle und zeigte auf die Klamotten. »Zieh dich besser an. Der Präs schickt dich bald los. Und, Rider?« Ich hob das Kinn als Antwort. »Du solltest das echt nicht vermasseln, es sollte besser nicht noch eine Scheißfalle sein.«
»Es ist keine Falle. Du hast mein Wort.«
»Tja, dein Wort ist mir inzwischen scheißegal. Aber eins verspreche ich dir.« Er blieb dicht vor mir stehen. »Falls du uns in eine Falle lockst und das hier bloß eine verkackte oscarreife Vorstellung ist … dann mache ich dich höchstpersönlich kalt.«
Damit verließ mein ehemals bester Freund den Schuppen. Ich zog die Sachen an. Und als ich das vertraute Gefühl von Leder auf der Haut spürte, empfand ich etwas, das ich schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte.
Richtig. Alles fühlte sich einfach richtig an.
Vor dem Schuppen waren Stimmen zu hören. Die Tür flog krachend auf, und Tank stand da. »Sieh zu, dass du rauskommst«, befahl er.
Die Bikerstiefel, die sich so was von gut an meinen Füßen anfühlten, klangen wie Donner auf dem alten Fußboden des Schuppens. Der tröstende Geruch von Leder stieg mir in die Nase und beruhigte meine Nerven. Als ich zur Tür kam und hinausging, waren alle Brüder versammelt … und alle standen um eine Chopper aus Mattschwarz und Chrom herum.
Das gleiche Modell, das ich einst besessen hatte.
Smiler warf mir die Schlüssel zu. Ky kam näher und blieb dicht vor mir stehen. Sein Blick glitt angewidert über meine Ledersachen. »Das ist kein verdammtes Willkommensgeschenk, kapiert, Blödmann? Das ist nur dazu da, dass du unentdeckt reinkommst und wir jede Bewegung von dir verfolgen können.«
Vike klopfte auf den Tank der Chopper. »GPS. Tolle Erfindung, wenn man jemanden im Auge behalten will.«
Kys Brustkorb stieß gegen meinen. »Einmal falsch abbiegen, irgendein Zeichen, dass du die Seiten gewechselt und dich deiner lange verlorenen Manson Family angeschlossen hast, und wir kriegen es mit.« Sein Mund näherte sich meinem Ohr. »Und dann kommen wir über dich und deinen Bruder.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Ich baue keinen Mist«, antwortete ich. »Ich will, dass diese Leute gerettet werden. Die anderen Mistkerle will ich tot sehen. Und Judah …« Ich zwang die Worte über meine Lippen. »Der gehört dir. Wie versprochen.«
Styx klopfte Ky auf die Schulter. Der trat beiseite, und Styx signalisierte: »AK hat entschieden, dass du vier Stunden Vorsprung bekommst, um deinen Teil zu erledigen. Danach sind wir dir direkt auf den Fersen für unseren Teil. Der Eingang sollte besser offen sein, wie du gesagt hast, und falls uns irgendwer im Weg steht – Kind, Braut oder Scheißkerl –, machen wir jeden nieder. Kapiert?«
Ich nickte. Styx blieb noch einige Sekunden lang vor mir stehen und starrte mir in die Augen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich starrte finster zurück. Der Präs grinste und ging mir dann aus dem Weg.
Ich schwang mich in den Sattel der Chopper. Meine Muskeln brauchten nur etwa zwei Minuten, um sich daran zu erinnern, wie man auf einer Maschine saß. Ich schob den Schlüssel ins Schloss. Der Motor erwachte röhrend zum Leben, und da sah ich Bull auf seiner Harley vor mir.
»Bull fährt mit raus, um sicherzugehen, dass du keinen Umweg machst. Danach bist du auf dich allein gestellt, bis wir kommen«, signalisierte Styx. »Versau es nicht.«
Ich nickte und jagte den Motor hoch. Bull fuhr auf die schmale Schotterstraße hinaus, die vom Schuppen zum Clubhaus führte. Und während die Chopper fuhr, konzentrierte ich mich auf die Aufgabe vor mir.
In ein paar Stunden wäre alles getan.
Ich ignorierte das hohle Gefühl in meinen Eingeweiden. Ich hatte etwa eine Stunde Fahrt vor mir, bevor die Kacke richtig am Dampfen war. Und ich hatte vor, einfach bloß zu fahren. Nie war es einfacher, als wenn es nur mich und die offene Straße gab.
Ich hatte ganz vergessen, wie gut sich diese Freiheit anfühlte, als ich der Prophet wurde. Aber ich schwor mir, es nie wieder zu vergessen.
Als ich den Zaun erreichte, empfand ich bloß Erleichterung. Der Draht war durchgeschnitten wie geplant – Solomon und Samson hatten ihre Aufgabe erledigt. Der Zaun befand sich genau am anderen Ende der Gemeinde zu dem, durch den wir gestern entkommen waren. Nur für alle Fälle.
Ich schlüpfte durch den Zaun und arbeitete mich zwischen den Bäumen durch. Mit jedem Schritt pochte mein Herz stärker. Ich zwang mich, weiterzugehen, immer Bellas Gesicht vor meinem geistigen Auge.
Es muss getan werden, sagte ich mir vor. Meine Füße blieben stehen, als ich an gestern dachte. An Judah, gefesselt und außer Gefecht von meinem Schlag, während wir den Austausch vollzogen hatten …
Gestern …
»Bist du bereit?«
Ich nickte Solomon zu und holte tief Luft. Harmony war gerade für die Hochzeitsvorbereitungen abgeholt worden. Als Sarai gekommen war, um sie zu holen, hatte es meine ganze Willenskraft gebraucht, nicht aus meiner Zelle zu stürmen und dem Miststück die Kehle aufzuschlitzen.
Aber was mich am meisten quälte, war die Traurigkeit in Harmonys Augen, als sie meine Zelle verließ. Ich hatte sie nicht trösten können. Ich war zu abgelenkt. Ich musste dafür sorgen, dass der Plan funktionierte. Ich musste derjenige sein, der am Altar auf sie wartete. Ich konnte sie nicht in Judahs Hände fallen lassen – keine Sache war das wert.
Solomon verließ die Zelle, und ich setzte mich. Und ich wartete. Nichts in mir zweifelte daran, dass Judah kommen würde. Ich war nicht so dumm zu denken, dass er aus Liebe käme. Judah würde nur aus einem einzigen Grund auftauchen.
Er würde kommen, um seinen Sieg zu feiern, dass er mich gebrochen hatte … und dann würde ich ihn ausschalten.
Bruder Stephen erschien in der Tür, ein weißes Tuch in der Hand. »Bist du bereit?«, fragte er.
Ich nickte. »Du hast das Chloroform?«
»Ja«, antwortete er und hielt das weiße Tuch hoch. Ich war fasziniert, was die Abtrünnigen alles aus Puerto Rico hatten einschmuggeln können. »Cain … vielleicht ist es das Beste, wenn wir … ihn jetzt ausschalten … endgültig.«
Sein Vorschlag weckte auf einen Schlag derart starke Emotionen in mir, dass ich kaum atmen konnte. Ich schüttelte den Kopf. »Wenn wir die Hangmen auf unserer Seite haben wollen, müssen wir ihn am Leben halten. Er ist das Druckmittel. Glaube mir, es gibt noch andere als uns, die ihn tot sehen wollen.« Ich holte Luft und sagte: »Haltet ihn unter Betäubung und sorgt dafür, dass er genauso aussieht wie ich. Ich werde die Hangmen davon überzeugen, dass ich zurückkommen muss, bevor die vier Tage der Himmlischen Andacht vorüber sind. So lange sollte niemand nach ihm sehen. Und ich kann zurückkommen und die Leute befreien. Ich werde allen versichern, dass ich den Teufel in Rekordzeit aus Harmony ausgetrieben habe und sie sich jetzt ausruht. Sie werden zu verblendet von meinem Erfolg sein, um daran zu zweifeln … zumindest so lange, wie wir brauchen, damit alles funktioniert.« Ich seufzte. »Ich werde den Leuten befehlen, sich auf der anderen Seite des Geländes zu versammeln, wo sie in Sicherheit sein werden. Und die Wächter und Ältesten werde ich dort versammeln, wo die Hangmen sie finden können.« Ich biss die Zähne zusammen. »Dann übergebe ich ihnen auch Judah. Ab da übernehmen sie.«
Bruder Stephen nickte.
»Seid ihr sicher, dass ihr das auch alle wollt?«, fragte ich. »Es ist riskant. So viel könnte schiefgehen. Ist euch klar, welche Strafe über euch verhängt werden könnte, falls wir scheitern?«
»Ich bin bereit. Ich bin bereit zu sterben, falls es dazu kommen sollte.« Er schenkte mir ein Lächeln unter Tränen. »Ich habe meine Töchter öfter im Stich gelassen, als ich zählen kann. Dieses Mal nicht.«
»Und Schwester Ruth?«, fragte ich. Etwas blitzte in Bruder Stephens Augen auf, als ich fragte. »Sie hat ebenfalls ihre Gründe, um zu kämpfen. Sie ist bereit für alles, was die Sterne für uns geplant haben mögen.«
Draußen hörte ich Menschen näher kommen. Bruder Stephen suchte meinen Blick und wünschte mir wortlos Glück. Dann schloss er die Tür, und ich begab mich in die Ecke der Zelle und wartete.
Die Tür flog auf, und ohne aufzublicken konnte ich spüren, dass es mein Bruder war. Langsam hob ich den Kopf: Judah hatte die Arme verschränkt und starrte mich finster mit zusammengekniffenen Augen an. Er trug seine Hochzeitstunika. Ich war erleichtert: So weit funktionierte der Plan.
»Judah«, flüsterte ich und achtete darauf, dass meine Stimme rau und verletzlich klang. »Danke, dass du gekommen bist.«
Judah sagte erst nichts. Als ich mich auf die Knie hob, taumelte er rückwärts. Doch ich hielt den Kopf gesenkt und hob langsam die Hand. Unser Lehrer hatte uns immer angewiesen, so unseren Onkel zu grüßen. Es zeigte seine Hoheit über uns alle.
Unsere Unterwerfung.
Judah atmete lang gezogen aus. Ich musste fast schreien, als ich seinen Laut des Sieges hörte. So oft in unserem Leben hatte ich Judah erklärt, dass er sich von seinem Stolz blenden und in seinem Urteil leiten ließ.
Und genau darauf verließ ich mich in diesem Moment.
Er streckte die Hand aus und legte sie auf meinen Kopf. Einen Moment lang, als ich seine Berührung spürte, geriet meine Selbstsicherheit ins Wanken. Doch ich schloss fest die Augen und rief mir Harmonys tapferes, aber angstvolles Gesicht ins Gedächtnis.
Ich musste es für sie tun.
»Du hast beschlossen, deine Taten zu bereuen?«, fragte Judah.
»Ja«, antwortete ich. »Ich will bereuen, dass ich an unserer Lebensart gezweifelt habe … ich … ich habe viel darüber nachgedacht, was ich dir und unseren Anhängern angetan habe. Und ich kann nicht … ich kann nicht …« Ich ließ den Satz in einem erstickten Aufschrei enden.
»Hebe den Blick«, befahl Judah.
Ich hob den Kopf und musterte sein Gesicht, sein Haar. Ich prägte mir ein, wie er seine Tunika trug. Alles, was ich nur konnte. »Mein Bruder«, flüsterte ich und zwang mir Tränen in die Augen. »Mein Prophet.«
Judahs Augen flammten bei meiner Ehrerbietigkeit auf, und sein Griff in meinem Haar wurde fester. Er kniete nieder, sodass sein Gesicht sich direkt vor meinem befand. Seine Hand glitt über mein Gesicht und legte sich dann auf meine Schulter. Es wurde mir eng um die Brust, als er mich berührte. Aber ich konnte nur daran denken, was Schwester Ruth mich vor Tagen hatte erkennen lassen.
Ich war Judah immer egal gewesen.
Dieser Akt der Zuneigung diente bloß seiner Macht. Alles, was er tat, geschah aus Berechnung. Wohlüberlegt zu seinem Vorteil.
Nichts in seiner Seele war rein … nicht mehr.
»Ich habe dich vermisst, Bruder«, sagte er, und ein Lächeln trat auf seine Lippen. »Als ich erfuhr, dass du deine Taten bereuen willst, musste ich zu dir kommen. Ich wollte dich nie verletzen, Bruder. Aber ich hatte keine andere Wahl. Du hast meine Hand geführt.«
»Das weiß ich jetzt. Ich verstehe es.«
Er legte den Kopf schief. »Und du wirst bei unseren Praktiken bleiben?«
Bei dem Gedanken daran wurde mir übel, doch ich zwang mich zu nicken. »Ja«, sagte ich. »Ich werde mich fügen … ich werde stolz an deiner Seite stehen. Du warst immer derjenige, der unser Führer hätte sein sollen. Das sehe ich jetzt ein.«
Judahs Nasenflügel weiteten sich triumphierend.
»Und wenn meine Zeit der Abgeschiedenheit mit der Verfluchten beendet ist, wirst du mir zu Ehren eine Gefährtin nehmen?« Ich nickte. Judah beugte sich vor. »Du wirst mir zu Ehren ein Kind erwecken? Wir haben drei, die für die Feierlichkeiten nach der Hochzeit in der nächsten Woche vorbereitet wurden.«
Meine Wange zuckte, als abrupter, glühend heißer Zorn in mir aufbrüllte. Aber ich unterdrückte ihn weit genug, um zu sagen: »Ja. Ich würde alles für dich tun. Alles.«
Judah öffnete den Mund und wollte noch etwas sagen, als vom Eingang zu den Zellen ein lautes Krachen zu hören war und ich Solomon und Samson laut rufen hörte, als würden sie angegriffen. Judahs Aufmerksamkeit richtete sich auf die offene Tür. »Was zum …?«, fing er an, und ich schnellte vom Boden hoch und warf ihn um.
Judahs vor lauter Schock weit aufgerissene Augen waren das Letzte, was ich sah, als ich die geballte Faust hob und an sein Kinn donnerte. Judah verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Ich achtete genau darauf, wohin ich schlug. Denn ich durfte kein Blut vergießen und seine makellos weiße Tunika beflecken.
»Jetzt!«, rief ich, und sofort eilten mehrere Paar Füße in meine Zelle. Bruder Stephen stopfte Judah das mit Chloroform getränkte Tuch in den Mund. Solomon und Samson halfen mir, Judah die Sachen auszuziehen. Minuten später trug ich die Tunika, und Schwester Ruth hatte Make-up auf meine Blutergüsse aufgetragen. Judah trug nun meine schmutzige Hose.
Mein Herz hämmerte, und Adrenalin rauschte durch meine Adern. Schwester Ruth trat zurück, und ihr traten Tränen in die Augen. »Und?«, fragte ich. »Gehe ich als er durch? Sind die Blutergüsse nicht zu viel?«
Schwester Ruth blickte auf den bewusstlosen Judah am Boden hinab und dann wieder zu mir. »Die Wärter haben dein Gesicht in den letzten Tagen nicht so schlimm verletzt, also ist es gut so.« Sie zögerte und sagte dann: »Ihr beide seid in jeder Hinsicht identisch … es ist … es ist erstaunlich.« Ich atmete erleichtert aus, aber Schwester Ruths plötzliche Traurigkeit berührte etwas in mir. Sie gehörte nicht an einen Ort wie diesen. Ihre Seele war zu gütig, zu zart. Sie sah aus, als wäre sie nicht älter als Ende dreißig. Wenn ich das hier durchziehen konnte, dann konnte sie ein Leben draußen führen. Ein gutes und glückliches Leben.
Noch ein Grund, warum ich nicht scheitern durfte.
»Die Brüder Luke, Michael und James waren im Quartier des Propheten, als ich ihn abholte«, sagte Solomon. »Sie haben die Leute schon für die Zeremonie versammelt. Judah hat den Brüdern mitgeteilt, er wäre bald zurück und würde dann direkt zum Altar gehen.«
Ich warf einen Blick auf meinen bewusstlosen Bruder. »Uns wird nichts geschehen«, sagte Bruder Stephen. Ich holte tief Luft. Gerade als ich gehen wollte, sagte er: »Beschütze sie, Cain. Bring sie zurück zu ihren Schwestern … Bring sie einfach in ein besseres Leben.«
»Ich komme zurück, um euch zu retten«, versprach ich.
Er nickte. »Ich glaube, dass du das kannst.«
Ich warf einen letzten Blick auf meinen Zwilling auf dem Boden. Mir drehte sich der Magen um … und ich wusste: Wenn die Hangmen kamen, würde Judah bezahlen. Es musste so sein, aber … ich konnte den Gedanken, ohne ihn zu sein, kaum ertragen. Er war doch mein Bruder.
Ich verließ den Zellenblock und ging hinaus an die frische Luft. Als ich zum Herrenhaus kam, waren die Brüder Luke, Michael und James dort, so wie Solomon gesagt hatte.
Bruder Luke musterte mich eingehend, als ich eintrat. »Hat er seine Taten bereut?«
Ich nickte und lächelte so, wie Judah es tun würde. Ein stolzes Grinsen. »Natürlich. Er hatte nie vor, ewig dort zu bleiben. Er hat mir seine Gefolgschaft geschworen. Und er akzeptiert mich als seinen Herrn und Propheten.«
Bruder James blickte hinter mich. »Wo ist er?«
Ich winkte ab. »Er ist verdreckt und noch nicht vorzeigbar. Wenn die vier Tage vorüber sind, werde ich ihn holen.« Ich zwang mich zu einem anzüglichen Grinsen. »Und dann werde ich ihn im Zuge der Göttlichen Teilhabe nach der Hochzeit in den Schoß der Gemeinde zurückführen.«
»Er wird teilnehmen?«, fragte Bruder Luke argwöhnisch.
Ich grinste noch breiter. »Nicht nur das, er wird sogar ein Kind erwecken.«
Bruder Luke nahm meine Hand und drückte einen ehrfürchtigen Kuss darauf. »Du bist wahrlich der Prophet, mein Herr. Gott hat dich gesegnet. Er hat uns mit deiner Macht gesegnet.«
Ich legte die Hand auf seinen geneigten Kopf. »Kommt«, sagte ich, »wir müssen Seelen erretten.«
Ich wandte mich wieder um ins Tageslicht, ging voran aus dem Herrenhaus und betete dabei, dass ich meine Rolle ausreichend gut gespielt hatte. Ich wartete auf eine Attacke von den Männern hinter mir …
Aber es kam keine.
Als wir den Altar erreichten, seufzte ich erleichtert. Ich schaute auf das Bett mitten auf der erhöhten Plattform. Eine neue Nervosität flutete durch meine Adern, als ich daran dachte, was ich zu tun hatte … was Harmony mit mir tun musste, damit wir frei sein konnten.
Ich wartete am Altar auf mein Mädchen … und betete dabei die ganze Zeit, dass Judah nicht aufwachte und unseren Plan zum Scheitern brachte.
Dann erschien Harmony am Ende des Ganges, und jeder Gedanke an Judah verschwand … Jetzt hatte ich nur noch ein Ziel. Einen Grund zum Leben … und sie kam auf mich zu, Blumen im Haar, und sah aus wie ein Engel, der vom Himmel gesandt war.
Einfach … wunderschön …
Der Lärm umherhastender Menschen brachte meine Gedanken zurück in die Gegenwart. Ich duckte mich hinter einen Baum in der Nähe und blickte über die Gemeinde. Eigentlich sollte hier doch alles ruhig sein.
Alle waren draußen. Anspannung lag dicht in der Luft, und niemand wirkte gelassen. Ich hatte keine Ahnung, was da vorging, aber als ich Wächter sah, die barsch Befehle riefen, traf es mich wie ein Hammerschlag: Sie bereiteten sich auf den Krieg vor.
Ich glitt zurück zwischen die Bäume. Mein Herz raste so schnell wie meine Füße, als ich durch das dichte Unterholz zum Zellblock rannte. Es war nur ein Tag vergangen. Alle sollten feiern und sich nicht auf den Angriff vorbereiten.
Ich stürmte durch den Eingang – und sah umgeworfene Stühle und Tische auf dem Boden. Ich durchsuchte die Zellen – alle leer.
Mir rutschte das Herz in die Hose.
Niemand war hier.
Judah war verschwunden.
Sie waren alle verschwunden.
Was in aller Welt konnte passiert sein? Ich fuhr mir durchs Haar und wollte überlegen, was ich als Nächstes tun sollte. Da hörte ich ein Geräusch hinter dem Zellenblock. So leise wie möglich schlich ich um das Gebäude herum, um zu sehen, was es war. Dort war eine kleine Zelle in die Wand gebaut. Sie sah aus, als sei sie für Wachhunde vorgesehen gewesen. Jemand schob gerade ein junges Mädchen hinein. Als ich sah, dass es Phebe war, seufzte ich erleichtert.
Ich sah mich hektisch um und prüfte jeden Zoll Land – sie war allein. Dann ging ich lautlos auf sie zu. Phebe zuckte zusammen, als sie mich sah, aber ich erreichte sie rechtzeitig, um ihr die Hand auf den Mund zu drücken. »Sch, Schwester Phebe. Ich bin es. Cain … der echte Cain. Ich bin zurück.«
Phebes Körper war starr in meinen Armen. »Ich lasse dich jetzt los. Bitte schrei nicht. Okay?« Sie nickte, und ich nahm die Hand von ihrem Mund.
Phebe drehte sich zu mir um und versperrte mir den Blick auf das Kind in der winzigen Zelle. Sie war blass, und ich konnte sehen, dass sie viel Gewicht verloren hatte. Sie hatte immer noch Blutergüsse im Gesicht, am Hals und an den Händen. »Du hast es geschafft«, sagte Phebe und starrte auf meine Kleidung. Ihre Augen funkelten. »Du hast sie zu ihnen gebracht … Harmony. Du hast sie weggebracht. Sie ist in Sicherheit?«
Ich nickte, und die Anspannung wich aus ihren Schultern.
»Geht … geht es ihr gut?« Und mir war klar, dass sie diesmal nicht von Bella sprach.
Lilah. Sie meinte ihre Schwester.
»Ja«, sagte ich. »Es geht ihr gut, und sie ist glücklich. Sie ist verheiratet.« Ich sagte ihr nichts von dem abgeschnittenen Haar, der Narbe und der Operation. Phebe war schon gebrochen genug. Wenn ich mich zusammenriss und das hier durchzog, würde sie Lilah noch früh genug sehen.
Phebe wischte sich die Tränen weg. Ich konnte ihre Traurigkeit mitfühlen, aber sie musste mit mir reden. Ich musste wissen, was passiert war. »Phebe, wo sind sie? Wo ist mein Bruder? Was in aller Welt ist passiert?«
Phebe schüttelte den Kopf, ihre Miene war niedergeschlagen. »Er hat sie alle eingesperrt. Bruder Stephen, Ruth, Solomon und Samson.«
Langsam geriet ich in Panik. »Wie? Was?«
»Bruder Luke.«
Ich erstarrte.
»Er und die Wärter kamen heute bei Sonnenaufgang, um dich zu holen.« Sie holte schnell Luft. »Er wusste, dass du deine Taten bereut hast, und wollte dich für die Göttliche Teilhabe nach der Hochzeit vorbereiten. Er wollte dich ins Herrenhaus bringen, damit du essen und baden kannst. Er wollte, dass der Prophet bei seiner Rückkehr sieht, dass sein Bruder bereit ist, an seiner Seite zu stehen.«
»Oh nein«, stöhnte ich und spürte, wie mir das Blut aus den Wangen wich. »Er hat Judah gefunden?«
Phebe nickte. »Er war betäubt gewesen von dem Mittel, das Bruder Stephen ihm verabreicht hatte. Aber das musste abgeklungen sein oder es hatte nicht richtig gewirkt, denn als Bruder Luke in die Zelle kam, konnte Judah ihm mitteilen, wer er war. Und dann … geriet alles außer Kontrolle. Die Abtrünnigen wollten gegen Judahs Wachen kämpfen, aber es waren zu viele. Solomon und Samson konnten es nicht mit allen aufnehmen. Bruder Luke hat Judah weggebracht, und der hat den anderen erzählt, was passiert war und was du getan hast. Die Wachen haben das Haus der Abgeschiedenheit durchsucht und dabei entdeckt, dass du nie dort warst … und dass du Harmony mitgenommen hast.«
Ich schloss die Augen, und mir schwirrte der Kopf, als ich alles zu verarbeiten versuchte. Eine Hand legte sich auf meinen Arm, und ich öffnete die Augen. »Hast du das alles gesehen?«, fragte ich sie.
Phebe nickte. »Die anderen Frauen, die sich um dich kümmerten, hatten für die Feierlichkeiten den Tag freibekommen. Ich war mit Essen für dich losgeschickt worden, als es passierte. Ich konnte mich verstecken.«
»Es tut mir so leid«, sagte ich und meinte jedes Wort davon ernst. Ich fühlte mich schwach vor Furcht und Hoffnungslosigkeit.
Phebe schniefte. »Cain, er hat sie bestraft – Ruth, Stephen, Solomon und Samson. Er … er trifft Vorbereitungen, sie für ihren Widerstand zu töten. Dass du Harmony von der Hochzeit weg entführt hast, hat alle in Raserei versetzt. Sie glauben, dass Gott uns prüft. Judah hat ihnen erzählt, dass Gott uns auf die Probe stellt, um zu sehen, ob wir den Teufel wirklich schlagen können. Der Angriff ist für morgen geplant. Er hat ihn vorverlegt. Er will Rache.« Sie hob die Hand an die Stirn. »Es ist Wahnsinn. Alles ist Wahnsinn.«
Leises Weinen drang aus der Zelle hinter Phebe. Ihre Pupillen weiteten sich, und sie ließ niedergeschlagen die Hand sinken. »Phebe?«, fragte ich und schob sie an den Schultern zur Seite. Dann ging ich in die Hocke und sah ein riesiges blaues Augenpaar, das mich aus der winzigen Zelle heraus anstarrte. Ein kleines Mädchen mit langem blonden Haar.
Mir war sofort klar, wer es war. Ich richtete mich auf und begegnete Phebes Blick. »Sie heißt Delilah«, flüsterte Phebe. Ich stand wie erstarrt da, völlig benommen. Phebe schloss die Augen, öffnete sie wieder und sagte dann: »In zwei Monaten hat sie ihren achten Geburtstag.«
Mir gefror das Blut in den Adern.
»Er hat sie schon zu einer Verfluchten erklärt … und …«, weinte sie. »Er hat entschieden, dass er derjenige sein wird, der sie erweckt, wenn die Zeit kommt.«
Judah. Gottverdammter Mistkerl Judah!
Phebes Blick fiel auf das kleine Mädchen, das zu ihr aufblickte, als sei Phebe ihre Sonne. Phebe bückte sich, und die Kleine streckte die Hände durch die Gitterstäbe. Phebe küsste ihre Hand. »Sie kam kurz vor Harmony und den anderen hier an. Ich sah, wie Judahs Männer sie zu ihm brachten. Als ich die Freude über ihre Schönheit in seinen Augen sah, sagte ich ihm, ich würde mich bis zu ihrem Geburtstag um sie kümmern … aber, Cain, ich hatte immer vor, sie vorher irgendwie hier wegzubringen.«
Phebe drückte noch einen Kuss auf die Hand des Mädchens, richtete sich dann wieder auf und sah mich an. »Schwester Ruth sollte sie mitnehmen, falls ich aus irgendeinem Grund nicht fliehen kann. Ich kann nicht ertragen, sie verletzt zu sehen, Cain … nicht wie bei meiner Schwester. Sie sieht genauso aus wie Rebekah, als sie so alt war. Und … und dann hat er sie auch noch Delilah genannt. Er hat ihr ebenfalls diesen schrecklichen Namen gegeben. Ich wusste, er hat es getan, weil er die Ähnlichkeit sah. Ich muss sie beschützen. Ich kann nicht noch ein Kind leiden sehen. Ich kann … ich kann dieses Leben nicht mehr ertragen. So viel Schmerz …«
Ich zog Phebe an mich und hielt sie in den Armen, während sie weinte. Um ehrlich zu sein, hielt mich die Umarmung davon ab, vor Wut loszubrüllen. Mein Bruder … mein gottverdammter Bruder! Er tat das alles. Alles war schiefgelaufen.
»Es wird immer noch eine geben«, sagte ich. »Mae, Lilah, Maddie, Harmony … und jetzt diese kleine Delilah. Selbst wenn wir alle existierenden Verfluchten retten, wird er immer eine neue finden und sie brandmarken. Er wird immer danach streben, diese beschissene Prophezeiung lebendig zu halten.«
Phebe nickte. »Das … das denke ich auch. Er wird nie aufhören, diesen Kindern wehzutun. Und alles, weil er es zu schwierig findet, ihrer Schönheit zu widerstehen. Er will sie ganz und gar besitzen und sie kontrollieren. So wie uns alle.« Phebe trat einen Schritt zurück und packte meine Lederjacke an den Aufschlägen. »Du musst sie für mich wegbringen. Bring sie einfach nur weg hier.«
»Wo sind Stephen, Ruth, Solomon und Samson jetzt?«, fragte ich und sah auf die Uhr. Fuck. Die Hangmen würden in weniger als zwei Stunden kommen. Was zur Hölle sollte ich nun tun?
Phebe musterte mich eindringlich. »Sie kommen … oder? Die Männer des Teufels?«
Ich nickte. »Ich muss die Unschuldigen fortbringen, Phebe. Der Plan ist zum Teufel. Ich weiß nicht, was ich tun soll …«
»Judah hat sie in die öffentlichen Zellen bringen lassen«, unterbrach mich Phebe. »Damit alle sehen können, wer dafür verantwortlich ist, dass wir ins Chaos gestürzt sind. Damit sie die Seelen sehen können, die der Teufel verdorben hat. Sie sind in den Zellen, die auf die Große Ebene hinausblicken.« Die Große Ebene – der Bereich, wo Judah seine Predigten hielt.
»Fuck!«, schimpfte ich. Das Gelände dort war offen und bot keine Deckung.
Phebe griff nach meinem Arm. »Im Moment ist niemand dort. Die Gemeinde lädt Waffen in Fahrzeuge und bereitet am anderen Ende des Geländes alles für den Angriff vor.«
Also gab es vielleicht doch noch Hoffnung. »Halt dich fern, hörst du? Warte hier. Komm nicht zur Ebene. Von dort werden die Hangmen kommen. Sie kommen, um die Wachen und Judah zu finden. Nimm deine Haube ab und zeige ihnen, wer du bist. Ky, Lilahs Ehemann, kommt auch. Er weiß, wer du bist und wie du aussiehst. Sie werden dich schützen.«
Phebe schloss erleichtert die Augen. »Danke«, flüsterte sie.
Ich wandte mich zum Gehen. Phebe fing an, tröstend auf das Kind einzureden. Ich drehte mich wieder um. »Phebe?« Sie sah mich an. »Lass sie da drin und sag ihr, dass sie still bleiben soll. Egal was passiert, sie muss still sein. Falls etwas passiert …« Ich beendete den Satz nicht.
»Mit mir«, beendete sie ihn.
»Dann komme ich zurück und hole sie. Oder Schwester Ruth kommt. Ich werde dafür sorgen, dass sie befreit wird. Irgendwie. Ich verspreche es.«
Phebe nickte, und als sie einen Blick auf die Kleine in der Zelle warf, sah ich ihre Liebe und Zuneigung darin. Und ich wusste, sie versuchte sie an Lilahs Stelle zu retten. Sie wollte dieses Kind retten, das fast ein Spiegelbild des Kindes war, das sie glaubte, im Stich gelassen zu haben.
»Wie heißt sie?«, hörte ich mich fragen.
Ein Lächeln trat in Phebes Gesicht. »Grace«, sagte sie in ehrfürchtigem Ton. »Ihr Name ist Grace.«
»Ich komme wieder, um dich und Grace zu holen. Aber versuche zuerst Ky zu erreichen. Wenn wir Glück haben, bist du bis heute Nacht wieder bei deiner Schwester. Und Grace auch.«
Damit stürmte ich den Hügel hoch und hielt mich dabei zwischen den Bäumen verborgen. Als die Große Ebene in Sicht kam, sah ich, dass Phebe recht hatte. Das Gelände war verlassen. Die öffentlichen Zellen lagen auf der anderen Seite. Ich vergewisserte mich, dass niemand in der Nähe war, und rannte über den gepflegten Rasen. Ich hatte nicht die Zeit, erst um den Rand herumzuschleichen. Es war schon zu viel Zeit verronnen.
Ich rannte so schnell ich konnte, und meine Brust brannte, als ich mich bis an die Grenze trieb, bis ich die Zellen erreichte. Als ich meine Freunde darin sitzen sah, wurde es mir schwer ums Herz.
»Cain …« Schwester Ruth drehte mir den Kopf zu. Sie war brutal geschlagen worden und konnte sich nur mühsam bewegen. Als ich diese herzensgute Frau solche Schmerzen habend sah, löste das einen Schub tödlichen Zorns in mir aus.
»Ruth«, flüsterte ich.
Schwester Ruth wollte lächeln, doch ihre Lippen waren zu aufgeplatzt.
Solomon schob sich schmerzerfüllt an die stählernen Gitterstäbe. Er war voller Blutergüsse. »Wir haben versagt, Cain. Samson und ich konnten während der Zeremonie den Zaun durchschneiden, aber heute Morgen kamen Judahs Wachen, um dich zu holen, und haben uns erwischt. Wir hatten keine andere Wahl als zu gestehen. Ich habe ihnen das Loch im Zaun gezeigt, durch das ihr gestern geflohen seid, das von heute habe ich ihnen allerdings verschwiegen.« Er ließ den Kopf hängen. »Es tut mir so leid. Ich habe dich im Stich gelassen. Ich bin nur aus einem einzigen Grund hierhergekommen, und ich habe versagt.«
»Nein«, widersprach ich. »Du hast nicht versagt. Ich konnte fliehen. Bella ist in Sicherheit, und die Hangmen sind auf dem Weg hierher. Es tut mir so unglaublich leid, dass ihr verletzt wurdet.«
»Du hast sie weggebracht. Das ist alles, was zählt«, warf Stephen ein und seufzte erleichtert.
Ich nickte. »Aber ihr müsst hier raus. Ich brauche Hilfe dabei, die Unschuldigen wegzubringen. Wir müssen für irgendeine Ablenkung sorgen und die Wachen ausräuchern. Wenn die Hangmen kommen … dann kommen sie, um zu töten.«
Schwester Ruth wurde blass. Ich suchte im Bereich der Zelle nach einem Schlüssel … nach etwas, das mir helfen konnte, das Schloss zu knacken. »Ich brauche einen Schlüssel«, sagte ich hastig.
»Im Haus der Wärter«, antwortete Solomon und zeigte auf eine kleine, in den Bäumen verborgene Hütte.
»Ich bin gleich zurück.« Ich stand auf und wollte zur Hütte … und dann wusste ich, dass ich verloren hatte. Ich fühlte den kalten Stahl eines Gewehrlaufs an meiner Schläfe.
Der Typ mit der Knarre an meinem Kopf bewegte sich vor mich – Bruder Luke. Der gottverdammte Bruder Luke.
Ich fletschte die Zähne und starrte dem Mistkerl in die Augen. Und dann spürte ich noch einen Gewehrlauf an meinem Rücken … und einen an den Rippen.
»Sieht so aus, als wärst du umzingelt«, sagte Bruder Luke. Er versteifte sich, und ich wusste, wer jetzt kam.
Ohne mich um die Knarren zu kümmern, drehte ich mich um. Judah polterte auf mich zu, den bösartigen Blick auf mich fixiert. Ich dachte, ich hätte meinen Bruder schon sauer gesehen, aber nun wurde mir klar, dass er tatsächlich noch ein, zwei Gänge höher schalten konnte. Ich hatte Judah bisher nie derart wütend gesehen.
Er kam direkt auf mich zu und donnerte mir die Faust frontal ins Gesicht. Mein Kopf ging ein wenig nach hinten durch den Schlag, doch Judah war ein lausiger Kämpfer. In seinem Schlag lag keine Kraft.
»Du bist ein Verräter!« Sein Blick glitt über meine Ledersachen. »Hier bist du, wieder in den Kleidern der Männer des Teufels.« Er trat näher. »Du hast mir unsere einzige Chance auf Erlösung genommen. Du bist ebenso eine Hure des Teufels, wie sie eine ist … wie sie alle!«
Ich konnte nicht anders: Ich lachte. Ich lachte Judah direkt ins Gesicht. Doch dann wurde ich sehr schnell wieder ernst und spuckte aus: »Es ist alles eine verdammte Lüge! Das alles hier wurde nur erfunden, damit unser Onkel Kinder vögeln kann, Bruder! Es gab nie eine Pilgerreise nach Israel! Keine Offenbarung in der Grabeskirche! Es gibt keinen Orden, keine Suche nach Erlösung … tatsächlich bin ich mir ziemlich sicher, dass wir mit allem, was wir getan haben, eine One-Way-Fahrkarte in die Hölle gelöst haben!«
Judahs Pupillen weiteten sich. »Du lügst«, knurrte er, und Speichel spritzte von seinen frustriert angespannten Lippen. »Du sprichst mit der Zunge der Schlange! Du bist schwach und wurdest besessen!«
»Wach auf!«, brüllte ich. Judah wich zurück. »Wach endlich auf, verdammt! Du bist kein Prophet! Und wir wissen, dass du nicht eine einzige verdammte Offenbarung von Gott erhalten hast, du verlogener Sack!« Judah wurde blass, und ich spürte, wie die Wärter um uns herum erstarrten. Sie sahen Judah mit besorgtem Stirnrunzeln an.
»Du bist eine Witzfigur, Bruder«, redete ich weiter. »Das sind wir alle. Und wir alle verdienen es, bis in alle Ewigkeit in der Hölle zu schmoren für das, was wir getan haben! Wir verdienen den Tod dafür, dass wir unschuldige Menschen mit uns ins Verderben gestürzt haben!« Ich holte scharf Luft. »Sie kommen, Judah. Die Hangmen sind in weniger als zwei Stunden hier, und sie werden uns alle töten … alle von uns, die diese verdammte Hölle am Laufen halten! Wir müssen die Unschuldigen sofort hier wegbringen. Wenn es eins gibt, das wir versuchen können, um das, was wir getan haben, wiedergutzumachen, dann die unschuldigen Leben zu schonen und sie endlich freizulassen. Sie haben das hier nicht verdient! Wenn du den Hangmen im Krieg gegenübertrittst, besiegelst du nur ihr Schicksal. Sie werden sterben … man wird sie abschlachten wie Schweine!«
Judah zitterte praktisch vor Zorn, aber ich konnte sehen, dass sein Gehirn Überstunden machte. Ich war bloß nicht so sicher, was zum Teufel er dachte. Er trat einen Schritt zurück, dann noch einen und sagte: »In einer Sache hast du recht. Und in einer anderen ja so unrecht.«
Eine seltsame Ruhe überkam meinen Zwilling. Das machte mir noch mehr Angst als sein Zorn. Judah war nie ruhig. Er war reaktiv und explosiv. Das hier stimmte nicht. Die Art, wie er sich verhielt, passte ganz und gar nicht zu ihm!
»Judah«, sagte ich kalt, aber Bruder Luke und die anderen Wärter richteten ihre Waffen noch näher auf mich.
Judah hob die Hände und sagte mit wirrem Blick: »Du hast unrecht. Ich bin der Prophet! Ich fühle es in meinen Adern. Ich kann Gott in mir fühlen! Ich bin die Wahrheit, der Weg und das Licht! Der Messias dieser Zeit!« Ich schloss wütend die Augen. Denn mir war klar, dass Judah das wirklich glaubte.
Er war schon zu tief in seinem Wahn gefangen, um zur Vernunft zu kommen.
»Aber du hattest auch absolut recht.« Ich öffnete die Augen, als ich seinen finsteren Tonfall hörte. Judah gab seinen Wachen mit Fingerschnippen ein Zeichen und deutete auf die Zelle.
»Nein!«, brüllte ich und wollte die Wärter abschütteln. Doch ein Gewehrkolben knallte an meine Schläfe, und ich sah nur noch Sterne. Ein anderer schlug mir ins Gesicht und noch einer in die Rippen. Ich schlug um mich und wollte mich freikämpfen. Aber bevor ich wusste, wie mir geschah, ging die Zellentür auf, und ich wurde hineingestoßen. Ich kam hastig auf die Knie und rammte die Schulter gegen die Stahlgitter, die allerdings nicht nachgaben.
»Judah!«, brüllte ich, doch mein Bruder stand nur da und starrte mich seelenruhig mit einem stechenden Blick an. »Judah!«
Er trat einen Schritt vor und sah mir in die Augen. »Du hattest recht damit, dass das Schicksal unserer Anhänger besiegelt ist, Bruder. Gott hat mir vor vielen Wochen schon gesagt, was ich tun soll, wenn die Männer des Teufels obsiegen. Ich hatte immer einen zweiten Plan. Gott sprach zu mir, und ich tat, wie er befahl. Ich habe uns gut vorbereitet, nur für den Fall. Der Herr würde mich – seine Lichtgestalt – niemals scheitern lassen. Und jetzt ist der Moment gekommen.«
Ich erstarrte, und mir entwich alle Energie, als er sich abwandte. »Was meinst du damit? Was hast du vorbereitet?«, rief ich ihm mit Panik in der Stimme nach. Seine Wärter folgten ihm. »Judah! Was zum Teufel meinst du damit?«
Aber Judah und die Wärter gingen einfach weg. Ich sank auf den harten Boden und blickte meine Freunde an. »Was hat er vor? Was in aller Welt hat er vor? Die Hangmen werden bald hier sein. Sie werden schießen und alle töten.«
Meine Freunde antworteten nicht, denn sie waren ebenso ratlos wie ich. Doch als Minuten in Schweigen verstrichen, konnte ich eine Veränderung in der Atmosphäre spüren. Ein unheilvolles Gefühl in mir, das immer stärker wurde, bis es zu einer Flutwelle aus Grauen geworden war. Ich bekam Judahs viel zu ruhigen Blick nicht mehr aus dem Kopf. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Etwas in ihm war durchgedreht.
Er würde etwas Furchtbares tun … ich wusste es einfach.
Das Knacken der zum Leben erwachenden Lautsprecher hallte über die leere Ebene. Judahs Stimme erklang dröhnend – und mir rutschte das Herz in die Hose. »Mitglieder des Ordens, lasst alles stehen und liegen und versammelt euch auf der Großen Ebene! Beeilt euch! Versammelt alle Kinder und benachrichtigt eure Freunde! Ich wiederhole, alle versammeln sich auf der Großen Ebene. Ich habe eine neue Offenbarung des Herrn erhalten. Und wir müssen uns sputen, denn unsere Erlösung hängt davon ab!« Danach drang blecherne Gebetsmusik aus den Lautsprechern.
Innerhalb von Sekunden versammelten sich die Leute auf der Grasfläche, von uns aus gesehen auf der anderen Seite der Ebene. Ich versuchte, nach ihnen zu rufen und ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, aber meine Stimme war wegen der Musik nicht zu hören. Ich umklammerte die Gitterstäbe und sah, wie Wärter und Älteste der Gemeinde zur Ebene kamen und dabei Karren hinter sich herzogen. Ich kniff die Augen zusammen. Die Karren waren mit großen Fässern beladen.
Stephen, Ruth, Solomon und Samson kamen zu mir ans Gitter. »Was in aller Welt ist das?«, fragte ich, als noch mehr Karren herangerollt wurden. Noch mehr Fässer, und dann Schachteln mit etwas, das ich nicht sehen konnte.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Stephen. »Sie sehen wie Weinfässer aus.«
»Er hält eine Kommunion ab?«, fragte Samson. »Er bricht Brot und Wein?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, warum er jetzt eine Kommunion abhalten sollte, wenn die Hangmen so nahe waren.
Dutzende Menschen füllten die große Ebene. Die Wärter umschwärmten sie wie Geier und befahlen ihnen barsch, sich hinzusetzen. Kinder fingen zu weinen an, und Angst wogte wie ein Sturm durch die Menge. Die Wärter richteten die Waffen auf diejenigen, die zu viel Panik zeigten oder wissen wollten, was los war.
Keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Es fühlte sich an, als seien es nur Minuten, bis die ganze Gemeinde vor uns auf dem Gras saß. Die Hitze war erstickend. Babys weinten und Kinder heulten. Die Erwachsenen beteten ernst und wiegten sich vor und zurück, während die Wärter, ganz in Schwarz, Warnschüsse in die Luft abgaben. Die Angst war greifbar … und ich konnte bloß dasitzen und zusehen.
Mit einem Mikrofon in der Hand ging Judah zur Plattform, die immer auf dem Feld stand. Wie zuvor kam eine unheimliche Stille über ihn … und dann fing er zu predigen an …
»Mitglieder des Ordens«, begann Judah. Er hob eine Hand, und wie immer wurden die Menschen still. Es war unheimlich mit anzusehen, wie sie alle zu ihm aufsahen und an seinen Lippen hingen. Ihre Blicke waren auf ihn fixiert … und ich sah es. Ich sah, hautnah und in Farbe, die absolute Macht, die er über sie hatte, die mir stets gefehlt hatte. Sein Tonfall war magnetisierend, und die Art, wie er den Blick über jede einzelne Reihe der Gläubigen gleiten ließ, schien ihn mit allen auf einer persönlichen Ebene zu verbinden.
Dort oben, auf dieser Bühne, war er ihr Messias.
»Sie werden alles tun, was er von ihnen verlangt«, flüsterte ich. Ich sah zu, wie mein Zwilling zur Seite der Bühne ging, während Hunderte eifriger Augen jede seiner Bewegungen verfolgten.
»Gott hatte uns vor vielen Wochen offenbart, dass wir gegen die Männer des Teufels in einen Heiligen Krieg ziehen müssen. Eine Aufgabe, auf die wir uns wochenlang vorbereitet haben …« Er machte eine kurze Pause und sagte dann: »Doch heute habe ich eine neue Botschaft erhalten. Eine wichtige Botschaft … eine, die all unsere Seelen retten wird, ohne dass wir den Dämonen von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten müssen.«
Ich kniff die Augen zusammen, als er den Kopf hängen ließ. Als er wieder aufblickte, zeigte er auf die Wärter und die Ältesten. Mir drehte sich der Magen um, als ich sah, dass die die Fässer und die versiegelten Schachteln öffneten.
»Kannst du sehen, was darin ist?«, fragte Stephen. Ich reckte den Hals, um etwas zu erkennen.
»Spritzen«, sagte ich dann verwirrt. Ich schaute Ruth und Stephen an. »Wofür brauchen sie Spritzen und Wein?«
Niemand sagte etwas. Also sahen wir weiter zu. Wir sahen, wie die hingebungsvollsten Frauen und Männer versammelt und zu den Karren geschickt wurden. Sie füllten die Spritzen mit dem tiefroten Wein aus den Fässern. Dann sammelten die Männer und Frauen die Spritzen in Körben und gaben sie an die Erwachsenen weiter, die auf dem Gras saßen. Die Kinder sahen neugierig zu und griffen nach den Spritzen.
Judah sah mit einem stolzen Lächeln zu. Aber mir gefiel sein Lächeln nicht. Nichts daran war beruhigend. Ich war völlig verwirrt.
»Was ist so wichtig an diesen verdammten Spritzen?«, zischte ich. Ich geriet in Panik, als die Wärter und Ältesten eine Mauer um die Leute bildeten. Eine gottverdammte Mauer. Ich umklammerte die Gitterstäbe so fest, dass meine Fingerknöchel weiß wurden.
Judah nahm wieder das Mikrofon. »Der Herr hat jeden Einzelnen von euch – uns – erwählt. Nur ihr, die wahrlich Gesegneten, habt den rechten Weg in dieser Welt voll mit Bösem und Sünde gewählt. Der Herr hat gesehen, wie wir ihm in den letzten Wochen gehorcht haben, und er ist stolz.« Judahs Miene wurde besorgt. »Aber wir haben dabei auch gegen den Teufel gekämpft. Einen mächtigen Gegner. Einige unserer treuesten Mitglieder wurden verdorben und unter Satans Kontrolle gebracht. Und die Prophezeiung, die unsere Erlösung garantierte, wurde von einem verkleideten Dämon vereitelt … einem Menschen, dem ich mein Leben anvertraut hätte.« Mir wurde es schwer ums Herz: Er sprach von mir.
»Doch dann sprach Gott erneut zu mir.« Judah lächelte, und die Menschen lächelten zurück. »Gott in all seiner unendlichen Weisheit und Güte sah, wie ergeben wir seiner Sache waren, seinem Namen … so sehr, dass wir bereit waren, durch die Tore der Hölle zu schreiten und unsere Seele für seinen Ruhm zu opfern … damit wir stolz bei ihm im Himmel wohnen können, zufrieden in der Gewissheit, dass wir ihm in diesem Leben bis zum Äußersten gedient haben.«
Judah trat wieder in die Mitte der Bühne. »Mitglieder des Ordens. Der Herr hat heute zu mir gesprochen. Er rief mich, als wir uns auf den Kampf vorbereiteten. Wir glaubten, dass wir den Kampf zu den Toren des Teufels tragen würden, aber die Wahrheit ist … sie kommen hierher. Tatsächlich sind sie schon auf dem Weg.«
Die Menge brach in einen entsetzten Taumel aus. Menschen sprangen auf und wollten die Mauer der Wärter durchbrechen. Doch die stießen sie zurück und schlugen mit den Gewehrkolben nach ihnen, um sie zurückzutreiben.
Bruder Michael und Bruder James feuerten einen Schuss nach dem anderen in die Luft. Die Menschen fielen wieder zu Boden. Ich beobachtete Judah und bekam Gänsehaut. Er sah von der Bühne aus zu, verschlang das Geschehen geradezu mit den Augen. Er genoss das Chaos. In diesem Moment war er der Herr über die Unschuldigen.
Er warf einen Blick zur Seite und streckte die Hand aus. Seine Gefährtin Sarai kam auf die Bühne und nahm seine Hand. Ich konnte sehen, dass Judah sie, auf seine eigene Art, liebte. Und sie liebte ihn, doch es war eine Liebe, die alles andere als großartig war. Es war eine Liebe, geboren aus Grausamkeit und Besessenheit. Eine bösartige Seele, gebunden an eine andere bösartige Seele.
Sarai nickte, als er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie küsste ihn auf die Lippen und schenkte ihm ihr aufmunterndstes Lächeln.
Er wandte sich wieder der Menge zu. Die Menschen waren vollkommen still geworden. Alle warteten auf die nächsten Worte ihres Propheten. »Heute werden wir den Teufel mit seinen eigenen Waffen schlagen. Wir wissen, dass der Teufel die Gläubigen herausfordert, indem er ihre Seelen in diesem Leben in die Falle lockt und sie mit Lastern und Gier in Versuchung führt … mit drohendem Tod. Doch wir, die wahrhaft Gläubigen, fürchten den Tod nicht. Wie könnten wir auch, wenn wir schließlich wissen, wohin unsere reinen Seelen gehen – ins Paradies. Gott ruft uns, sein auserwähltes Volk, dazu auf, den Tod willkommen zu heißen. Er ruft uns auf, die Pläne des Teufels zu vereiteln.«
Ich saß mit angehaltenem Atem da, als er den Rest seiner sogenannten Offenbarung verkündete. »Satan schickt nun seine Männer zu uns. Sie kommen, um Unheil anzurichten und nichts als Sünde und Pein zu verbreiten. Also müssen wir Satan mit der größten Rebellion von allen konfrontieren.« Die Menschen beobachteten Judah mit großen, vertrauensvollen Augen, als er verkündete: »Wir werden unser Leben in seine Hände legen. Wir werden uns seinem Willen unterwerfen. Mitglieder des Ordens! Wenn die Männer des Teufels kommen, werden wir nicht länger im Geiste hier sein. Sie werden den Verlust unserer gefangenen Seelen betrauern, wenn sie unsere leblosen Körper auf dieser heiligen Erde liegen sehen. Doch wir werden mit unserem Herrn in Zion frohlocken! Wir werden ihre Bosheit überwinden. Menschen, freut euch über diesen Tag, denn schon bald werden wir am Tisch des Herrn speisen!«
Die meisten brachen in manisches Freudengeschrei aus, hoben die Hände in die Luft und priesen meinen Bruder und den Herrn. Andere saßen bewegungslos da, verängstigt … gefangen durch die Wachen.
»Nein!«, brüllte ich, als mir klar wurde, was nun kommen würde. Ich packte die Gitterstäbe fester. »Die Spritzen … das ist kein Wein … das ist Gift … fuck! Er bringt sie um … er bringt sie alle um!«
»Nein!«, rief Ruth neben mir geschockt.
»Judah!«, brüllte ich, und Panik und Abscheu tobten in mir. Aber die Musik war lauter als ich.
»Alle, die neben einem Kind sitzen, haben zwei Spritzen erhalten – eine für euch, eine für das Kind. Als die heiligen Betreuer, die wir mit so viel Stolz sind, werden wir die unschuldigen Seelen der Kinder zuerst zum Herrn schicken.« Judah lächelte ein gütiges, liebevolles Lächeln. »Er wird sie in seiner Wärme hegen und pflegen, bis wir gleich darauf zu ihm kommen.«
»Oh nein!«, rief Schwester Ruth. »Die Kinder … er will auch die Kinder töten.«
Mir wurde speiübel. Ich brüllte ohne Ende, als ich sah, wie Judah allen bedeutete, weiterzumachen. Die Frauen und Männer, die neben Kindern saßen, drehten sich zu ihnen um. Tränen traten mir in die Augen, als die Kleinen mit so viel Vertrauen zu den Erwachsenen aufblickten … so viel verdammtes Vertrauen, dass sie alles mit sich machen ließen.
Ich rüttelte an den Gitterstäben, bis die Haut aufriss und meine Hände bluteten. Meine Schultern protestierten lautstark, als ich die Tür aus den Angeln zu reißen versuchte, doch das Ding wollte sich einfach nicht rühren. Ich hörte Solomon und Samson neben mir vor Wut aufbrüllen und den Wachen zuschreien, dass sie aufhören sollten. Stephen war vor Entsetzen kreideweiß im Gesicht. Ruth sank weinend auf die Knie, als niemand unser Schreien hörte.
Aber ich konnte nicht aufhören. Obwohl es nutzlos war, konnte ich einfach nicht aufhören. »Judah!«, brüllte ich, meine Stimme ging allerdings im Lärm unter. »Judah!«, schrie ich, immer und immer wieder …
Dann sah ich, wie die Erwachsenen den Kindern die Spritzen in den Mund steckten und sie aufforderten, die Flüssigkeit zu schlucken. Ich erstarrte zur Salzsäule, während die Erwachsenen danach dasselbe taten.
Ich sah nur noch rot. Und mir war nur noch schlecht.
Was auch immer in den Spritzen war, es tötete die Kinder nicht schnell. Sie fingen vor Qual zu schreien an, und ihre kleinen Körper wanden sich auf dem Boden. Blutiger Schaum quoll ihnen aus dem Mund, als sie um Atem rangen, sich am Hals kratzten und die Hände verzweifelt nach Hilfe ausstreckten … aber es war niemand da, um sie zu retten.
Niemand war da, um ihren Schmerz zu lindern …
Niemand hier scherte sich je um die Kinder in dieser Hölle. Sie waren immer allein … und Judah sorgte dafür, dass selbst ihr Tod noch einsam und schmerzvoll war.
Die Dosis der Erwachsenen zeigte ebenfalls langsam Wirkung. Einer nach dem anderen ging zu Boden und wand sich zuckend vor Qual auf der Erde.
In der Panik versuchten einige Leute aufzustehen und wegzulaufen und warfen ihre Spritzen weg. Und ich sah hilflos zu, wie die Wärter sie zurück auf den Boden zwangen, sie festhielten und ihnen das Gift in den Mund zwangen.
Sie ermordeten sie … sie ermordeten sie alle!
Eine Gruppe in Bruder Lukes Bereich riss sich los und hastete auf die Bäume zu. Er hob die Waffe und jagte ihnen eine Salve Kugeln in die Leiber. Ruth schrie neben mir auf, als sie zu Boden fielen.
Die Ältesten waren die Nächsten. Ihre Körper fielen aus der menschlichen Mauer, die sie bildeten, nieder, nachdem sie bereitwillig die Flüssigkeit aus den Spritzen getrunken hatten. Qualvolle Schreie mischten sich mit der Musik zu einer Kakofonie der Todesqual. Wärter eilten um die Körper herum, um sich zu vergewissern, dass alle das Gift genommen hatten.
Wie in einer Welle wurde das Zucken der Kinder langsamer, bis sie stumm und reglos wurden. Dann die Erwachsenen und schließlich die Ältesten. Es war wie in einem Horrorfilm. Menschen, die überallhin eilten, Chaos und Hysterie, Durcheinander überall.
Dann plötzlich blitzte etwas Rotes an der Zellentür auf. »Phebe«, rief ich verzweifelt, »mach die Tür auf!«
Phebe hielt den Schlüssel in der Hand. Ihre Hände zitterten vor Angst, und Tränen verschleierten ihren Blick, als sie sich abmühte, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Mein Herz donnerte wie eine Kanone, als ich an all dem Wahnsinn vorbei versuchte, Judah im Chaos auszumachen.
Das Schloss ging auf. Ich stieß die Tür auf, als gleichzeitig schwerer Beschuss von den weiter entfernten Bäumen zu hören war. »Die Hangmen!«, rief ich. Ich stürmte hinaus und blickte über die Ebene. Die Wärter hatten sich von den Sterbenden abgewandt und rannten, die Waffen im Anschlag, auf die Hangmen zu. Ich sah, dass ein paar vor dem Gefecht flohen.
Verdammte Feiglinge!
Ich warf einen Blick in Richtung der Schüsse und konnte Männer in Schwarz zwischen den Bäumen hervorkommen sehen. Auch wenn es nur elf von ihnen waren, sahen sie irgendwie trotzdem wie eine verdammte Armee aus. Sie schlugen mit perfekter Präzision zu. Die Wärter gingen zu Boden, Kugeln in Kopf oder Herz.
Phebe wich zurück zwischen die Bäume. Ich begegnete ihrem angstvollen Blick. »Grace … ich muss zu Grace!« Phebe rannte zurück zum Zellenblock. In der Ferne, neben der Bühne, sah ich meinen Bruder.
Mein Körper vibrierte vor Zorn, und ich wollte auf ihn losgehen. Ich rannte los. Ich rannte wie der Teufel. Aber als ich mich den Leichen näherte, die hingemordet auf dem Boden lagen, stockten meine Schritte. Meine Hände hoben sich an meinen Kopf, als ich auf die leblosen Gesichter sah, die zu mir hochstarrten. Unbeschreiblicher Zorn tobte in mir. Ich zwang mich, aufrecht zu bleiben. All die Körper, die da Meter um Meter hingestreckt lagen, so weit das Auge reichte. Und jedes Mal, wenn ich das verängstigte Gesicht eines Kindes sah, drang ein schmerzerfüllter Schrei aus meiner Kehle.
Ich zwang mich, wegzuschauen und die Toten hinter mir zu lassen. Ich suchte die Ebene ab. Judah hockte immer noch bei der Plattform wie eine verdammte Ratte. Ich würdigte die Hangmen nicht einmal eines Blickes. Der rote Nebel in meinen Augen und der brennende Zorn in meinem Herzen kannten nur ein Ziel.
Den verdammten, mörderischen Bastard mit meinem Gesicht.
Mein Atem hallte in meinen Ohren, als ich meine Beine zu Höchstleistungen antrieb. Als ich einen toten Wärter auf dem Boden liegen sah, nahm ich die Waffe aus seiner Hand und zog ihm das Messer aus dem Gürtel. Plötzlich hörte ich hinter mir eine Frau schreien. Ich wirbelte herum, denn ich fürchtete, dass es Schwester Ruth war. Aber dann lächelte ich ein verdammtes blutrünstiges Lächeln, als ich Ky sah, mit der Hand um Sarais Kehle. Der Bruder hob sie vom Boden hoch, während sie die Nägel in seine Arme krallte. Er jagte ihr sein Messer in den Bauch und ließ sie dann zu Boden fallen. Anschließend stellte er sich neben ihrem toten Körper und spuckte auf die Leiche. Ich sah, wie die Hangmen die Wärter niedermetzelten und alle Mistkerle massakrierten.
Schließlich drehte ich den Kopf.
Neben der Bühne blitzte etwas Weißes auf und rannte auf die Sicherheit der Bäume zu. Aber meine Beine trieben mich entschlossen vorwärts. Sie hielten nicht an, bis ich am Ende der Plattform stehen blieb … wo mein Zwilling erstarrte und mir in die Augen sah.
Seine Nasenflügel weiteten sich, als ich ihn finster anstarrte, die Waffe im Anschlag, auf sein Herz gerichtet. Und sogar jetzt noch, mitten in Tod und Vernichtung, sah er nicht so aus, als täte ihm irgendwas leid.
Der Scheißkerl war sogar noch stolz darauf.
Immer noch so voller verdammtem Stolz. Bis zu diesem Moment hätte ich nie gedacht, dass es möglich war, derart viel Hass und Liebe zugleich für einen Menschen zu empfinden. Den Hass verstand ich, aber die Liebe … die machte mich total wütend. Ich wollte mir das verräterische Herz aus der Brust reißen und auf die toten Körper um uns herum werfen.
»Bruder.« Judahs Stimme riss mich aus meiner Wut, und unsere Blicke aus identischen Augen trafen sich. Ich registrierte, dass es in der gesamten Gemeinde still geworden war. Nicht ein verdammter Vogel sang in der Ferne – der schwere Vorhang des Todes, so sinnlosen Todes, vertrieb alles Leben aus seiner verseuchten Luft.
Und deshalb stand ich reglos da und starrte meinen Bruder an. Denn auch ich fühlte mich tot. Absolut innerlich tot. Bloß rasende Wut hielt mich noch aufrecht … Wut und die Gewissheit, dass ich in nur ein paar Minuten Judahs leblosen Körper zu Boden werfen würde, damit er sich zu seiner sadistischen kleinen Hure in der Hölle gesellen konnte.
»Bruder«, sagte Judah wieder und hob die Hände.
»Oh nein!«, schrie ich. »Wage es ja nicht, mich so zu nennen!«
Judah sah sich um und ließ den Blick über die Leichen gleiten. »Es musste getan werden, Bruder. Ich konnte nicht zulassen, dass die Sünder uns zu Fall bringen. Ich wusste immer, dass das vielleicht unser Weg sein würde. Ich musste darauf vorbereitet sein. Unsere Anhänger, sie verstanden das. Und auch sie wollten es so.« Er redete mit einer solchen Seelenruhe, so distanziert von dem verdammten Massenmord, den er gerade angeordnet hatte, dass es mir eiskalt über den Rücken lief. »Der Teufel wird niemals über uns triumphieren.« Er lächelte und schloss die Augen. »Heute Nacht werden unsere Anhänger am Tisch des Herrn speisen; sie werden unseren Onkel treffen, unseren Gründer, am himmlischen Fluss des ewigen Lebens.«
»Du bist doch total irre«, flüsterte ich, als ich sah, wie er sich in seiner Herrlichkeit sonnte, während seine gemordeten Opfer nur einen Schritt von uns entfernt lagen.
Judah breitete die Arme aus und sah mir in die Augen. »Nein, Bruder. Ich war immer stark in meinem Glauben. Du warst immer derjenige, der seine sündigen Handlungen und Gedanken nicht unter Kontrolle bringen konnte. Du warst derjenige, der sich nicht einfach an die Lehren halten und unseren Schriften und Glaubensbekenntnissen folgen konnte. Du hattest alles, die Erlösung, in deinen Händen, und doch hast du das alles weggeworfen.«
»Sie waren falsch. Das alles ist falsch«, widersprach ich mit zusammengebissenen Zähnen. Ich zeigte auf den winzigen Fuß eines Kindes direkt links neben mir. »Du hast Leben beendet wegen einer verdammten Lüge! Du hättest sie retten können! Du hättest sie gehen lassen können!«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Sie mussten sterben. Sie mussten ihr Leben opfern zum Wohle ihrer Seele.« Und das war der Moment, in dem es mir absolut klar war … ich musste ihn selbst töten.
Er musste von meiner Hand sterben. Erlegt werden wie ein räudiger Hund.
Ohne den Blick von meinem Bruder abzuwenden, ließ ich Knarre und Messer fallen. Judah kniff die Augen zusammen, als ich auf ihn zuging. Ich wusste, dass er die Entschlossenheit in meinem Blick sah, hob die Hände und wich zurück. »Bruder«, sagte er vorsichtig, als ich näher kam, »das kannst du nicht tun. Du hast es schon einmal versucht und konntest nicht bis zum Ende gehen, weißt du noch? Ich bin dein Zwilling. Ich bin der einzige Mensch von deinem Blut … du wirst mir nicht das Leben nehmen … wir brauchen einander. So war es immer.«
Ich ließ seine Worte über mich fluten und in den stillen Himmel davontreiben. Dann ballte ich die Hand zur Faust und holte aus. Als meine Faust sein Gesicht traf, zwang ich mich dazu, nichts zu empfinden. Judah, nicht gewöhnt an jegliche Form von Gewalt, ging augenblicklich zu Boden. Ich stürzte mich auf ihn und jagte ihm Faust um Faust ins Gesicht, bis sein warmes Blut auf meine Haut spritzte.
Ich schlug zu, immer wieder, bis sein Gesicht in nichts mehr aussah wie mein eigenes – blutig, mit gebrochener Nase und aufgeplatzten Lippen. Ich schlug zu, bis ich nach Luft schnappte und mein Körper vor Anstrengung schmerzte.
Dann richtete ich mich auf und fuhr mir mit einer blutbesudelten Hand durchs Haar. Doch als ich den Blick senkte, waren Judahs Augen immer noch auf mich gerichtet, während er sich blinzelnd mühte, durch das Blut hindurch zu sehen. Ich bückte mich und flüsterte ihm ins Ohr: »Du musst sterben, Bruder.« Als ich die Worte aussprach und Judahs Atem über meine Wange streifen fühlte, sein hämmerndes Herz an meiner Brust wahrnahm, da verschwand die Taubheit, die ich umarmt hatte, und überließ mich dem nackten Schmerz.
Allem verdammten qualvollen Schmerz dieses beschissenen Moments.
Er war am Leben. Judah lebte noch … wir waren gemeinsam auf diese Welt gekommen. Wir hatten alles zusammen durchlebt. Er war meine einzige Quelle des Trosts gewesen. Mein einziger Verwandter … und doch wusste ich, dass er sterben musste, genau hier und jetzt … aber ich konnte nicht … ich konnte nicht …
Das Gefühl von Judahs Hand an meinem Hinterkopf war fast mein Untergang. Denn sie griff nicht hart oder grob zu. Sie war sanft und zärtlich … es war die Berührung meines Zwillingsbruders, der mich liebte.
Judah holte tief Luft, und sein Atem rasselte von den Schlägen, die ich ihm verpasst hatte. Ich hielt still. Judah drehte den Kopf und führte den Mund an mein Ohr. »Cain …«, keuchte er heiser, und die Zuneigung in seinem Tonfall brach mir das Herz. »Ich … ich liebe dich …« Ich presste die Augen zu und schluckte einen erstickten Aufschrei hinunter. »Mein Bruder … mein Herz …« Seine Finger in meinem Haar spannten sich an.
Tränen liefen mir über die Wangen, aber ich ließ sie fließen. Ich ließ mein Herz unter dem unbändigen Kummer in meiner Seele brechen. Ich hielt den Kopf gesenkt, unfähig es zu tun, während mir doch klar war, dass ich es tun musste … niemand war in Sicherheit, solange er am Leben blieb …
Aber als ich gerade den Kopf heben wollte, sagte Judah: »Böses gebiert Böses, Cain. Jede Sünde, die meine Seele verfinstert, lebt auch in dir. Wir sind gleich. Gleich erschaffen … gleich geboren …«
Ich erstarrte. Mein Mund öffnete sich, und ich rang mühsam nach Luft. Böses gebiert Böses … Böses gebiert Böses … ich konnte nicht verhindern, dass Judahs Worte in meinem Kopf kreisten. Und jede neue Wiederholung traf mich wie eine Salve Kugeln.
Denn er hatte recht, aber …
»Ich hätte so etwas nie getan«, flüsterte ich. Dann hob ich den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. »Ich hätte niemals so etwas getan … etwas so Verdorbenes … du hast sie ermordet … sie alle …«
Judah lächelte. »Doch, hättest du … hast du schließlich auch …«, antwortete er, und mir wich das Blut aus dem Gesicht. »All dies …«, krächzte er, »geschah in deinem Namen.«
Judahs Grinsen wurde breiter, und ich sah Triumph in seinen blutunterlaufenen Augen auflodern. »Sie starben mit deinem Namen auf den Lippen … Prophet Cain.«
Ich schüttelte den Kopf, immer wieder. »Nein«, knurrte ich. »Nein!«, brüllte ich.
Judah lächelte ein blutiges Lächeln. »Wir haben es getan … das alles … gemeinsam.«
Und als seine schroffe Stimme an meine Ohren drang, hieß ich die Finsternis, die am Rande meines Herzens lauerte, willkommen. Und ich ließ mich von ihr verschlingen. Ich ließ die Schwärze meiner Wut jedes Licht verschlingen, das noch in meiner Seele übrig sein mochte.
Mit einem ohrenbetäubenden Brüllen warf ich mich nach vorn und drückte die Hände um Judahs Kehle. Vor lauter Schock hatte er die Augen weit aufgerissen, und da sah ich es … ich sah den Zweifel in seinem Blick, dass ich es zu Ende bringen würde. Fast konnte ich seine Stimme in meinem Kopf hören, während ich immer fester zudrückte. »Du hast es schon einmal versucht, Bruder. Du konntest es damals nicht, und du wirst es auch jetzt nicht tun. Du wirst nicht fähig sein, mir in die Augen zu blicken und das Leben daraus entweichen zu sehen … ich bin dein Bruder … ich bin dein Zwilling …«
»Nein!«, brüllte ich die imaginäre Stimme in meinem Kopf an. »Ich muss es tun!«, spie ich in Judahs rot werdendes Gesicht. »Ich muss … du musst für deine schlimmen Taten bezahlen … für alles büßen …«
Judah fing zu zappeln an, als meine Finger um seinen Hals immer fester zudrückten und ihm die Luft abschnürten. Seine Beine unter mir traten panisch um sich, und seine Finger krallten sich verzweifelt in meine Arme … doch ich wandte nicht einen Moment den Blick ab. Nicht eine Sekunde, als seine Haut fleckig wurde und die Äderchen in seinen Augen platzten.
Ich drückte noch fester zu, bis meine Finger vor Anstrengung schmerzten. Judahs Beine wurden langsamer. Seine Hände an meinen Armen fielen herab. Tränen traten ihm in die Augen und liefen ihm über die Wangen. Und ebenso flossen meine Tränen und vermischten sich auf der entweihten Ebene.
Und dann, als aller Widerstand aus seinem Körper wich, bewegten sich Judahs Lippen, und er flüsterte: »Cain … Cain …« Ich biss die Zähne zusammen, als mein Name über seine Lippen kam – mein wahrer Name, der Name, den ich ihn so oft mit Liebe und Zuneigung hatte aussprechen hören. Der Name, den ich ihn unter Lachen in unserer Kindheit hatte rufen hören … in guten wie in schweren Zeiten.
Und dann rührte er sich gar nicht mehr. Und ich sah zu. Ich starrte ihm in die Augen, als das Leben aus seinem Körper wich und seine braunen Augen glasig wurden im frischen Schleier des Todes …
… und ich konnte nicht wegsehen. Ich konnte weder die Hände bewegen noch die Tränenflut aufhalten, als mein Bruder und bester Freund nun als entseelte Leiche zu mir hochstarrte.
Und obwohl die Nacht feucht und heiß war, lief es mir eiskalt über den Rücken. Meine Hände waren um seinen Hals erstarrt … ich konnte mich nicht rühren …
Meine Arme begannen zu zittern. Das Zittern erreichte meine starren Finger, und sie lösten sich von Judahs Hals. Die roten Abdrücke meiner Hände waren wie Brandmale auf seiner Haut zu sehen. Ich schloss die Augen. Doch alles, was ich sah, war Judahs trübe werdendes Gesicht, das mir zuflüsterte: »Cain … Cain …«
Er hatte mich angefleht, ihn zu verschonen … aber ich konnte nicht … ich konnte es einfach nicht …
Ich öffnete die Augen wieder und zwang mich, von seiner Leiche zu steigen. Als ich mich allerdings umdrehte und mich Hunderten toten, vergifteten Anhängern gegenübersah, konnte ich nur den Kopf schütteln. Ich fuhr mir durchs Haar und blickte mich in alle Richtungen um, auf der Suche nach irgendeiner Art von Frieden – doch ich fand nichts.
Tränen machten meinen Blick verschwommen, aber ich konnte sehen, dass alle Hangmen mich anstarrten … ich gab einen erstickten Schrei von mir, bei so viel Tod, beim Anblick endloser, sinnloser Morde, zu viele, um sie zu ertragen … zu begreifen …
Meine Beine gaben nach, und ich sackte auf den Boden … genau neben Judah. Mein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, der mich von innen zerriss. Doch die Finsternis in meinem Herzen blieb, floss wie ein Sturzbach durch jede Ader und löschte alles aus, was hell und gut war. Ich warf den Kopf nach hinten und brüllte. Ich schrie, bis mein Schmerz das einzige hörbare Geräusch war.
Als ich nichts mehr übrig hatte, fiel ich nach vorn auf die Hände und schnappte nach Luft. Lange, verzweifelte Atemzüge, aber nichts nahm den Schmerz weg, diesen verdammten qualvollen Schmerz in meinem Herzen.
Plötzlich spürte ich eine Hand in meinem Rücken. Ich zuckte zusammen und setzte mich auf, bereit, gegen jeden zu kämpfen, der als Nächster auf mich losging. Doch als ich aufblickte, stand Smiler vor mir. Er starrte mich mit einem unlesbaren Ausdruck im Gesicht an … und dann streckte er die Hand aus. Ich sah sie an und wusste nicht, was zum Henker ich tun sollte. Smiler schluckte. »Nimm.«
Also gehorchte ich. Ich streckte meine zitternde Hand aus und nahm die Hilfe meines ehemals besten Freundes an. Smiler zog mich vom Boden hoch. Ich sah kein einziges Mal zurück auf Judah. Ich konnte es einfach nicht.
Mein Blick glitt über die versammelten Hangmen. Sie hatten alle überlebt. Und sie alle starrten mich ungläubig an. »Rider … was zum Teufel …?«, fragte Smiler heiser und deutete auf die toten Menschen.
»Er ist aus der Zelle entkommen. Er hat sie getötet. Er hat sie dazu gebracht, sich selbst zu töten. Ich …« Ich verstummte. »Ich konnte es nicht aufhalten. Ich konnte sie nicht retten … die Kinder … keins von ihnen …«
Mein Blick fiel auf Ky, und plötzlich kam mir Phebes Gesicht in Erinnerung. »Phebe«, flüsterte ich und rannte um die Toten herum, bis ich die Bäume erreichte. Ich rannte weiter und hörte währenddessen die Hangmen, die hinter mir herkamen. Ich rannte zwischen den Bäumen hindurch zum Zellenblock und schlug dabei die Zweige beiseite, die mir in den Weg kamen.
Hinter dem Block stürmte ich aus dem Gebüsch und konnte zum ersten Mal wieder richtig Luft holen. Stephen und Ruth standen neben der kleinen Außenzelle und versteckten hastig etwas hinter sich.
Als Ruths geschwollene, verfärbte Augen mich sahen, drückte sie sich die Hand auf den Mund und schrie auf. Dann barg sie das Gesicht an Bruder Stephens Brust und weinte.
Ich stand wie erstarrt da und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich hörte die Brüder hinter mir zwischen den Bäumen heranstürmen. Stephens und Ruths Mienen wurden angstvoll.
Das Geräusch von Waffen, die entsichert wurden, ließ mich herumwirbeln. Ky, Flame und Styx hatten ihre Halbautomatiks auf meine Freunde gerichtet. Ich hob die Hand. »Nein«, brachte ich noch mit rauer, krächzender Stimme heraus. »Das sind die Abtrünnigen, die mir geholfen haben, Bella zu befreien. Sie sind unschuldig.«
Styx fixierte Stephen mit zusammengekniffenen Augen. Ich wandte mich an Stephen: »Dieser Mann ist mit Mae zusammen.« Danach zeigte ich auf Flame. »Flame ist mit Maddie verheiratet.«
Bruder Stephens prüfender Blick glitt über den Präs und Flame. »Danke«, sagte er dann zu den beiden Brüdern … und zu mir. »Danke, dass ihr sie gerettet habt, als ich es nicht konnte. Ich kann euch nie vergelten, was ihr für meine Mädchen getan habt.«
Von den Bäumen war ein Rascheln zu hören. Die Hangmen reagierten sofort und hoben die Waffen. Solomon und Samson kamen herangestürmt und taumelten geschockt rückwärts, als sie elf Knarren auf ihre Köpfe gerichtet sahen. Sofort blieben die beiden kräftigen Brüder stehen und hoben die Hände.
»Das sind Solomon und Samson«, erklärte ich hastig. »Auch sie haben uns geholfen.«
»Diese zwei Gorillas haben geholfen?«, fragte Bull.
Ich nickte. Styx senkte die Hand und bedeutete den Brüdern, die Waffen zu senken.
»Wir müssen schleunigst hier weg«, sagte Ky.
AK trat vor. »Wo ist der Rotschopf? Sie war doch auch an dem Ganzen beteiligt, oder?«
Ich sah mich suchend um den Zellenblock herum um. »Er hat sie mitgenommen«, sagte Solomon. »Dieser Mistkerl Meister hat sie mitgenommen. Wir haben ihn verfolgt, aber er hatte einen Wagen in der Seitenstraße bereitstehen. Da kamen wir zu Fuß nicht hinterher.«
Tanner sah Tank an. »Das ist nicht gut für sie«, meinte er, und Tank legte frustriert den Kopf in den Nacken.
»Sie hat uns freigelassen«, sagte ich und fühlte nichts als Schuld. »Sie hat sich geopfert, um uns zu befreien. Sie hat uns gebeten, ihr nur mit einer Sache zu helfen, und wir haben versagt.«
Stille wog schwer um uns, und ich ertrank in Schuld.
Doch da sah ich zwischen Ruth und Stephens Beinen blondes Haar aufblitzen. Ich sah Ruth in die Augen. »Er hat sie nicht erwischt?«, fragte ich.
Ruth schüttelte den Kopf. »Ich denke, Phebe hat sie hier zurückgelassen, damit sie in Sicherheit ist … sie … sie hat ihr das Leben gerettet.«
»Wovon zur Hölle redet ihr alle?«, fragte Ky und wippte unruhig auf den Füßen. Der Bruder verlor langsam die Geduld.
Ruth wandte sich an Styx. »Phebe hat mir ein Versprechen abgenommen, falls sie es nicht aus der Gemeinde schafft, wenn es Zeit ist, zu fliehen. Sie hat mich gebeten, ihre Schwester in der Außenwelt zu suchen. Ihr Name ist Rebekah.«
Ky drängte sich nach vorn. »Das ist meine Frau. Rebekah … Lilah, Phebes Schwester. Sie ist meine Frau.«
Ruth holte Luft, doch statt einer Antwort drehte sie sich um. Als sie sich dann wieder zu Ky umdrehte, hielt sie das kleine Mädchen an der Hand, das Phebe gerettet hatte. »Phebe wurde zur Hüterin dieses kleinen Mädchens bestimmt.« Ruth zuckte zusammen. »Sie wurde erst kürzlich als eine Verfluchte Tochter der Eva benannt.«
Ich schaute Ky an, doch der hatte den Blick fest auf die Kleine fixiert. Ihre Haube war verschwunden, und das lange blonde Haar fiel ihr über den Rücken. Ihre großen blauen Augen starrten zum VP hoch. »Fuck«, flüsterte Ky und schluckte.
»Sie hat keine Eltern.« Ruths Gesicht verzog sich vor Kummer. »Vor allem jetzt.« Sie drückte die Kleine enger an ihr Bein und umarmte sie. »Phebe wollte, dass ihre Schwester sie aufnimmt und ihr ein schönes Leben bietet. Sie sagte … sie sagte, das Kind erinnere sie an ihre Schwester, als sie noch klein war.« Ky blieb stumm, und wenn ich mich nicht irrte, waren seine Augen feucht geworden. Ruth wartete auf eine Antwort von Ky, doch der konnte nur nicken. Ruth strich über Grace’ blondes Haar. »Sie war Phebe wichtig, denn sie konnte nicht ertragen, dass ihr dasselbe widerfahren würde wie ihrer Schwester. Sie hat sie von den Männern ferngehalten.« Ruth zeigte auf das Kind. »Judah hat ihr vor Kurzem ihren Namen als Verfluchte gegeben – Delilah.«
»Wie ist ihr richtiger Name?« Kys Stimme klang brüchig und leise.
»Grace«, antwortete ich. »Phebe sagte mir, ihr richtiger Name sei Grace.«
Ky nickte und sagte: »Dann kommt sie auf jeden Fall mit uns.« Ich sah, dass die Brüder Blicke wechselten, unsicher, was zur Hölle gerade ablief. Es war zu viel. Alles zu viel.
Styx räusperte sich und fing an, die Hände zu bewegen, während Ky, wie immer, übersetzte. »Sie kommen mit uns. Wir haben Wagen am östlichen Punkt abgestellt, wo wir reingekommen sind. Und wir müssen nun wirklich abhauen.«
Ruth hob Grace in ihre Arme, und die verängstigte Kleine vergrub das Gesicht an ihrem Hals. Und wir rannten. Wir machten, dass wir raus aus der Gemeinde kamen. In weniger als zwanzig Minuten waren wir auf dem Weg zurück zum Quartier der Hangmen … und die Gemeinde lag hinter uns und war Vergangenheit.
Ebenso wie mein Glaube.
Und mein toter Bruder …
… gemeinsam mit meinem letzten Akt der Buße.
Denn ich wusste, was mir als Nächstes bevorstand. Aber es war mir willkommen. Ich hatte meinen Bruder getötet, weil es gerecht war.
Jetzt war es Zeit, das zu beenden, was vor langer Zeit begonnen hatte.
Und auch das war nur gerecht.