16

Rider

Der Morgen dämmerte schon, als wir zum Quartier kamen. Ich fühlte mich wie betäubt, während ich an der Seite meiner ehemaligen Brüder zurückfuhr.

Immer wenn ich daran dachte, was passiert war, wollte mein Kopf es verdrängen. Ich wollte mir die Gesichter der Toten ins Gedächtnis rufen, aber sie waren bloß verschwommen. Ich versuchte mich an Judahs letzten Atemzug zu erinnern … doch mein Gedächtnis war total leer.

Als wir uns den Toren des Quartiers näherten, begannen meine Hände zu zittern. Ich wollte es aufhalten, konnte es allerdings nicht. Ich sah, dass Smiler mich auf seiner Maschine neben mir musterte.

Aber ich konnte einfach nicht aufhören zu zittern.

Die Tore gingen auf, als wir herankamen. Und mir ging schier das Herz über, als die Tür des Clubhauses aufflog und Bella herausrannte, Mae, Lilah und Maddie hinter sich. Beauty und Letti folgten ihnen. Sie sahen noch genauso aus wie beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte.

Bellas verzweifelter Blick glitt suchend über die Gruppe. Als ihre blauen Augen mich fanden, presste sie die Hände auf den Mund. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie auf mich zulief. Ich zwang mich, von der Maschine zu steigen, um sie zu begrüßen. Sie blieb abrupt vor mir stehen. »Rider«, flüsterte sie und musterte mich geschockt.

Ich blickte an mir herab. Ich war bedeckt mit Judahs Blut. Dann hob ich die Hand: Sie war leuchtend rot, und an den Knöcheln war die Haut abgeschürft.

Bella streckte die Arme aus und schlang sie um meine Taille. Ihr besorgter Blick suchte meinen. Ich sah ihr in die Augen, und auch mir liefen Tränen über die Wangen. Bella schloss die Augen und atmete tief ein.

Als sie sie wieder öffnete, sagte sie: »Du hast es getan … ist er … ist er verschwunden?«

Ich nickte, denn es gab keine Worte. Ich konnte nichts sagen. Bella schmiegte sich an mich und ignorierte dabei das getrocknete Blut an mir. Ich umarmte sie so fest ich konnte.

Ich brauchte sie.

Ich brauchte sie so sehr.

Dann hörte ich Stimmen um uns herum. Ich hörte, wie die Brüder beschrieben, was passiert war. »Massenselbstmord … Gift … auch die Kinder … Rider hat ihn getötet …«

Bella versteifte sich in meinen Armen, und ihre Lippen zitterten. »Alle sind tot? Die Unschuldigen … die Kinder …?«

Ich nickte mit geschlossenen Augen. Bella löste sich aus meiner Umarmung, und ich öffnete die Augen. Ihre Augen waren feucht vor Trauer. »Ruth, Stephen, Samson, Solomon? Sie sind alle … tot?«

»Nein«, brachte ich hastig heraus und drehte mich zu den geparkten Trucks um. Hush öffnete die Wagentür, und Solomon und Samson stiegen aus. Bevor sie nur einen Schritt machen konnten, lief Bella zu ihnen, umarmte einen nach dem anderen und weinte vor Erleichterung. Sie erwiderten die Umarmung verlegen.

Bella löste sich von ihnen, als Bruder Stephen vom Rücksitz glitt, und begrüßte ihn mit derselben Erleichterung. Mir blutete das Herz, denn sie wusste nicht einmal, dass sie gerade ihren Vater umarmte.

Einen Vater, der sie vergötterte.

Bruder Stephen schloss die Augen und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel, ehe er einen Schritt zurücktrat und prüfend die Menge betrachtete. Dann erstarrte er. Ich folgte seinem Blick und sah, dass Mae und Maddie zusahen, wie Bella ihre Freunde begrüßte.

Stephen wandte sich von Bella ab und hob die Finger an die Augen. Und ich hatte plötzlich das Bild im Kopf, wie ich dasselbe bei Bella machte, dort im Badezimmer des Motels …

Bella blickte zu ihm auf. Und ich sah den Moment, in dem sie die Veränderung in seiner Erscheinung bemerkte. Sie trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Schließlich hob sie die Hand an die Augen. »Deine Augen«, flüsterte sie, »sie sind … sie sind wie meine …« Bella drehte sich zu Mae. »Und wie die von Mae.«

Stephen sah die drei Schwestern an, eine nach der anderen, und sagte dann zu Bella: »Ich bin dein Vater, Bella … und der von Mae und Maddie.«

»Was?«, flüsterte Bella.

Er sah sie gerührt an. »Ich wurde in die Gemeinde der Abtrünnigen verbannt, weil ich mit euch allen zu fliehen versuchte, als ihr klein wart.« Er zeigte auf Maddie. »Maddie war noch ein Baby. Du und Mae wart Kleinkinder.« Maddie musterte Stephen, die Arme um Flames Taille geschlungen. Ihre grünen Augen waren ganz groß, als sie Stephens Offenbarung lauschte.

Styx hatte den Arm um Maes Schulter gelegt. Mae hörte mit ungläubig offen stehendem Mund zu.

»Warum?«, fragte Bella. »Warum hast du es mir nicht gesagt? Warum hast du deine Augen vor mir verborgen? Und diese Wahrheit verheimlicht?«

Stephen seufzte tief. »Weil ich dir nicht noch mehr Schmerz bereiten wollte. Du hattest schon so viel durchgemacht. Ich wusste immer, dass wir zur Gemeinde zurückkehren und versuchen würden, sie zu Fall zu bringen. Ich wollte nicht, dass du um mich trauerst, falls ich dabei umkomme. Du hast es verdient, glücklich zu sein … ich hatte dich schon so oft zuvor im Stich gelassen. Ich konnte den Schmerz nicht verhindern, den ihr alle unter den Händen des Propheten durchgemacht habt … ich … ich war unwürdig, euer Vater zu sein.«

Mae fing zu weinen an und barg das Gesicht an Styx’ Brust. Maddie blieb still und wirkte, als stünde sie total unter Schock. Aber nicht Bella. Sie fand die Kraft, die sie immer wieder aufbrachte, eilte los und legte die Hände an Stephens Wangen. »Ich … ich hätte so oder so um dich getrauert, wenn du gefallen wärst. Du warst meine Familie … du bist meine Familie.«

»Bella«, flüsterte Stephen sanft und küsste sie auf die Wange.

»Du hast mich gerettet«, flüsterte Bella und umarmte ihn. »Als ich nach Puerto Rico gebracht wurde, warst du es, der mich nicht sterben ließ. Du hast mich geheilt. Mich versteckt. Du hast mir Sicherheit gegeben.«

Sie drehte sich zu Mae und Maddie um und streckte die Hand aus. Mae ging sofort zu ihr. Maddie rührte sich erst nicht, doch dann löste sie sich aus der Geborgenheit in den Armen ihres Mannes und ging zu ihren Schwestern. Sie war nervös und hatte den Kopf gesenkt. Aber Mae blickte ihrem Vater in die Augen.

Stephen lächelte die Töchter an, die er nie getroffen hatte. »Ihr seid alle so wunderschön«, sagte er. »Schöner als ich mir je vorgestellt hatte.« Mae senkte den Kopf, stürzte allerdings einen Moment später zu meiner Überraschung vorwärts und schloss Stephen in die Arme. Zuerst sah er geschockt aus, doch dann wandelte sich sein Gesicht zu einem Ausdruck tiefer Erleichterung. Erleichterung und Liebe.

Mae wich wieder zurück, wischte sich die Augen trocken, und Stephen sah Maddie an. Bella legte den Arm um die Schultern ihrer jüngsten Schwester. Maddie drückte sich an Bella und streckte Stephen schließlich zitternd die Hand hin.

Stephen lächelte. Er legte seine Hand in ihre und schüttelte sie. »Freut mich, dich wiederzusehen, Maddie.«

Maddie atmete tief durch. »Freut mich auch, dich kennenzulernen.« Ihre Stimme war kaum zu hören, aber ich konnte sehen, dass das für ihren Vater nicht wichtig war. Für einen kurzen Moment vertrieb es die Finsternis aus meinem Herzen.

Hinten in der Menge sah ich eine Bewegung. Lilah kam langsam näher, den Blick auf Stephen gerichtet. Sie blieb neben ihren Schwestern stehen. »Phebe?«, fragte sie. An der Niedergeschlagenheit in ihrem Gesicht konnte ich sehen, dass sie wusste, dass ihre Schwester nicht bei uns war.

Dass ich sie nicht gerettet hatte.

Stephen ließ den Kopf hängen. Dann sah er sie an und fragte: »Du bist Delilah … Rebekah?« Lilah zuckte zusammen, als sie ihren ursprünglichen Namen hörte, nickte aber. Ky trat an die Seite seiner Frau.

»Phebe hat uns bei der Flucht geholfen«, sagte Stephen. »Sie hat so viel geopfert, um uns zu helfen. Und das alles dir zu Ehren. Deine Schwester … sie liebt dich sehr. Alles, was sie tat, hat sie für dich getan.«

Lilah gab ein ersticktes Schluchzen von sich. »Ich liebe sie auch sehr«, weinte sie. Ky drückte seine Frau an sich.

Stephen wippte nervös auf den Füßen. »Sie wurde von einem Verbündeten Judahs verschleppt. Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wohin er sie gebracht hat.«

Lilah weinte stärker an Kys Schulter. Er ließ ihr einen Moment Zeit und hob dann ihr Kinn mit einem Finger hoch. »Baby«, sagte er vorsichtig, »Phebe hat darum gebeten, dass du etwas für sie tust. Sie braucht deine Hilfe.«

»Ich verstehe nicht«, antwortete Lilah.

Ky legte die Hände an ihre Wangen. »Du musst doch nur wissen, dass ich bei dir bin, nicht wahr? Du kannst das. Himmel, Baby, du wurdest dafür geboren.« Lilah klammerte sich fester an die Arme ihres Mannes. Sie wollte etwas darauf sagen, doch da stieg Schwester Ruth hinten aus Cowboys Truck.

Sie lächelte mir nervös zu und drehte sich dann wieder zum Rücksitz um. Ky ging mit Lilah zum Truck hin. Lilahs Schritte waren langsam und nervös. Ruth hob Grace vom Rücksitz, und die blonde Schwester erstarrte vor Schock.

Ruth stellte die Kleine auf den Boden und nahm ihre Hand. Dann ging sie auf Lilah zu und führte dabei das angstvolle Kind mit den weit aufgerissenen Augen mit. Grace starrte auf die Menschen, die sie alle musterten, doch als ihr Blick Lilahs fand, konnte sie nicht wegsehen.

Lilah holte Luft, und Ky drückte sie fester an sich. »Du bist Phebes Schwester?«, fragte Ruth.

Lilah nickte.

»Phebe hat sich um dieses Kind gekümmert.« Ruth verdrängte die erstickende Rührung aus ihrer Stimme und sagte: »Judah hatte sie vor Kurzem zu einer Verfluchten Tochter der Eva erklärt.«

»Oh nein«, flüsterte Lilah. Bella, Mae und Maddie sahen mit traurigen, wissenden Mienen zu.

»Judah wollte sie sich an ihrem achten Geburtstag nehmen«, fuhr Ruth fort. »In zwei Monaten.«

»Also hat er nicht … er hat sie nie gezwungen, zu …?« Lilah verstummte. Sie konnte es nicht aussprechen.

»Nein«, antwortete Ruth. »Deine Schwester hat sie gerettet. Sie hat sie weggesperrt, um sicherzugehen, dass sie in Sicherheit ist … hätte sie es nicht getan, wäre Delilah heute wie all die anderen hilflosen Kinder umgekommen.«

Lilah war vollkommen erstarrt. »Delilah?«, flüsterte sie mit völliger Niedergeschlagenheit in der Stimme.

»Ja«, antwortete Ruth. »Ihr Name als Verfluchte ist Delilah. Judah hat sie so genannt, weil sie genauso aussieht wie du.« Delilah stieß einen leisen Schrei aus.

Ich räusperte mich und sagte: »Grace.« Lilah sah mich verwirrt an. Ich zeigte auf die Kleine, die bereits völlig hingerissen von Lilah zu sein schien. »Ihr Name, bevor mein Bruder sie benannte, war Grace. Phebe hat sie nie anders genannt.« Ich schob mir das Haar aus dem Gesicht. »Sie will, dass du sie annimmst und aufziehst, als wäre sie dein Kind. Sie hat Grace gerettet, damit du ihr ein besseres Leben schenken kannst. Denn sie konnte nicht mit ansehen, wie noch ein Kind so verletzt wird wie du« – ich begegnete Lilahs tränennassem Blick –, »so wie ihr alle.«

Grace trat einen Schritt vor und zupfte an Lilahs langem cremeweißen Kleid. Lilah blickte zu ihr hinab, und Grace fragte nervös: »Du … du bist Tante Phebes … Schwester?«

Lilahs Gesicht verzog sich vor Kummer, und mit Kys Hilfe bückte sie sich auf Augenhöhe zu Grace. »Du hast dieselbe Haarfarbe wie ich«, sagte die unschuldig, und das zerriss mir das Herz.

Ky wandte den Blick ab, und ich wusste, dass es ihm genauso ging. Lilah lächelte die Kleine milde an. »Stimmt.«

Grace zeigte auf Lilahs Augen. »Und dieselben Augen.«

»Ja«, sagte Lilah mit belegter Stimme. »Auch blau.«

Grace legte den Kopf schief und wurde rot. Sie knetete ihre Hände. »Tante Phebe hat gesagt …« Grace blickte zu Ruth hoch, wie um Erlaubnis zu fragen. Ruth nickte ermunternd. Grace ging näher zu Lilah und sagte: »Tante Phebe hat gesagt, du sollst meine … Mama werden?« Die Kleine schluckte. »Bist du … ist das wahr? Bist du meine Mama? Ich hatte noch nie eine Mama.«

Einen Moment lang wandten Lilah und Ky beide den Kopf ab, um ihre Tränen unter Kontrolle zu bringen. Dann lächelte Lilah unter Tränen und nickte. »Ja, Grace. Ich werde deine Mama sein.«

Grace’ Lächeln erleuchtete praktisch den finster werdenden Himmel. Scheu ging sie näher zu Lilah hin, die sie in eine sanfte Umarmung zog. Lilah blickte zu Ky auf und strahlte ihn an. Anschließend löste sie sich wieder von der Kleinen und zeigte auf Ky. »Ky, mein Ehemann … Er wird dein Papa sein, Grace. Er wird dein Papa …« Ky biss die Zähne zusammen, als Grace zu ihm hochspähte.

»Hey, Kleine«, meinte er unwirsch.

Grace lächelte ihn an, und ich hörte, wie Ky die Luft wegblieb. »Du siehst auch aus wie ich«, sagte Grace und zeigte auf ihr Haar.

»Stimmt«, antwortete Ky heiser. »Dasselbe Haar und dieselben Augen, Kleine.«

Grace schaute wieder zu Lilah. »Wird Tante Phebe auch bei uns leben?«

Grace’ Frage trübte schlagartig Lilahs Freude. Stephen ging neben Grace in die Hocke. »Tante Phebe musste für eine Weile weg, Grace. Sie wollte, dass du zuerst deine neuen Eltern kennenlernst.«

Grace nickte, als ergebe das alles vollkommen Sinn.

»Haben wir ein Haus?«, fragte Grace Lilah. »Tante Phebe hat gesagt, dass ihr wohl ein Zuhause habt. Mit einem Bett.« Sie zögerte kurz und sagte dann: »Ich habe noch nie in einem richtigen Bett geschlafen. Nur auf einer Matratze auf dem Boden im Quartier der Kinder. Der Prophet hat gesagt, dass ich sehr bald mit ihm in seinem Bett schlafen würde. In einem richtigen Bett, aber das ist noch nicht passiert.«

Lilah zuckte bei Grace’ Worten zusammen, und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich wieder gefasst hatte. Ich schluckte die Übelkeit bei dem Gedanken daran, was Judah mit der Kleinen vorgehabt hatte, hinunter. »Ja«, sagte Lilah atemlos. »Wir haben ein Zuhause … mit einem Zimmer, das, glaube ich, nur auf dich gewartet hat.«

Grace lachte vor Freude, und Lilah stand auf und warf ihren Schwestern mit überwältigter Miene einen Blick zu.

»Na komm, Kleine, wir zeigen dir dein neues Zuhause.« Ky bückte sich und hob Grace in seine Arme. Lilah, Ky und Grace gingen, und Grace blickte vollkommen fasziniert zu den beiden auf.

Die anderen Brüder marschierten einer nach dem anderen ins Clubhaus. Und ich hatte keine verdammte Ahnung, was ich tun sollte. Plötzlich stand Bella an meiner Seite. Sie wirkte vollkommen fassungslos über alles.

»Bella«, rief Mae, »ich nehme Stephen und Ruth mit zu uns, damit sie sich ausruhen können. Styx wird deinen anderen beiden Freunden Zimmer im Clubhaus geben.« Mae sah mich an und lächelte. »Ich bin sicher, du möchtest gern Zeit mit Rider verbringen.«

Styx sah mir mit einem vielsagenden, finsteren Blick in die Augen. Ich verstand seine Botschaft – eine Botschaft, die nicht laut ausgesprochen würde. Dann hob er die Hände und gab mir ein Zeichen. Ich nickte und nahm dann Bellas Hand.

»Was hat er gesagt?«, fragte sie.

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Dass ich mich in seinem alten Zimmer im Clubhaus säubern kann.« Bellas Lächeln brach mir fast das Herz.

»Er vertraut dir wieder?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Bella legte eine Hand an meine Wange. »Komm. Du brauchst Ruhe. Und ein Bad.«

Ich ließ mich von ihr zum Clubhaus führen und ging dann mit ihr zu Styx’ altem Zimmer. Es sah noch genauso aus wie früher. Bella schloss die Tür hinter uns, sperrte alles andere draußen aus und blieb vor mir stehen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Mir schwirrte der Kopf. Meine Augen brannten von zu vielen Tränen. Und ich war müde.

So verdammt müde.

Wortlos begann Bella mich der Kleidung zu entledigen. Ich ließ sie machen. Meine Arme hingen schlaff herunter, als sie mir Jacke und Shirt auszog. Und währenddessen betrachtete ich ihr faszinierendes Gesicht, und ein Hoffnungsschimmer flackerte in meinem dumpfen Herzen auf.

Denn jetzt würde sie frei sein.

»Wie alt bist du wirklich?«, fragte ich, denn mir war plötzlich klar geworden, dass sie keine dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte. Noch ein Trick, damit Judah nicht herausfand, wer sie wirklich war.

Bella erstarrte. »Sechsundzwanzig. Ich bin sechsundzwanzig.« Sie fuhr mit der Hand über meinen bloßen Oberkörper. »Und du?«

»Vierundzwanzig«, antwortete ich. »Aber ich fühle mich älter. Ich fühle mich, als hätte ich eintausend Leben gelebt.« Ich lehnte mich an die Tür. »Ich bin müde, Bella. Ich … ich bin so verdammt müde.«

In ihrer Miene blitzte Sorge auf. Wortlos nahm sie meine Hand und führte mich ins Badezimmer. Wie gewohnt war das Bad sauber und voll ausgerüstet mit Handtüchern und allem möglichen anderen Zeug, das man gebrauchen konnte – die Clubschlampen buhlten immer um Anerkennung. Bella ging zur Dusche. Anfangs hatte sie Schwierigkeiten, sie anzustellen, doch schon bald drang Dampf hinaus ins Badezimmer. Ich atmete die warme Luft ein und schloss die Augen.

Sanfte Hände berührten plötzlich den Knopf meiner Lederhose. Ich blickte nach unten: Bella zog mir die Hose über die Beine, bis sie unten war und ich nackt vor ihr stand.

Sie hob die Hände an die Träger ihres Kleides und schob sie sich von den Schultern. Als das Kleid zu ihren Füßen auf dem Boden lag und sie unverhüllt vor mir stand, konnte ich nur auf ihren wunderschönen Körper starren.

Sie war so verdammt perfekt, so gut und so verdammt stark …

Ich verdiente sie nicht.

Sie nahm meine Hand und führte mich in die Duschkabine. Ich atmete zischend ein, als das heiße Wasser auf die Wunden auf meiner Haut traf. Bella drehte mich mit dem Gesicht zum Wasserstrahl, und ich ließ sie machen. In diesem Augenblick wollte ich keine Entscheidungen treffen. Ich wollte nicht mehr die Führung übernehmen. Ich wollte nicht denken, wollte mich nicht erinnern … an gar nichts.

Das Wasser prasselte auf meinen Kopf. Bellas Hände glitten an meinen Körper, und sie fing an, die Überreste des Tages abzuwaschen – all das Blut und das Entsetzen darüber, dass ich die Unschuldigen nicht hatte retten können.

Ich schnappte nach Luft und drückte die Hand an die Fliesenwand, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, als die Erinnerungen durch die Risse in meinem mentalen Panzer sickerten. Aber Bella hörte nicht auf. Ihre Hände massierten Shampoo in mein langes Haar und meinen Bart und säuberten sie vom Blut … so viel Blut.

Und dann kamen die Gesichter der Toten zurück wie eine Flutwelle, eins nach dem anderen … so viele, die völlig verängstigen Gesichter der Kinder, die um sich schlugen, die Hände Hilfe suchend ausgestreckt, die doch niemand ergriff. Die Menschen, die erschossen wurden, als sie in Todesangst zu fliehen versuchten. Die Schreie, die Musik, die die Todesqualen übertönte.

Und dann Judah … der mich mit ersticktem Atem »Bruder« nannte und mir sagte, dass er mich liebte, während ich das Licht aus seinen Augen schwinden sah, das Leben … Cain … Cain … sein verstummtes Herz.

Ein lauter, schmerzerfüllter Aufschrei brach durch die Stille in der Dusche. Erst als ich auf den Boden der Duschkabine sank, begriff ich, dass der Schrei von mir gekommen war. Meine Beine hatten nachgegeben, bis ich zusammengesunken unter dem schweren Wasserstrahl hockte.

»Rider!«, rief Bella und fiel neben mir auf die Knie. Mein langes nasses Haar hing wie ein Schirm vor meinem Gesicht. Aber da waren Bellas Hände, die mich sanft nach hinten drückten, bis ich an der Wand lehnte.

»Rider … Baby …«, flüsterte sie. Mitgefühl lag in ihrer leisen Stimme. Doch das machte den Schmerz nur schlimmer.

Ich wollte den Kopf schütteln, um die ungewollten Bilder loszuwerden und die Schreie auszublenden. Allerdings gingen sie nicht weg. Sie wurden bloß noch lauter. Ohrenbetäubende, qualvolle, entsetzte Schreie.

Ich wiegte mich vor und zurück und drückte mir die Hände auf die Ohren. Das Wasser prasselte weiter auf mich ein, und ebenso die Erinnerungen. Zwei Hände legten sich um meine Handgelenke und zogen meine Hände vom Kopf weg.

»Bella«, flüsterte ich mit vor Anstrengung brechender Stimme, »ich habe ihn getötet … ich habe ihn getötet, weil er sie alle umgebracht hat.«

Bella nickte und schob sich zwischen meine Beine, bis ihre Stirn an meiner ruhte. Ich weinte noch mehr, als ich ihre Wärme auf meiner Haut spürte, ihre sanften Hände in meinem Haar, auf meiner Haut. Aber ich konnte den Schmerz und die Pein nicht aufhalten … »Ihre Gesichter wollen nicht mehr aus meinem Kopf«, flüsterte ich. Ich presste die Augen zu, doch alles, was ich sah, waren die Spritzen, die den Kindern in den Mund gezwungen wurden. Ihre vertrauensvollen, unschuldigen Augen, keine Gegenwehr. Ich schluchzte erstickt. »Ihre Schreie wollen nicht aufhören.«

Ich öffnete die Augen und hob die Hände. Ich konnte immer noch das Blut sehen. Ich konnte Judahs Blut sehen. »Blut«, platzte ich heraus. »Bitte … wasch das Blut weg …«

Bella nahm meine Hände. Sie untersuchte die Haut, und ihre Finger fuhren über die dicke rote Flüssigkeit, die sich in meiner Handfläche sammelte. »Rider«, flüsterte sie. »Da ist kein Blut, Baby. Es ist alles weg.«

»Nein«, widersprach ich und hob die Hände höher. »Es ist immer noch da. Ich kann es sehen.« Ich hob meine Hände vor ihr Gesicht. »Es ist immer noch da … das Blut meines Bruders … ich kann es sehen …«

Bella gab einen erstickten Laut von sich. Ich erstarrte und blinzelte das Wasser aus meinen Augen weg. »Bella?«, fragte ich leise. Dann riss ich die Hände zurück, als sie einen Kuss auf meine Handfläche drückte. »Nein!«, rief ich und rappelte mich hastig auf. Doch ich rutschte auf dem Fliesenboden auf und landete krachend wieder auf dem Boden.

»Rider!« Bella drückte die Hände an meine Schultern, um mich zu beruhigen. Mein Atem ging unregelmäßig, als ich mich mühte, wieder Luft zu bekommen. »Hör zu«, beschwor sie mich. »Hör mir zu!«, wiederholte sie, als ich nicht aufsah.

Als ich es tat, war sie direkt vor mir. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter vor meinem, und sie saß rittlings auf meiner Taille. Sie blickte mir genau in die Augen. »Baby«, tröstete sie, »du siehst Dinge, die nicht da sind.« Sie hielt inne, während ihre Worte mich erreichten. Dann legte sie die Hand an meine Wange. »Du siehst Blut, aber es ist alles weg. Ich habe alles abgewaschen. Du bist rein, Baby, du bist frei.«

»Nein.« Ich tippte mir an den Kopf. »Die Schreie und die Gesichter … sie sind hier drin gefangen. Ich kann nicht … ich kann sie nicht verjagen.« Ich lehnte den Kopf nach hinten an die harte Fliesenwand. »Ich habe ihn getötet, Bella … ich habe ihn mit bloßen Händen getötet. Und ich habe gesehen, wie fassungslos er war, dass ich, sein Bruder, es tun konnte … er starb mit dem Wissen, dass ich es war, der ihn in die Hölle geschickt hat.«

Bella antwortete nichts darauf, sondern streckte die Hand aus und stellte die Dusche ab.

Sie griff nach meiner Hand. »Komm mit«, sagte sie leise. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich rühren konnte, aber als sie aufstand und das Licht im Badezimmer hinter ihr wie ein Heiligenschein um ihren Kopf leuchtete, wusste ich, dass ich ihr überallhin folgen würde.

Sie war ein echter Engel … mein Engel.

Ich legte meine Hand in die von Bella und ließ mir von ihr aufhelfen. Ich wankte, doch ich zwang mich vorwärts und folgte ihr aus der Dusche. Sie nahm ein Handtuch und fing an, mich von oben bis unten abzutrocknen.

Als wir beide trocken waren, führte Bella mich aus dem Badezimmer zum Bett. Meine Beine schmerzten, als ich mich neben sie legte. Ich musterte ihr Gesicht und sie meins.

Mein Blick glitt nach unten über ihre Brüste, ihren Bauch, ihre Beine. Als ich die Narben an den Innenseiten ihrer Oberschenkel sah, erstarrte ich. Übelkeit stieg in mir hoch … die stammten von den Göttlichen Teilhaben …

»Sie sind vorbei«, sagte sie und schob sich näher zu mir. »Rider«, hauchte sie, »es wird keine mehr geben, dank dir.«

»Aber sie sind alle tot«, sagte ich.

»Wegen Judah«, widersprach sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Als ich Judah sagte, dass die Hangmen kommen, hat er seine Pläne geändert. Das hat ihn dazu gebracht, Bella. Es hat ihn dazu gebracht, alle zu töten. Er wollte sie lieber tot sehen, statt dass sie gerettet werden. Selbst als alles verloren war, fand Judah einen Weg, es noch schlimmer zu machen.« Ich unterdrückte einen Schrei. »Ihre Gesichter, Bella … sie … sie hatten solche Angst …«

»Sch«, machte sie und drückte die Lippen auf meinen Mund. Ihre Brüste pressten sich an meinen Oberkörper. Ich spannte mich an, als ihre Lippen sich an meinen zu bewegen begannen, doch dann, als ihr süßes Aroma auf meiner Zunge explodierte, erwiderte ich den Kuss.

Unter ihrer Berührung kehrte das Leben in meine Muskeln zurück. Ich schob die Hände in ihr Haar. Bella stöhnte an meinem Mund, und ich rollte mich herum, bis ich auf ihr lag. Ich löste mich von ihrem Mund, denn ich musste sie unter mir betrachten. Mein Puls jagte, als ich den Kopf nach hinten bog. Bellas langes schwarzes Haar lag wie ein Fächer auf den weißen Laken, und ihre Pupillen waren geweitet vor Verlangen.

Verlangen nach mir.

»Bella.« Ich streichelte über ihre weiche Wange. Sie fing meine Finger ein und führte sie an ihre Lippen. Dann drückte sie mir einen Kuss auf die Handfläche und legte meine Hand auf ihr Herz. Mein Herz übernahm die Kontrolle, und ich öffnete den Mund. »Ich liebe dich«, flüsterte ich, und die Worte kamen direkt aus meiner Seele.

Bellas Lider gingen zu … und dann spielte ein Lächeln um ihre Lippen. Mein Herz hämmerte. Sie öffnete die Augen und begegnete meinem Blick. »Ich liebe dich auch, Rider. So unmöglich es auch für mich ist, zu begreifen, wie man jemanden so sehr lieben kann … ich tue es. Von ganzem Herzen … liebe ich dich.« Und mein kalter Leib fühlte sich durchdrungen von hellem, warmem Licht.

Ich senkte den Kopf und küsste sie, und im selben Moment fing Regen an die Fenster zu prasseln an. Ein trüber Blitz erleuchtete das Zimmer, gefolgt von lautem Donnergrollen in der Ferne. Aber ich zuckte mit keiner Wimper, als der Sturm heranrollte. Bellas sanfte Hände glitten meinen Rücken hoch, und ihre Zunge streifte über meine. Bei ihr war ich geborgen. Ruhig.

Ich nahm ihr Stöhnen in mich auf und schob mich zwischen ihre Beine. Als ich ihre Klitoris fand, stöhnte ich tief auf. Bellas Hände glitten nach hinten an meine Oberschenkel und führten mich langsam in sie. Meine Arme, neben ihren Kopf gestützt, zitterten, als ich ihre Wärme um mich spürte. Ich biss die Zähne zusammen und drang ganz in sie. Bella legte den Kopf nach hinten, während meiner nach vorn sank und ich Küsse auf ihren schlanken Hals drückte. Ihre Hände glitten durch mein Haar und hielten mich eng an sie gedrückt.

»Rider«, flüsterte sie. Ich zog die Hüften zurück und stieß mich wieder in sie, küsste sie wieder auf den Hals und hob dann den Blick. Bellas Kopf rollte auf das Kissen. Ihr Blick begegnete meinem … und ihr Lächeln brach mir das Herz.

In so kurzer Zeit war sie mein Ein und Alles geworden. Mein Morgen, Mittag und Abend. Mein Grund, um jeden Tag wieder zu erwachen. Am Ende war sie der größte Segen gewesen, um den ich je hätte beten können.

Eine Heilige für den ultimativen Sünder.

Ich griff nach ihren Händen, verschränkte ihre Finger mit meinen und führte sie über ihren Kopf. Mein Gesicht schwebte über ihrem, während meine Hüften immer schneller wurden. Und ich wandte den Blick keine Sekunde lang ab. Ich wollte, dass sie in meinen Augen genau sehen konnte, was sie für mich bedeutete. Ich wollte, dass ihr wundervolles Gesicht die Schrecken in meinem Gedächtnis ersetzte.

Diese eisblauen Augen, die langen schwarzen Wimpern, ihre makellose helle Haut, ihre vollen, rosigen Lippen … ich wollte etwas sagen, ihr alles offenbaren, was ich empfand, aber ich wusste, ich brachte den Mund nicht auf, denn ich hatte zu viele Emotionen in mir.

Ich wünschte nur, ich hätte sie zuvor gekannt.

Ich wünschte so sehr, ich wäre ihr begegnet, bevor ich der Mann wurde, der ich war. Bevor ich Leben zerstörte … bevor ich dabei half, Hunderte Seelen zu ermorden.

Bellas Gesicht wurde undeutlich. Ich blinzelte, als mir klar wurde, dass Tränen in meinen Augen standen. Die Tropfen fielen auf Bellas gerötete Wangen. Ihre Hände drückten meine. Sie hob unsere verschränkten Hände an meine Augen und wischte die Tränen weg. Es brach mir das Herz, als ich sah, dass sie auch weinte.

»Bella«, keuchte ich und erstarrte.

Sie schüttelte den Kopf, und ihr Gesicht verzerrte sich vor Pein. »Ich halte es nicht aus, Rider.«

»Was?«, fragte ich und drückte mich enger an sie – Haut an Haut, Herz an Herz.

»Was du dir antust.« Bella schniefte ihre Tränen weg. »Die Vorwürfe … die Schuld, von der du dich lebendig auffressen lässt.« Sie sah mir forschend in die Augen. »Dass du dir die Schuld an heute gibst. Das war dein Bruder. Genau das hat er immer mit dir gemacht: Er hat dich manipuliert. Sogar jetzt noch, im Tod, hat er irgendwie dir die Katastrophe zu Füßen gelegt, und du akzeptierst die Last der Schuld mit offenen Armen.«

»Weil es wahr ist. Ich habe die Schuld.«

Bella betrachtete mich wortlos und fing dann an, langsam und vorsichtig die Hüften zu bewegen. Ich schloss die Augen und ließ meine Stirn auf ihrer ruhen. Bella befreite eine Hand und kämmte damit durch mein Haar. Danach führte sie mein Ohr an ihre Lippen. »Dann spreche ich dich von dieser Schuld frei. Wenn du jemanden brauchst, der dir vergibt, dann lass mich derjenige sein.«

Ihre Hüften bewegten sich schneller, und mein Körper reagierte auf ihren Rhythmus. Doch dann musste ich weinen, und ich konnte nicht aufhören, als sie ihre Worte wiederholte. »Ich vergebe dir, Baby. Ich vergebe dir, was du getan hast.« Die Rührung schnürte mir die Kehle zu, und Bellas Atemzüge wurden zu kurzem, scharfem Keuchen.

»Rider«, flüsterte sie, während ihr Herz wie eine Symphonie an meiner Brust pochte. »Rider.« Ihr Griff in mein Haar wurde fester. Meine Muskeln spannten sich an, als ich härter zustieß, und mein Atem kam stoßweise. Bella erstarrte in meinen Armen, und ihre Brüste pressten sich an meinen Oberkörper, als sie den Rücken durchbog. Das Gesicht an meinen Hals gedrückt, schrie sie auf und drückte mich so eng an sich, wie sie konnte.

Das Gefühl, als ihre Muskeln sich um mich zusammenzogen, war mein Untergang. Unfähig, mich länger zurückzuhalten, stieß ich mich noch dreimal in sie und schrie dann meine Erlösung hinaus, und meine Stimme klang rau und schwach vom Tag heute. Ich kam mit ihrer Hand in meinem Haar und ihren Worten im Ohr: »Ich vergebe dir. Ich liebe dich. Es ist Zeit, frei zu sein.«

Mein Kopf fiel auf das Kissen. Einen kurzen Moment lang sah ich keine Gesichter in meinem Kopf, hörte keine Stimmen im Ohr. Es gab nur uns.

»Ich liebe dich«, flüsterte Bella.

»Ich liebe dich auch«, antwortete ich mit brüchiger Stimme. »Du bist das einzig Gute, das ich je kennengelernt habe. Du bist der Himmel, nach dem ich immer gesucht habe. Nicht der Glaube oder die Gebete … sondern du … nur du.«

Liebe erfüllte Bellas Gesicht, und sie bewegte sich unter mir. Ich zog mich aus ihr zurück, und sie rollte sich auf dem Bett zusammen, legte den Kopf an meine Brust und den Arm um meine Taille. Ihr warmer Atem wehte über meine Haut, während ich mit ihrem feuchten Haar spielte.

Es war still im Zimmer. Fast so, als würde sie meine Gedanken lesen, meinte Bella: »Die Männer in der Bar sind still … sie sind wohl auch zu Bett gegangen.«

»Ja«, antwortete ich.

Bellas schläfriges Gesicht wandte sich mir zu. »Schlaf, Baby. Morgen ist alles besser. Es ist immer besser, wenn die Sonne wieder aufgeht. Sie bringt einen neuen Tag, und sie wird die Last auf deiner Seele erleichtern.«

Mir wurde es schwer ums Herz bei ihren Worten. Langsam fielen ihr die Augen zu. Bevor sie ganz geschlossen waren, sagte ich: »Danke, Bella. Danke, dass du mich liebst … für alles. Du wirst nie wissen, wie viel du mir bedeutet hast. Wie viel Frieden du mir gebracht hast.«

»Danke.« Sie lächelte. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.«

Innerhalb von Minuten war Bella eingeschlafen. Ihre Atemzüge wurden tiefer, und ich wusste, dass sie schlief. Aber meine Augen blieben offen. Ich sah, wie die Blitze draußen greller wurden, während der Sturm in der Ferne näher kam. Der Regen prasselte lauter an die Fenster, und der Donner grollte über uns.

Ich schaute auf die Uhr auf dem Tisch und atmete tief durch. Zeit zu gehen. Vorsichtig schob ich Bella von mir auf die Matratze. Als sie sich im Schlaf rührte, erstarrte ich, aber dann wurden ihre Atemzüge wieder regelmäßig. Ich blickte auf die Frau nieder, die mir das Herz gestohlen hatte, und versuchte jeden ihrer Züge zu erfassen und mir fest einzuprägen.

Diese Nacht würde ich nie vergessen. Mein Leben lang hatte mir nie jemand wirklich gesagt, dass er mich liebte. Zwölf Buchstaben, drei schlichte Wörter, die sich mit der Kraft und Zerstörungsgewalt eines Kometen in deine Seele stürzten. »Ich liebe dich«, flüsterte ich, denn ich musste es ihr noch einmal sagen. »Das Glück wartet auf dich, Baby. Von jetzt an nur noch Gutes. Nur Freiheit.«

Ich tappte hinüber ins Badezimmer und hob meine Lederhose vom Boden auf. Mir war völlig egal, dass sie voll mit getrocknetem Blut war. Bald genug würde das keine Rolle mehr spielen.

Ich konnte Bella nicht ansehen, als ich mich hinausschlich. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, ein Shirt anzuziehen. Auch die Füße waren nackt. Die Bar war leer wie eine Geisterstadt, als ich hindurchging – halb leere zurückgelassene Gläser, nicht beendete Billardspiele.

Ich ging zum Hinterausgang hinaus auf den Hof. Der warme Regen prasselte herab, als ich über das Gras lief. Meine Füße sanken im nassen, schlammigen Boden ein, und das Haar klebte mir am Rücken.

Bei jedem Schritt dachte ich an Bella. Und ich lächelte. Ich lächelte, weil ich an das Leben dachte, das sie haben würde. Die Dinge, die sie tun und sehen würde … den Menschen, den sie lieben würde. Und sosehr es mich auch schmerzte, daran zu denken, dass sie all das ohne mich tun, jemand anderen lieben würde, brachte es mir doch einen Frieden im Herzen, den ich nie zu fühlen geglaubt hatte.

Bella frei … in Sicherheit.

Es war gut so.

Ich sah das gedämpfte Licht vor mir, als ich zwischen den Bäumen hervorkam. Die Tür des alten Schuppens stand schon offen und wartete auf mich. Ich zählte meine Schritte, als ich näher kam. Zwanzig Schritte bis zur Tür. An der Schwelle zögerte ich. Dann schloss ich die Augen, holte tief Luft und ging hinein.

Im Schuppen herrschte Stille, während ich mich umsah. Einer nach dem anderen drehten sich die Brüder zu mir um. Ich sah jedem von ihnen in die Augen, als sie dastanden, die einen links, die anderen rechts, eine Gasse aus Männern, die dorthin führte, wo sie mich bezahlen lassen wollten.

Ich atmete tief durch und ging weiter. Die Brüder, alle in Ledersachen und Kutte, sahen mir zu, wie ich vorbeiging. Aber mein Blick blieb stur geradeaus gerichtet. Die Geräusche von Händen, die sich um Brechstangen wanden und Messer hin und her wechselten, begleiteten meinen Weg. Dann kam ich vorn an. Ich hob den Kopf und sah zwei Ketten vom Dach herabhängen, mit Handschellen aus Metall am Ende.

Ich stellte mich genau unter die Ketten und drehte mich zu den Brüdern um. Ein Meer aus früheren Freunden erwiderte meinen Blick finster. Der feuchte Sturm draußen trieb ihnen den Schweiß in die Gesichter und auf die entblößten Oberkörper. An den meisten klebte noch Blut, weil sie nach dem Massaker in der Gemeinde noch nicht geduscht hatten.

Lohnte sich vermutlich nicht.

Ich musterte die Brüder, die ich mit meinen Taten verletzt hatte: AK, Tank, Bull, Viking, Flame. Ich sah die neuen Brüder, die kennenzulernen ich nie die Chance gehabt hatte: Hush, Cowboy, Tanner … Und dann Smiler. Er stand hinter den Brüdern und blickte total gequält drein. Sein langes braunes Haar war zurückgebunden, und er hatte nichts in der Hand. Mir wurde es schwer ums Herz. Er war der Einzige. Smiler war der verdammt Einzige.

Er war mir ein wahrer Freund gewesen. Sogar jetzt noch, nach allem. Einer, den ich nie verdient hatte.

Unfähig, ihm länger in die schmerzerfüllten Augen zu blicken, konzentrierte ich mich auf Ky und Styx. Der Präs und sein VP standen Seite an Seite an der Spitze der Menge. Styx hatte den Oberkörper frei und trug nicht einmal eine Kutte. Ich konnte sehen, wieso. Eine große Narbe in Hakenkreuzform bedeckte seine Brust – die Narbe, die ihm meine Täuschung eingebracht hatte. Und in der Hand hatte er sein deutsches Messer.

Sein Lieblingsmesser.

Er sah mich finster an, aber ich erwiderte den Blick nicht, sondern sah stattdessen Ky an. Der blonde Bruder trat einen Schritt vor. Unaufgefordert hob ich die Arme. Ky ging zu dem Hebel an der Wand und zog ihn nach unten, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Ich hörte, wie die Ketten sich von oben herabbewegten. Dann kam Ky zu mir und fesselte meine Handgelenke.

Als er wegging, blickte ich geradeaus und konzentrierte mich auf einen Punkt direkt vor mir. Der Hebel war wieder zu hören, und die Ketten zogen an meinen Armen. Ich biss die Zähne zusammen, als die Ketten meine Arme hochzogen, bis meine Schultern vor Schmerz protestierten. Mein Körper wurde in die Höhe gezogen, bis meine Zehen wenige Zentimeter über dem Boden baumelten.

Dann rasteten die Ketten ein. Ich war bereit.

Styx kam zuerst näher. Die einzigen Geräusche waren der Donner und der Regen draußen, und ein Flame, der unruhig hin und her tigerte.

Styx hob das Messer und drückte die Spitze an mein Brustbein. Ich schloss die Augen und dachte an Bellas Gesicht. Ich brauchte die Kraft für das, was die Nacht bringen würde.

Denn dieser Tod wäre kein schneller.

Und ich teilte die Meinung, dass er das auch nicht sein sollte.

Dann kam der sengende Schmerz, als die Klinge über meine Haut nach unten gezogen wurde. Ich versuchte, durch den Schmerz zu atmen, und mir tat der Kiefer weh, so fest biss ich die Zähne zusammen.

Das Messer wurde weggenommen, ich öffnete die Augen – und begegnete einem irren Blick aus haselnussbraunen Augen. Styx keuchte siegesgewiss, als er die Klinge an die Seite meines Brustkorbs führte. Dieses Mal hielt ich die Augen offen, während er das Zeichen des Kreuzes fertig auf meinem Torso einritzte. Das Blut tröpfelte über meine Brust, und meine Arme zuckten vor Qual, als meine Haut aufgeschnitten wurde. Meine Schultern protestierten lautstark über die Belastung, meinen schweren Körper halten zu müssen, aber ich unterdrückte die Schreie, die aus meiner Kehle wollten.

Ich würde es aushalten. Ich würde das alles ertragen.

Styx wandte sich ab. Sein Oberkörper glänzte vor Schweiß.

Dann war Ky an der Reihe, nur in Hose und Kutte. Seine Fäuste waren von dicken Ketten umwickelt. Der VP holte aus und donnerte mir Schlag um Schlag ins Gesicht, die Rippen, den Bauch. Mein Kopf flog nach hinten dabei, und mein Körper an der Kette schwang hin und her. Aber er war noch lange nicht fertig.

Ich war ein Verräter.

Es war Zeit, Hades meine Buße zu zahlen, und zwar ohne Münzen auf den Augen.

Als Kys Schläge aufhörten, sah ich, wie die Brüder sich versammelten, um Rache zu üben. Ich schloss wieder die Augen und gelobte mir, sie nie wieder zu öffnen.

Stattdessen rief ich mir Bellas Gesicht ins Gedächtnis.

Ich dachte an ihre Augen, ihre Lippen und ihr Lächeln. Ich dachte an ihre Berührung, ihre geflüsterten Worte … das Bekenntnis ihrer Liebe.

Und noch mit dem Geschmack meines eigenen Blutes im Mund lächelte ich. Denn wenigstens hatte ich erfahren, was wahre Liebe wirklich war. Dieses Gefühl bewahrte ich in meinem Herzen. Ich bewahrte diese Wärme in mir, bis der Schmerz durch die Schläge der Brüder fast verschwand.

Bis die Finsternis, die ich verdiente, immer näher kroch.