Als es genau über mir laut donnerte, wurde ich ruckartig wach. Ich blinzelte in das dunkle Zimmer und orientierte mich mühsam.
Das Schlafzimmer im Clubhaus.
Erinnerungen an vorhin gingen mir durch den Kopf, und ich lächelte. Ich liebe dich, hatte er gesagt. Mein Rider. Mein Rider …
Ich streckte die Hand aus und suchte nach meinem Mann. Doch als ich nur kalte Laken spürte, runzelte ich die Stirn. Ich hob den Kopf und blickte mich in dem vom Mond erleuchteten Zimmer um.
Nichts.
Ich setzte mich ruckartig auf. Aus irgendeinem Grund hämmerte mein Herz heftig. »Rider?«, fragte ich leise. Keine Antwort. Ich sprang aus dem Bett, eilte ins Bad … aber alles war still.
Ich machte das Licht an, bückte mich und durchsuchte seine Sachen. Seine Hose war weg, doch Stiefel und Shirt lagen noch da, wo ich sie fallen lassen hatte.
Ich verstand es nicht, aber in mir stieg ein Gefühl von Grauen auf.
Ich schlüpfte in mein langes schwarzes Kleid und zog die Sandalen an. Dann eilte ich hinaus und suchte im Flur. Das Clubhaus war still. Ich lief durch die Bar – niemand zu sehen.
»Wo bist du?«, flüsterte ich laut.
Instinktiv stürmte ich zur Tür hinaus in den Hof. Der Regen prasselte auf meinen Kopf, doch das kümmerte mich nicht. Ich musste Rider finden. Etwas stimmte da nicht, das konnte ich fühlen.
Ich stürmte zwischen den Bäumen hindurch, zu Maes Heim, und meine Sandalen rutschten über den nassen Boden. Immer weiter rannte ich und trieb meine Beine so schnell sie konnten. Als ihre Hütte in Sicht kam, rang ich um Atem. Aber ich musste Hilfe holen. Ich wusste bloß, dass ich Hilfe brauchte.
Als ich ankam, war ich völlig durchnässt. Ich schlug an die Tür. »Mae!«, rief ich, schrie ich, um den Sturm zu übertönen. »Mae!«
Die Tür ging auf, und Mae stand in ihrem roten Nachthemd vor mir.
»Bella?«, fragte sie und musterte meine durchnässte Gestalt.
»Ist dein Verlobter hier?«, fragte ich.
Mae runzelte die Stirn. »Nein, er sagte, er hätte noch etwas zu erledigen.«
Mein Herz pochte schneller, und ich ging von der Tür weg. Lilah. Ich musste es bei Lilah versuchen. Ich sprang von der Veranda und rannte den Hügel hoch zu Lilahs Haus.
»Bella, warte!«, hörte ich Mae hinter mir rufen, aber ich konnte nicht stehen bleiben. Lilahs Tür ging auf, noch bevor ich klopfen konnte. Sie schlüpfte auf die Veranda heraus und schloss die Tür.
»Bella?« Sie warf einen Blick hinter sich. »Grace schläft. Ich konnte deine panische Stimme den ganzen Weg von Maes Haus hören.«
»Ist Ky hier?«, fragte ich eilig.
Lilah schüttelte den Kopf. »Er hat heute Abend etwas zu erledigen.«
Ich schüttelte den Kopf, und in meiner Brust brannten die drohenden Tränen. »Oh nein«, flüsterte ich, und da liefen Mae, Bruder Stephen und Schwester Ruth den Weg zu Lilahs Haus heran.
»Bella!«, rief Mae und kam an meine Seite.
Ich drehte mich zu meiner Schwester. »Rider … er ist weg.« Ich wandte mich wieder an Lilah. »Styx und Ky sind auch nicht da.« Ich drückte die Hände an meinen Kopf. »Wir haben geschlafen, und er hat sich weggeschlichen. Wieso sollte er das tun? Er hat nur seine Hose angezogen. Er hat sich nicht einmal ganz angezogen, als er wer weiß wohin gegangen ist.«
Mir wurde es schwer ums Herz, als ich durch die dicht stehenden Bäume schaute. Aus der Höhe von Lilahs Haus konnte ich bis ganz nach unten sehen. »Nein«, flüsterte ich, als ich trübe Lichter in der Ferne sah. »Der Schuppen«, hauchte ich. »Nein!« Ich rannte los.
»Bella!«, hörte ich Mae rufen. »Ruth, Stephen, bleibt hier bei Grace. Lilah, komm mit. Wir müssen Maddie holen.«
Ich hörte meine Schwestern hinter mir reden, doch ich konnte mich bloß auf mein Ziel konzentrieren. Den Blick auf den Schuppen fixiert, rannte ich durch Schlamm und Regen. Äste schlugen mir ins Gesicht, und herabgefallene Zweige schnitten mir in die Fußsohlen. Aber das war mir egal. Sie hatten Rider … meinen Rider. Ich wusste es einfach.
»Rider«, flüsterte ich und gab mir Mühe, noch schneller zu rennen. »Was hast du getan?«
Meine Lungen schrien nach Luft, doch ich schob das unangenehme Gefühl beiseite. Endlich erreichte ich das wacklige Gebäude rechts von mir. Trübes Licht drang durch die Risse in den Holzwänden nach draußen. Drinnen konnte ich Bewegungen wahrnehmen. Da waren Leute.
Rider.
Ich zwang meine nach Sauerstoff hungernden Muskeln weiter und stürmte zur Tür. Mir war, als würde die Zeit nur noch halb so schnell vergehen, als ich nach der Türklinke griff, und es schien ewig zu dauern, bis ich sie zu fassen bekam. Ich öffnete die Tür – und der Anblick vor mir vertrieb alles neu gefundene Glück aus meinem Herzen.
»Nein«, flüsterte ich, als sich mein Blick auf die gegenüberliegende Seite richtete. Rider … Rider, geschlagen, voll mit Blutergüssen und Schnitten, an Ketten hängend. Sein Kopf war nach vorn auf die Brust gesunken, und das nasse braune Haar hing in Klumpen bis auf seinen blutgetränkten Oberkörper.
»Aufhören!«, schrie ich und rannte hinein. Ich streckte die Hände aus und schubste laute, aufgeregte, blutdürstige Männer aus dem Weg. Mir blieb die Luft weg, als ihre großen Körper mit mir zusammenstießen. Aber ich blieb nicht stehen. In meinen Ohren rauschte das Blut, als ich mich bis nach vorn durch die Menge arbeitete. Dann brach ich zwischen den letzten Männern hervor und blieb vor Rider stehen.
»Rider«, rief ich, als ich ihn aus der Nähe sah. Er hing seltsam verdreht da. Ein riesiges Kreuz war in seinen Torso geschnitten, und sein Gesicht war blutig und geschwollen.
»Rider«, rief ich wieder, diesmal lauter. Als er meine Stimme hörte, versuchte er die Augen zu öffnen. Als ich die Männer hinter mir verstummen hörte, wandelte sich mein tiefer Kummer zu einer Woge aus Zorn. So unkontrollierbarem Zorn, dass ich ihn nicht unterdrücken konnte.
Ich wirbelte herum und stellte mich den Männern, die so bösartig und grausam über den Mann, den ich liebte, hergefallen waren. Sie keuchten vor Anstrengung und waren ganz berauscht vom Adrenalin ihrer kranken Folter. Ich wich zurück, einen Schritt nach dem anderen, bis mein Rücken fast auf Riders Vorderseite traf. Ich streckte die Hände nach links und rechts vor mir aus.
Sie würden nicht noch einmal an ihn herankommen.
Maes Liebster, Styx, trat vor. Sein nackter Oberkörper war bespritzt mit Riders Blut, und er hatte ein beflecktes Messer in der Hand. In seinen Augen stand ein Feuer der Rache, als er den Blick auf mich fixierte.
Lilahs Mann blieb neben ihm stehen. Er hatte Ketten um die Fäuste, und Riders Blut klebte an dem Metall. Zähneknirschend fauchte ich: »Zurück! Wagt es ja nicht, näher zu kommen!«
Doch alle Brüder kamen weiter auf mich zu. Ich wusste, dass sie mich damit einschüchtern wollten. Aber was sie nicht wussten, war, dass sie bei Weitem nicht das Schlimmste waren, dem ich mich je im Leben gegenübergesehen hatte. Und genau jetzt war das Einzige, was mir Angst machte, der Gedanke, dass sie mir die Liebe meines Lebens nahmen.
»Bella, sieh zu, dass du verschwindest!«, befahl Ky mit schroffer, drohender Stimme. Er atmete schwer, und sein blondes Haar war feucht von Schweiß.
Ich schüttelte den Kopf und wich noch weiter zurück. Riders Beine streiften meinen Rücken, und mir wurde es schwer ums Herz, als die schlichte Berührung unserer Körper ein schmerzerfülltes Stöhnen aus seinem Mund dringen ließ.
»Bella«, knurrte Ky wieder, »sieh zu, dass du abhaust!«
»Nein!«, schrie ich zurück, breitete die Arme noch weiter aus und schirmte Rider vor ihnen ab. »Wenn ihr ihn haben wollt, dann müsst ihr erst an mir vorbei.«
»Das lässt sich absolut einrichten, Herzchen.« Ein riesiger Rotschopf blickte mich finster an. »Dein Junge hier zahlt jetzt den verdammten Preis dafür, dass er eine Ratte ist. Der Dreckskerl muss bezahlen. Den Deal hat er mit uns gemacht, als er vor fünf Jahren unseren Patch angenommen hat. Er weiß, was getan werden muss.«
»Nein«, wiederholte ich. »Ihr tut ihm nicht mehr weh.«
Der Rothaarige lachte sardonisch. »Oh doch, das werden wir. Du wiegst nicht mal fünfzig Kilo im Nasszustand, Herzchen. Du hältst uns nicht auf. Dein Mann hier stirbt. Das ist der Preis, den er zu zahlen bereit ist. Heute Nacht fährt er in den Hades.«
Mir wich alle Farbe aus dem Gesicht, aber ich blieb stark, auch dann noch, als zwei Männer auf mich zukamen. Doch plötzlich war ein lautes Keuchen von hinten zu hören. Ich blickte zur Tür und sah Mae, Lilah und Maddie in den Schuppen eilen. Meinen Schwestern blieb der Mund offen stehen, als sie die Szene vor sich erfassten.
Mae kam zuerst und drängte sich durch die versammelten Männer. Sie blickte zu Rider auf, und ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen. »Bella«, sagte sie schmerzerfüllt, »mein Gott, was haben sie getan?«
Styx griff sie am Handgelenk und zog sie zur Seite. Lilahs und Maddies Männer folgten auf dem Fuße und zogen ihre Frauen in ihre Arme, weg von mir.
»Bella«, flüsterte Maddie und schüttelte den Kopf, als sie Rider in den unbarmherzigen Ketten hängen sah.
Ky brach das Schweigen. »Das reicht!«, rief er und wandte sich danach mir zu. »Bella, mir ist scheißegal, wer du bist, und Lilah« – er drehte sich erst zu ihr und dann zu Mae und Maddie um –, »ihr wisst, dass ihr euch nicht in Angelegenheiten des Clubs einzumischen habt.«
Styx gab irgendwelche Zeichen, und ich sah zu, wie meine Schwester seine Zeichensprache las und anschließend besorgt den Kopf senkte. Ky verschränkte die Arme vor dem breiten Brustkorb. »Ihr müsst jetzt gehen.« Er wies mit dem Kopf auf Rider. »Er hat uns verarscht. Und dafür zahlt er nun mit seinem verdammten Leben. Ich erwarte nicht, dass ihr das versteht, aber so ist es eben. Braut oder nicht, du hast dabei nichts zu sagen. Er stirbt heute Nacht. Und zwar ganz langsam.«
Fassungslos über ihre Grausamkeit schüttelte ich den Kopf und ließ meiner Wut freien Lauf. »NEIN!«, brüllte ich ihm ins Gesicht. »Du bist derjenige, der nichts versteht!«
Ky zog die Augenbrauen hoch, aber mir war seine Herablassung egal. Ich wollte die Stimme erheben. Ich hatte genug davon, dass Männer mir den Mund verboten. Ich würde die Stimme erheben, und sie würden zuhören!
»Weißt du, was er durchgemacht hat? Ist dir wirklich egal, wie sein Leben war? Hast du je danach gefragt, warum er getan hat, was er getan hat? Hast du dich je gefragt, wie es für ihn war, so aufzuwachsen, wie er aufgewachsen ist? Nein! Nicht einer von euch. Denn wenn doch, würdet ihr ihm das hier nicht antun!«
»Uns ist scheißegal, wie er aufgewachsen ist«, mischte sich einer der Brüder ein. Der Mann mit dem rasierten Schädel – Tank.
Ich begegnete den kummervollen Blicken meiner Schwestern in der Sicherheit der Umarmung ihrer Männer. Und ich lachte, aber darin lag absolut keine Spur von Humor. Ich blickte zu Rider auf, und meine Seele schmerzte. Es war ihnen egal. Wie konnte es ihnen egal sein?
»Wie kann euch das egal sein?«, hörte ich mich laut fragen. »Wie könnt ihr hier stehen und mir erzählen, dass euch sein Leben egal ist, wenn eure Frauen ein ähnliches Schicksal erlitten haben?« Ich sah Styx an. »Mae wuchs genauso auf. Von Geburt an darauf konditioniert, sich auf ganz bestimmte Weise zu verhalten und ganz bestimmte Dinge zu glauben.« Dann sah ich Ky an. »Lilah wurde von ihrer Familie getrennt, weil die glaubten, sie sei ein Geschöpf des Teufels.« Ich zeigte auf Lilahs Gesicht. »Meine Schwester hat ihr eigenes Gesicht verunstaltet, wegen dem, was in der Gemeinde mit ihr passiert ist! Wegen dem, was man uns zu glauben eingebläut hat!«
Ky zitterte vor Wut und zeigte auf Rider. »Durch seine Hand! Er hat sie vergewaltigen lassen, Mädchen! Oder hast du den verdammten Verstand verloren?«
»Nein, hat er nicht!«, fauchte ich zurück. »Das war sein Bruder. Du kannst ihm die Schuld für das geben, was er getan hat, aber diese Taten hat er nicht gebilligt. Er hat diese Verbrechen nicht befohlen. Sogar deine Frau glaubt das, aber sie hat zu viel Angst, dir das ins Gesicht zu sagen!« Ky drehte ruckartig den Kopf und sah Lilah an. Die hielt den Kopf unten.
»Und Maddie«, fuhr ich sanfter fort. »Was ihr angetan wurde, war das Schlimmste von allem.« Flame, ihr Mann, fletschte die Zähne und drückte sie fest an sich. »Judah, Riders Bruder, hätte zweifellos andere Kinder denselben Missbrauch durchmachen lassen, den sie durchlitten hat. Aber er hat keine Chance dazu bekommen, und zwar wegen Rider. Und Rider wurde ins Gefängnis geworfen, weil er einen Mann getötet hat, der ein Kind vergewaltigte! Er hat jeden Tag Schläge erduldet, weil er für das kämpfte, was richtig ist. Er hat das Leben einer Frau gerettet, die er kaum kannte, weil er nicht zusehen konnte, wie noch ein unschuldiger Mensch unter dem Deckmantel Gottes gefoltert wird. Er hat mich zu meinen Schwestern zurückgebracht, weil er nur wollte, dass ich glücklich bin. Und er ist freiwillig durch euer Höllentor geschritten, in dem Wissen, dass er sterben wird!«
Meine Lippen bebten, und ich sah meine Schwestern an. Eine nach der anderen. »Wenn ich gewusst hätte, dass meine Rückkehr bedeutet, seine gequälte Seele euren gnadenlosen Männern zu opfern, dann hätte ich das nie zugelassen.« Maes Augen wurden groß. »Wir wollten Freiheit und Güte. Alles, was ich gesehen habe, seit ich hier bin, ist Grausamkeit und blutrünstige Rachsucht.«
Meine Beine drohten nachzugeben, als ich einen Schritt vortrat, doch ich zwang sie, stark zu bleiben. Sie würden mich nicht fallen sehen. Seufzend wandte ich mich an Styx. »Nicht einer von euch hat meinen Schwestern vorgeworfen, dass sie so auf die Lebensweise des Ordens konditioniert wurden. Ihr hattet Mitgefühl. Ihr habt ihnen Geborgenheit und Führung in der Außenwelt gegeben. Aber Rider zeigt ihr keine Gnade, weil er ein Mann ist.« Tränen liefen mir über die Wangen, und ich schluckte ein wütendes Schluchzen hinunter. »Er wurde von seinen Eltern getrennt und wuchs in Isolation auf. Er war sein Leben lang allein, hatte bloß seinen bösartigen, manipulativen Zwilling an seiner Seite. Er hatte nie jemanden, dem er wichtig war … der ihn liebte, wie er es verdiente.« Ich atmete tief durch. »Wir Verfluchten Schwestern hatten wenigstens einander. Er hatte nur seinen Bruder … den Bruder, den er heute getötet hat, um uns zu retten … um euch alle zu retten!«
Ich ging zurück zu Rider, und mir brach fast das Herz, als ich aus dem einen Auge, das er aufbrachte, eine Träne tropfen sah. Ich hob die Hand und legte sie an seine Taille. »Ich liebe dich«, flüsterte ich und drehte mich dann um. Ich hatte keine Kraft mehr.
»Er hat den einzigen Menschen getötet, den er im Leben hatte, weil er wusste, dass die Welt ein besserer Ort ohne ihn ist.« Ich starrte Ky an. »Könntest du Styx mit bloßen Händen töten? Wenn du das Gefühl hättest, dass du es tun musst?« Ich schüttelte den Kopf. »Du könntest es nicht, genau wie ich nie Mae, Lilah oder Maddie töten könnte. Aber Rider hat es getan. Und jetzt wird mir klar, dass er es getan hat in dem Wissen, dass er sich dann euch ausliefern würde … damit ihr ihn foltern, bestrafen und töten könnt.«
Ich wischte meine Tränen weg. »Aber wenn ihr ihn mir wegnehmt, dann nehmt ihr mir mein Herz.« Ich sah meinen Schwestern in die Augen. »Ihr nehmt mir den Grund, zu leben. Gegen alle Erwartungen haben wir einander in der Hölle gefunden. Ich werde nicht zulassen, dass ihr ihn mir wegnehmt, nachdem wir endlich die beschwerliche Reise zu den Toren des Himmels überstanden haben. Und wenn ihr das tut … dann könnt ihr mich auch gleich töten.«
Ich senkte den Kopf und sank besiegt zusammen. Aber ich meinte das, was ich gesagt hatte, ernst. Ich war nicht so weit gekommen, um ohne ihn weiterzuleben. »Er verdient es, zu leben«, flüsterte ich. »Ein Mann, der alles riskieren würde, um in solchem Maß für seine Sünden zu büßen … ein Mann, der sich selbst opfern würde, damit andere leben können, verdient es, gerettet zu werden. Wie« – mir stockte der Atem –, »wie könnt ihr das nicht sehen? Wie könnt ihr so kalt sein?«
Ich ging rückwärts, bis ich an Riders Beinen stand. Ich hielt die Stellung. Ich würde mich nicht rühren, bis sie ihn entweder befreiten … oder mich zuerst töteten.
Die Brüder starrten erst mich und dann einander an. Schließlich kam Ky langsam auf mich zu, und in seinem Blick lag erbarmungslose Strenge. Und mir rutschte das Herz in die Hose. Ich konnte seine Antwort sehen.
Rider würde sterben.
Dann würde ich eben auch sterben.
»Bella«, fing Ky streng an. »Sieh verdammt zu, dass …«
Doch dann verstummte er, als Lilah sich aus seinen schützenden Armen löste, vortrat und sich neben mich stellte. Ich starrte meine Schwester fassungslos an. Lilah schenkte mir ein Lächeln unter Tränen und nahm meine Hand.
Sie schaute ihren Mann direkt an, der sie mit offenem Mund anstarrte. »Li!« Er ging auf sie zu, doch sie streckte die Hand aus und schüttelte den Kopf.
»Nach allem, was der Scheißkerl dir antun hat lassen?«, fragte Ky. »Nach all dem Scheiß, den wir durchgemacht haben, seit du aus der Hölle wiederkamst?«
»Er hat versucht, Phebe zu retten. Sie hat ihm vertraut und an ihn geglaubt. Und er hat Grace gerettet, sodass unser Leben mit einem eigenen Kind gesegnet werden konnte.«
Ky raufte sich die Haare und rief: »Und er hat zugelassen, dass du Opfer einer Massenvergewaltigung wurdest! Verbrannt, ausgepeitscht und vergewaltigt!« Ich zuckte zusammen, als er die Worte rief. Aber Lilah blieb ruhig.
»Es ist mir passiert«, sagte sie sanft, und Stolz keimte in mir auf. Lilah sah ihrem Mann in die gequälten Augen. »Es ist alles mir passiert. Und ich habe entschieden, ihm zu vergeben. Ich ordne an, dass ich sein Leben verschont sehen will. Ich will nicht noch mehr Blutvergießen in meinem Namen sehen.« Lilah schniefte leise. »Die Gemeinde ist durch ihn untergegangen. Er hat getötet, damit wir ein Leben haben. Er hat Grace vor Judah gerettet, damit wir sie als unser Kind haben können.«
Ky wandte den Kopf ab. Links von mir nahm ich eine Bewegung wahr. Ich rechnete damit, dass jemand versuchte, durch die Ablenkung an Rider heranzukommen. Stattdessen sah ich Maddie, die sich aus den Armen ihres Mannes löste. Flame machte einen Satz, um seine Frau zurückzuhalten. Doch Maddie drehte sich um, und mit einer Stärke, die ich noch nie an ihr gehört hatte, rief sie: »Nein!« Flame taumelte geschockt rückwärts, als er Maddie zu mir gehen sah. Sie nickte mir zu und nahm Lilahs Hand.
Ein Wall. Wir hatten einen Schutzwall um meinen Ehemann gebildet.
Maddie straffte die Schultern.
»Maddie«, flüsterte Flame mit trauriger, kehliger Stimme.
Maddie sah ihrem Ehemann in die Augen. »Ich liebe dich, Flame, aber ich will meine Schwester nicht verlieren. Ich werde nicht zulassen, dass Rider getötet wird. Ich habe all den Schmerz und das Leid so satt.«
»Er hat dir wehgetan. Er hat dich von mir weggeholt«, knurrte Flame.
Maddie schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat mich freigelassen. Sein Bruder hat mich dir weggenommen. Sein Bruder, den er getötet hat, um uns zu retten.« Sie drückte sich die Hand aufs Herz. »Flame, wenn du Rider wehtust, dann tust du mir damit weh. Tief in meinem Herzen.«
Flames dunkle Augen loderten. »Nein«, sagte er. »Ich will nicht, dass du leidest. Das wird nicht passieren.«
»Ich weiß, dass du das nicht willst«, sagte sie und lächelte mit reiner Liebe in den Augen.
Flame blickte sich zu seinen Brüdern um – und warf seine Messer auf den Boden. Dann drehte er sich zu dem Rothaarigen neben sich um und nahm dem die Brechstange aus der Hand. Der Dunkelhaarige auf der anderen Seite neben ihm schüttelte den Kopf, ließ aber ebenfalls seine blutbefleckte Klinge fallen. Flame sah die Männer an und brüllte: »Lasst die Scheißwaffen fallen, oder ich bringe euch alle auf der Stelle um! Keiner von euch fasst Maddie an. Kein Einziger!«
Hoffnung flackerte in mir auf, als die Brüder verunsicherte Blicke tauschten. Und dann ging mein Herz beinahe über, als Mae aus Styx’ Schatten hervortrat. Styx rührte sich nicht, als er seine Verlobte zu mir gehen sah. »Mae«, sagte ich leise.
Sie blieb vor mir stehen und blickte zu Rider auf, der in den Ketten hing. »Ein Mann, der alles opfert für die Frau, die er liebt, verdient es, gerettet zu werden. Da stimme ich von ganzem Herzen zu. Aber noch mehr als das« – Mae lächelte mir zu und küsste mich auf die Wange – »verdient er jemanden, der tapfer für ihn kämpft und ihm zeigt, dass er ein guter Mensch ist, wenn er glaubt, er wäre keiner. Er verdient dich … ebenso sehr wie du ihn verdienst.« Danach wandte sie sich an Styx und sagte: »Um an Rider zu kommen, musst du erst an Bella vorbei.« Sie holte tief Luft und sagte dann entschlossen: »Und um an Bella zu kommen, musst du an uns dreien vorbei.«
Mae nahm meine Hand, und wie eine Einheit standen wir den sogenannten Männern des Teufels gegenüber. Die Verfluchten Töchter der Eva, die den gefallenen, falschen Propheten des Ordens verteidigten … und ich hatte mich noch nie so frei gefühlt.
»Präs«, fragte schließlich jemand, »willst du jetzt bloß dastehen und den Scheiß dulden? Die Frauen haben hier nichts zu suchen. Und sie haben hier nichts zu sagen.« Aber Styx gab keine Antwort. Er blieb stehen, den Blick auf Mae fixiert, die Arme verschränkt, und seine Kinnmuskeln waren so starr wie sein übriger angespannter Körper.
Rider gab ein leises Stöhnen von sich, und ich drehte ruckartig den Kopf. »Helft mir«, bat ich meine Schwestern drängend, wandte mich zu Rider und versuchte an seine Ketten zu kommen. Mae trat an die Wand, und ich sah, wie sie an einem Hebel zog. Die Ketten klirrten laut, als sie sich langsam herabsenkten. Ich streckte die Hände aus und fing seinen geschundenen Leib in meinen Armen auf.
»Die Schlüssel«, sagte Lilah zu Mae. Mae nahm sie von einem Haken an der Wand und schloss damit die Fesseln an Riders Handgelenken auf. Meine Schwestern nahmen die Fesseln ab, während ich mich über sein anschwellendes, malträtiertes Gesicht beugte. Das eine Auge, das er öffnen konnte, folgte mir wie im Delirium. Er stöhnte auf, als ein Arm aus der Fessel fiel. Ich rieb über die Muskeln, um das Blut zurück in seine Glieder zu bringen. »Bella«, flüsterte Rider heiser, »du hättest mich … sterben lassen … sollen …«
Ich schüttelte den Kopf. »Niemals, Baby … niemals.«
Eine Träne lief aus seinem Auge, und ich wischte sie mit dem Daumen weg. »Hilf mir, ihn zu bewegen«, bat ich Maddie. Sie kam an die andere Seite, und wir versuchten ihn vom Boden aufzuheben. Rider atmete zischend vor Schmerz ein. »Er ist zu schwer«, meinte Maddie traurig. Lilah und Mae sahen verzweifelt zu. Doch die eine von ihnen war verletzt und die andere schwanger. Ich würde nicht zulassen, dass sie sich wehtaten.
»Ist schon okay«, sagte ich. Ich strich Riders langes Haar nach hinten, damit es nicht auf den Wunden auf seiner Brust klebte. »Ich bleibe mit ihm hier. Bringt mir Wasser und Verbände.« Ich ergriff seine Hand. »Ich bleibe hier bei ihm, bis er wieder laufen kann … bis er diesen Ort der Hölle verlassen kann.«
»Bella«, sagte Mae, und ich hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme. Ich liebte meine Schwestern, aber Mae wusste, dass ich hier nicht ohne Rider leben würde. Ich würde nicht an einem Ort des Hasses leben.
Nie wieder.
Ich blickte auf und wollte meine Schwestern anflehen, meine Bitte zu erfüllen, doch da drängte sich plötzlich jemand von hinten durch die Männer hindurch. Gemurmel erhob sich unter den Brüdern, und ein Mann mit langem Haar kam auf uns zu. Ich schob mich über Rider, um ihn abzuschirmen vor dem, was der Mann vorhaben mochte. Der Mann hob die Hände.
»Smiler?«, fragte Mae, und ich hob ruckartig den Kopf. Smiler. Riders ehemals bester Freund.
Er trat langsam näher. »Darf ich?«, fragte er.
Lilah nickte mir lächelnd zu. Ich vertraute ihr völlig.
Ohne Riders Hand loszulassen, wich ich zurück und ließ Smiler näher kommen. Er bückte sich und legte die Arme um Riders Rücken. Dann zog er ihn hoch, und ich half ihm, Rider auf der anderen Seite aufrecht zu halten. Anschließend schaute ich zu Smiler hinüber, und mir blutete das Herz. Seine Sachen waren sauber. Er trug keine Waffe. Sein Oberkörper war nicht voller Blut.
Er hatte bei der Bestrafung nicht mitgemacht.
»Wir müssen ihn in mein Zimmer bringen«, sagte Smiler und übernahm die Hauptlast von Riders Gewicht, als wir ihn trugen. Ich registrierte, dass meine Schwestern voller Stärke hinter mir gingen, und das Gefühl, das mich dabei überkam, ließ mich fast auf die Knie fallen. So verloren ich mich in dieser Außenwelt auch gefühlt hatte, so weit entfernt ich mich auch von den Frauen fühlte, die sie geworden waren – dies ließ alle meine Sorgen verschwinden.
Wir verließen den Schuppen, und Smiler wies mit dem Kopf auf ein Fahrzeug in der Nähe. »Wir schaffen ihn in den Truck, und ich fahre ihn zum Clubhaus.«
Riders Füße schleiften über den matschigen Boden, während wir uns mühten, sein Gewicht zu tragen. Aber wir bekamen ihn in den Truck und ich legte seinen Kopf in meinen Schoß. Smiler fuhr los, und ich blickte auf Rider hinab und streichelte über sein nasses Haar. Sein offenes Auge war wieder auf mich fixiert. Das Weiße darin war wund gescheuert. Selbst in seinem gebrochenen Zustand sah ich darin allerdings seine Liebe zu mir … doch zu meinem Kummer sah ich auch Bedauern.
Er hatte sterben wollen.
Das wollte er immer noch.
Ich bückte mich und küsste ihn auf die Stirn. »Ich lasse das nicht zu«, flüsterte ich, nur für seine Ohren bestimmt. »Ich lasse nicht zu, dass du je wieder allein bist.«
Riders Auge ging zu, und er glitt in einen tiefen Schlaf. Wir brachten ihn in Smilers Zimmer im Clubhaus. Er schlief im Bett, während Smiler – offenbar besaß er medizinische Grundkenntnisse – seine Wunden nähte.
Meine Schwestern und ich säuberten schweigend seinen Körper. Und während die weißen Tücher sein Blut abwuschen, betete ich, das Wasser würde ihm nicht nur Reinigung, sondern auch eine Wiedergeburt bringen.
Ich war mir nicht sicher, wie viel Schmerz Rider glaubte erdulden zu müssen, um endlich erlöst zu sein. Aber ich wusste – wir alle wussten –, dass er genug gelitten hatte. Ich musste ihn nur dazu bringen, es auch zu glauben.
Denn ich liebte ihn.
Und ich wollte mit Freude seine Erlösung sein, wenn er sich am Ende bloß selbst verzieh.