Zehn Tage später …
»Brauchst du noch etwas?«, fragte Bella, als sie mir aus der Dusche zurück ins Bett half.
»Nein«, antwortete ich und hielt ihre Hand. Bella lächelte mir zu. Ich blickte herab auf ihre Hand in meiner … auf den Ehering an ihrem Ringfinger.
Sie setzte sich neben mich aufs Bett. Ich zuckte zusammen, als ich mich zu ihr umdrehte. Bella betrachtete den schlichten Goldreif. »Das Heiligste, was ich besitze«, sagte sie lächelnd. »Es war das Beste, was ich je getan habe.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. In ihren Augen konnte ich sehen, dass sie es ernst meinte. Verdammt, die letzten paar Tage hatten mir gezeigt, wie sehr sie mich wirklich liebte. Es war total komisch für mich. Bella war der Ansicht, dass ich ihr das Leben gerettet hatte, während doch in Wahrheit sie mich auf jede nur mögliche Weise gerettet hatte.
Sie gab mir Leben, als sie durch diese Steinmauer hindurch mit mir geredet hatte.
Sie gab mir Hoffnung, als sie mich wollte, obwohl sie wusste, wer ich war.
Und sie stellte sich für mich gegen die Hangmen, als ich hätte sterben sollen.
Während der letzten zehn Tage war sie nicht von meiner Seite gewichen. Sie hatte mich mit der Liebe überschüttet, die mir beim Aufwachsen gefehlt hatte. Sie hatte mir mehr als einmal gesagt, dass sie all die Küsse gutmachen würde, die ich als Kind hätte bekommen sollen, all die Umarmungen, nach denen ich in meiner Jugend gehungert hatte.
Und sie meinte es ernst. Bella hielt immer meine Hand. Sie hatte sie immer gehalten seit unseren Tagen in der Zelle. Und jetzt war sie nach wie vor hier und hielt auch im Bett meine Hand.
Es klopfte, und Smiler kam herein, wie jeden Tag. Bella setzte sich auf, und da drängte sich ein kleines blondes Mädchen an Smilers Beinen vorbei durch die offene Tür.
»Grace!«, hörte ich Lilah rufen. »Tut mir leid!«, sagte sie und erschien in der Tür. »Das kleine Monster läuft gerne mal weg.« Ich lächelte, als ich die Freude in ihrer Stimme hörte.
Ich fühlte ein Augenpaar auf mein Gesicht gerichtet. Grace stand neben meinem Bett und starrte mich an. Dann kniff sie verwirrt die Augen zusammen. Ich warf Bella einen Blick zu, die amüsiert zusah. »Hallo, Grace«, sagte ich.
Grace wandte sich stirnrunzelnd an Lilah. »Mama?«, fragte sie. »Du hast doch gesagt, dass der Prophet jetzt im Himmel ist?« Mir wurde es schwer ums Herz, als sie auf mich zeigte. »Aber er ist ja hier. Ich habe ihn wiedergefunden!«
Lilahs Pupillen weiteten sich vor Schock und Verlegenheit, und sie eilte herein und ging neben Grace in die Hocke. »Nein, Grace. Erinnerst du dich denn nicht an Rider? Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dass er der Bruder des Propheten ist?«
Grace nickte zweifelnd. »Aber er sieht genau so aus wie der Prophet.«
»Ich weiß. Das liegt daran, dass er sein Zwilling ist. Weißt du noch, wie ich dir erklärt habe, was ein Zwilling ist?«
Grace nickte. »Menschen, die dasselbe Gesicht haben.«
»Richtig.« Lilah stand auf. »Es tut mir so leid, Rider. Sie bringt noch vieles durcheinander. Der Übergang von ihrem früheren Leben zu diesem ist schwierig. Dinge verschwimmen.«
»Ist schon okay«, sagte ich. Aber innerlich starb ich. Ich hatte nicht einmal in einen Spiegel geschaut, seit man mich wie einen Invaliden in dieses Bett gelegt hatte. Es lag nicht an meinen Verletzungen. Sondern daran, dass ich den Mann nicht sehen wollte, der mir entgegenstarrte.
Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn. Wie er nach Luft schnappte. Mich anflehte, ihn am Leben zu lassen.
»Tante Bella, komm mit raus, ich möchte dir etwas zeigen!«, riss Grace mich aus meinen Gedanken. Bella wiegte sich auf den Füßen hin und her. Ich konnte sehen, dass sie gern mitgehen wollte, aber zugleich wollte sie mich nicht allein lassen.
»Geh nur«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln. »Bitte.« Ich brauchte ein wenig Zeit für mich allein.
Bella nickte verständnisvoll und ließ sich von Grace an der Hand nehmen und hinausführen. Ich schloss die Augen. Ich atmete mühsam, aber der ständige verdammte Schmerz in meiner Brust erwachte lodernd zum Leben und lähmte meine Lungen.
»Alles in Ordnung?« Ich öffnete die Augen und sah Smiler, der mir einige Schmerztabletten hinhielt. Ich nickte und nahm sie aus seiner Hand. Er gab mir ein Glas Wasser, und ich schluckte die Tabletten.
Dann stellte ich das Glas auf den Nachttisch und zuckte zusammen, als mir Schmerz von meinen angeknacksten Rippen durch den Leib jagte. »Fuck!«, zischte ich und legte mich wieder hin.
Smiler beschäftigte sich mit den Verbänden, die er mitgebracht hatte. Der Bruder war jeden Tag hier gewesen, obwohl ein paar Hangmen ihm deswegen die Hölle heißmachten. Ich wusste nicht wieso. Verdammt, ich hatte keine Ahnung, wieso er mir überhaupt aus dem Schuppen geholfen hatte.
»Ich will in diese Hütte und raus aus dem Clubhaus«, meinte ich.
»Kannst du. Noch ein paar Tage.«
»Ich kann doch jetzt hin«, widersprach ich.
Smiler zuckte nur mit den Schultern. Zorn tobte durch meine Adern. »Ich will nicht mehr hier im Clubhaus sein. Alle Brüder wollen mich tot sehen. Und Bella setzt keinen Fuß aus diesem Zimmer. Sie traut sich nicht, mich allein zu lassen, falls einer von ihnen sich der Anweisung des Präs widersetzt, mich nicht umzubringen.«
Smiler nickte. »Ein verdammt gutes Mädchen hast du da«, meinte er und machte die Arzttasche zu … die Tasche, die einmal mir gehört hatte. Smiler hatte mir erzählt, dass er als Notfallarzt übernommen hatte, nachdem ich weg war.
Noch etwas, wo ich ihn verarscht hatte.
Ich legte mich wieder hin. »Ohne mich wäre sie besser dran gewesen.« Ich schüttelte den Kopf. »Was für ein beschissenes Leben wird sie mit mir erwarten? Hier? Styx wird mir nicht erlauben, das Gelände zu verlassen, weil er fürchtet, dass ich euch dann wieder verarsche. Bella braucht die Nähe ihrer Schwestern, aber wir werden meilenweit entfernt leben, weil er mein Gesicht auch nicht in der Nähe des Clubs sehen will.« Ich atmete tief ein, um mich zu beruhigen. »Es wäre besser für sie, wenn ich tot wäre. Fuck, Mann, ich wollte in diesem Schuppen sterben. Dass ich verschont wurde, heißt bloß, dass ich noch länger leben muss mit all dem Mist, der passiert ist und für den ich verantwortlich bin.« Ich rieb mir über die Augen. »Ich will nicht mehr schlafen, weil dann die Träume kommen. Und wenn ich wach bin, ertrage ich es nicht, Bella meinetwegen als Ausgestoßene leiden zu sehen.« Ich seufzte. »Sie hätte mich sterben lassen sollen.«
Stille folgte meinen Worten, bis Smiler zur Tür ging und sagte: »Du weißt gar nicht mal, was du hast.«
Ich stützte mich auf die Ellbogen, um ihn besser zu sehen. Der Bruder sah total sauer aus. »Was?«, fragte ich.
Smiler schüttelte den Kopf. »Du. Bella. Du hast keine verdammte Ahnung, wie gut du es hast. Scheiß auf den Club. Scheiß auf deinen Psychobruder und die Albträume. Scheiß darauf, dass Grace dachte, du wärst der Prophet. Was zur Hölle spielt das für eine Rolle, wenn du dein Leben hast und eine Braut, die für dich sterben würde – buchstäblich? Eine heiße Braut, die förmlich den Boden verehrt, auf dem du gehst. Wieso zur Hölle kümmert dich was anderes, wenn du das hast?«
Ich zuckte zusammen, als ich seinen total angepissten Tonfall hörte. »Fuck, Smiler«, sagte ich und schluckte meine Überraschung hinunter.
Er schloss die Augen und atmete tief durch. Dann öffnete er sie wieder und sagte ruhig: »Ich würde alles geben, um das wiederzuhaben. Ein Mädchen, das mich so ansieht wie Bella dich. Das alles aufgeben würde, nur um mit mir zusammen zu sein. Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie gesegnet du bist. Oh ja, du hattest ein verkorkstes Leben. Aber mit Bella gibt das Schicksal dir das zehnfach zurück.«
Ich starrte Smiler an und wusste einfach nicht, was ich sagen sollte.
Er wandte mir den Rücken zu. »Ich hatte das mal, Rider. Und ich habe sie als selbstverständlich hingenommen, so wie du jetzt Bella«, sagte er. »Und Blödmann, der ich war, hatte ich keine Ahnung, was sie mir bedeutet hat, bis sie in meinen Armen starb und ihre Augen mich anflehten, sie zu retten. Aber das konnte ich nicht, denn sie war verloren. Und nun würde ich alles geben, nur damit sie mich wieder ansieht. So wie Bella dich. Bloß noch einen einzigen verdammten Tag lang.«
»Smiler«, sagte ich, »das wusste ich nicht, ich …«
»Tja, jetzt weißt du es. Also bau keinen Scheiß … denn dann wirst du definitiv darum beten, du wärst im Schuppen abgekratzt. Das Leben ist scheiße, wenn man allein ist. Und zwar richtig.« Damit ging Smiler und schloss die Tür.
Keine Ahnung, wie lange ich ihm nachstarrte. Dann legte ich mich wieder hin und dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Ich dachte über die letzten Monate nach. Daran, wie sehr ich es vermieden hatte, in den Spiegel zu schauen.
Ich war ein Weichei. Ein richtiges, verdammtes Weichei. Denn ich konnte es nicht ertragen, Judah in meinem Spiegelbild zu sehen.
Ich wusste nicht, wie ich weiterleben sollte, wenn mich buchstäblich alles an den Menschen erinnerte, den ich am meisten vergessen wollte.
Lärm von den Brüdern und ihren Frauen oder Schlampen war von der Bar zu hören. Familientag bei den Hangmen. Gelächter und lautes Johlen füllte den Raum bis in den hintersten Winkel. Während ich eingesperrt war, um dafür zu sorgen, dass mich keiner anrührte.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich nur aufs Atmen, als ich die Tür leise auf- und wieder zugehen hörte. Verärgert über das unerwünschte Eindringen öffnete ich die Augen und wollte demjenigen sagen, er solle abhauen. Doch dann erstarrte ich.
Mae.
Das Schweigen zwischen uns zog sich hin, als sie an mein Bett kam. Ich beobachtete sie dabei und wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Was gab es zu sagen? Schuldgefühle und ein ganzer Haufen Scham überkamen mich, als ich daran dachte, was ich ihr angetan hatte. Was ich sie hatte durchmachen lassen … meine verrückte Besessenheit von früher.
Mae setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett und blickte mir in die Augen.
»Mae …«, fing ich an, aber sie hob unvermittelt die Hand und schnitt mir das Wort ab.
»Nein. Bitte, lass mich reden«, sagte sie leise. Ich nickte. Sie schaute auf ihre Hände im Schoß. »Sag mir nur, dass du sie liebst.« Ich erstarrte, als die Worte über ihre Lippen kamen. Als ich nicht sofort antwortete, blickte Mae auf. »Ich muss wissen, dass du sie willst, mit Haut und Haaren. Ich muss wissen, dass du sie vollkommen liebst. Für immer. Ich muss wissen, dass sie dein Ein und Alles ist und immer sein wird.«
Mein hämmerndes Herz pumpte das Blut rasend schnell durch meine Adern. »Ja.« Meine Stimme klang heiser und brüchig. Ich räusperte mich und spürte Hitze in meine Wangen steigen. »Ich liebe sie mehr als alles andere, Mae. Du hast keine Ahnung, wie sehr.« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet, mich vollständig zu fühlen. Ich dachte, das käme mit meinem Aufstieg. Doch stattdessen kam es mit ihr. Von dem Moment an, als ich ihre Stimme hörte … war ich verändert.« Ich legte die Hand auf mein Herz. »Ich würde sterben für sie. Ich würde alles für sie tun. Du hast mein Wort.«
Maes blaue Augen schimmerten, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Ich konnte nichts ungesagt lassen, deshalb fuhr ich heiser fort: »Mae.« Ich schüttelte beschämt den Kopf. »Was ich dir angetan habe, wie ich dich behandelt habe …«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, unterbrach sie.
»Doch«, widersprach ich und holte tief Luft. »Ich … ich glaubte lange Zeit, dass ich dich liebe.« Mae senkte den Blick. »Aber jetzt weiß ich, dass es nicht so war. Jetzt habe ich Bella, und ich begreife, was Liebe wirklich ist. Und es ist nicht das, was ich für dich empfand.« Schuld und Beschämung rannen durch meine Adern. »Du warst meine Freundin, und ich war so dumm, unsere Freundschaft wegzuwerfen. Ich … ich schäme mich so sehr für das, was ich getan habe. Wenn ich es ändern könnte, wenn ich einfach zurück in die Vergangenheit könnte, wäre ich anders. Ich würde nicht …«
Mae unterbrach mich, indem sie die Hand ausstreckte und auf meine legte. Ich atmete tief ein, um meine strapazierten Nerven zu beruhigen. »Rider, es ist vorbei. Ich kann sehen, dass du dich verändert hast. Aber noch mehr als das sehe ich, wie du Bella ansiehst. Mich hast du nie so angesehen, und das ist gut so. Denn so sollte es sein. Das sehe ich jetzt.«
Die schwere Last auf meinen Schultern wurde etwas leichter. Mae bat: »Versprich mir nur, dass du für sie sorgen wirst, wie es sonst niemand kann.« Ihre Hand hielt meine fest. »Sie hat so lange und so hart gekämpft, Rider. Schon als sie noch so jung war, hat sie sich um uns alle gekümmert. Sie war unsere grimmigste Beschützerin. Doch es hat sie müde gemacht. So unglaublich müde, aber sie hat nie aufgehört, für uns da zu sein, uns zu lieben und die Mutter zu sein, die wir nie hatten.«
Mir blutete das Herz. Ich stellte mir Bella als Kind vor, mit derselben Beharrlichkeit, mit der sie mich vor den Hangmen beschützt hatte. Der Gedanke ließ mich fast zusammenbrechen. Ein brüchiges Lachen kam über Maes Lippen. »Sie erzählte uns immer von dem Leben, das wir eines Tages haben würden – frei und mit Männern, die uns liebten, nicht unsere Seelen oder unser Äußeres.« Mae wischte sich eine verirrte Träne weg. »Und sie hat so sehr daran geglaubt, Rider. Dann starb sie, oder zumindest dachten wir, dass sie tot sei. Im Dunkel der Nacht, hier im Quartier, trauerte ich immer um das Leben, von dem sie für uns alle träumte, weil wir alle das bekommen hatten und sie nicht. Ich ahnte ja nicht, dass Bella am Leben war und immer noch kämpfte – erst um ihr Leben, und dann kam sie zurück nach Neu Zion, um für alle die zu kämpfen, die nicht für sich selbst einstehen konnten.« Mae zögerte und wandte mir dann den Kopf zu. »Und sie kämpfte um dich. Um dein Leben … sie hat so tapfer um den Mann gekämpft, der ihr das Herz gestohlen hat.« Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. »Aber jetzt ist es Zeit, dass ihr Kampf endet.« Mae atmete tief durch. »Es ist Zeit, dass sie ihre Schutzwälle senkt und endlich glücklich ist … es ist Zeit für sie, Frieden zu finden.«
Ich wandte den Blick ab und blinzelte die Tränen weg. Mae stand auf. »Bella ist für mich wie der Schlag meines eigenen Herzens und wird es immer sein. Sie ist der größte Schatz, den man nur finden kann«, sagte sie. »Und ich bin froh, dass du derjenige bist, der ihr ihren Wert bewiesen hat. Denn sie ist unbezahlbar, Rider. Wahrhaft unbezahlbar.«
Mae ging zur Tür. Sie griff schon nach dem Türknauf, als ich sagte: »Es tut mir leid, Mae. Ich weiß nicht, ob es von Wert ist, aber mir tut das alles so verdammt leid.«
Mae warf mir einen Blick über die Schulter zu. »Es ist Vergangenheit, Rider. Wir beide haben nun die Zukunft, die für uns bestimmt war. Es ist Zeit, den Blick nach vorn zu richten und nicht zurückzuschauen.«
Ich senkte zustimmend den Kopf. »Du gehst ein großes Risiko ein, indem du hierherkommst. Styx wird nicht erfreut sein, wenn er dich erwischt.«
Mae zuckte mit den Schultern. »Ich musste mich vergewissern, dass du Bella so sehr liebst, wie es für mich sein muss.« Mae lächelte, ein reines, freudiges Lächeln. »Und Bella wiederzuhaben hat mich gelehrt, mehr Rückgrat zu haben. Sie hat mich gelehrt, stärker zu sein. Sie ist die vollendete Regelbrecherin, aber jetzt weiß ich, dass Regeln manchmal gebrochen werden müssen.«
»Stimmt«, sagte ich und dachte an Bellas schönes Gesicht. Ich spürte Wärme in meine Muskeln sickern, als ich an ihre wunderschönen Augen und ihren Mund dachte … daran, wie sie mich ansah.
Nur mich.
Voller bedingungsloser Liebe.
»Weißt du, Rider?«, meinte Mae. »Wir waren doch einmal gute Freunde. Ich habe das Gefühl, dass wir es, eines Tages, wieder sein könnten.«
Ein vertrautes Lächeln spielte um ihren Mund, und ich sagte: »Ja … dein Freund zu sein, klingt gut, Mae. Freunde. Alles, was wir je hätten sein sollen.«
Mae ging hinaus, und das Zimmer versank in schwere Stille. Ich starrte an die Decke und dachte noch einmal darüber nach, was gerade passiert war. Es ist Zeit, den Blick nach vorn zu richten und nicht zurückzuschauen. Mae hatte recht, das war mir klar. Von jetzt an gab es für keinen von uns noch einen Blick zurück.
Als ich die Augen schloss, versuchte ich mich dazu zu überreden, ihrem Rat zu folgen. Das war leichter gesagt als getan, wenn die Vergangenheit einen sehr belastete. Aber ich musste es versuchen.
Bella zuliebe musste ich das einfach.
Irgendwann später öffnete ich die Augen. Ich streckte mich auf dem Bett, während meine Muskeln nach und nach munter wurden und ich die Familien und Freunde der Hangmen draußen noch hörte.
Als ich merkte, dass ich pinkeln musste, stöhnte ich. Ich wankte ins Badezimmer und hielt mir dabei die gebrochenen Rippen. Als ich fertig war, ging ich zurück zur Badezimmertür und sah im Vorbeigehen mein Bild im Spiegel über dem Waschbecken. Und ich erstarrte. Ich erstarrte zur Salzsäule und mir rutschte das Herz in die Hose, als ich in dieser Sekunde Judahs Gesicht zurückstarren sah.
Einen kurzen Moment lang hatte ich das alles vergessen.
Mein Puls am Hals hämmerte, und ich rang um Luft, als alle unerwünschten Bilder von ihm wie eine Flutwelle wieder in mein Gehirn wogten. Erschöpft, körperlich geschwächt, lehnte ich mich an das Waschbecken und schloss die Augen. Meine Arme zitterten vor Zorn, der sich in mir breitmachte. Judah. Mistkerl Judah. Sogar im Tod hielt er mich noch in seinem Bann. Vergiftete nach wie vor meinen Geist … zerstörte immer noch mein verdammtes Leben.
Ich öffnete die Augen und schaute wieder in den Spiegel, biss die Zähne zusammen und lieferte mir ein Blickduell mit mir selbst. Dann holte ich aus und donnerte die Faust in den Wandschrank. Der Schlag riss die Tür aus den Scharnieren, und der Inhalt fiel heraus. Und als ich mich darauf konzentrierte, den Schmerz meiner gebrochenen Rippen wegzuatmen, sah ich etwas im Waschbecken.
Ich hob den schwarzen Haarschneider auf und starrte in den Spiegel. Judah und ich hatten immer langes Haar gehabt. Und wir hatten immer Bart getragen, genau wie Jesus und seine Jünger.
Aber ich wollte nicht mehr so sein wie Jesus.
Und ich wollte absolut nicht so sein wie Judah.
Ohne nachzudenken, legte ich den Schalter um und hob den Haarschneider an meinen Kopf. Ich ignorierte den brüllenden Schmerz in meinen Rippen und zwang die summenden Klingen durch mein langes braunes Haar. Mit jeder Strähne, die zu Boden fiel, drang ein erstickter Schrei aus meinem Mund.
Bei jedem frisch rasierten Stück biss ich die Zähne zusammen und verbannte Judah aus meinen Gedanken. Sein Lächeln, sein Lachen, seine Hand an meinem Rücken. Seine Aufregung, seine Freude … seinen verdammten Irrsinn. Die Gesichter seiner Opfer, die vor Schmerz schrien, seine total irren Augen … seine Nägel, die sich in meine Haut krallten, damit ich aufhörte … seine glasigen Augen, als er starb …
Tränen liefen mir über die Wangen, und ich sah zu, wie die letzte Haarsträhne ins Waschbecken fiel. Danach machte ich mit dem Bart weiter. Die Klinge war etwas zu lang dafür, deshalb erwischte ich nicht alles. Aber als ich den Haarschneider wieder sinken ließ, betrachtete ich mein neues Spiegelbild … und fühlte alles um mich herum einstürzen.
Judah war weg. Er war aus meinem Gesicht verschwunden.
Meine Beine gaben nach, und ich sank zu Boden. Ich hob die Hände an den Kopf und schrie all meinen Schmerz hinaus, als ich das kurze Haar unter meinen Handflächen spürte. Ich hatte gewollt, dass Judah verschwand … aber mir war nicht klar gewesen, wie groß der Schmerz in mir sein würde, wenn er es endlich war.
Ich rollte mich zusammen und wiegte mich vor und zurück in dem unerträglichen Schmerz in meiner Brust. »Rider!«, hörte ich da Bella panisch rufen. Sie stürmte herein und sank umgehend neben mir zu Boden. Jemand anders blieb in der Tür stehen. Ich blickte auf: Schwester Ruth sah meinen totalen Zusammenbruch mit an.
»Rider«, flüsterte Bella, »was hast du getan?« Sie hob einige Haarsträhnen vom Boden auf.
»Ich konnte nicht mehr er sein«, sagte ich. »Ich konnte nicht mehr in den Spiegel schauen und ihn sehen. Ich … ich konnte nicht alle dort draußen in der Bar sehen und zulassen, dass sie ihn in mir sehen … Grace, Lilah …« Ich blickte meine Frau an. »Du.«
Bella schüttelte den Kopf. »Nein, Rider. Du bist nicht dein Bruder. Niemand denkt das.«
Judahs letzte Worte rasten durch meinen Kopf … Böses gebiert Böses, Cain. Jede Sünde, die meine Seele verfinstert, lebt auch in dir. Wir sind gleich. Gleich erschaffen … gleich geboren …
»Aber wir sind es«, sagte ich und fuhr die Adern an meinem Handgelenk mit den Fingern nach. »Wir sind vom selben Blut.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir haben unsere Eltern nie gekannt, doch sieh dir unseren Onkel an. Sieh dir Judah an … ich bin aus demselben Bösen gemacht wie sie. Ich kann meinem Schicksal nicht entkommen.«
Ich hasste den hilflosen Ausdruck in Bellas Gesicht. Ich wollte ihr nicht noch mehr wehtun, als ich es schon getan hatte. Aber … aber …
»Hältst du mich für böse?«
Ich hob ruckartig den Kopf zu Ruth, die nervös in der Tür stand, und runzelte die Stirn. »Was?«
Ruth setzte sich mir gegenüber auf den Boden. Bella schmiegte sich an mich und nahm meine Hand. Ihre Berührung gab mir Kraft. Sie war meine Kraft.
»Hältst du mich für böse?«, wiederholte Ruth. Bella sah verwirrt aus.
»Nein«, antwortete ich und starrte die Frau an, über die ich fast nichts wusste. Inzwischen trug sie einen langen Rock mit Bluse und sah anders aus als bei unserer ersten Begegnung. Sie trug das lange braune Haar offen, und ihre braunen Augen musterten mich eindringlich … sehr eindringlich.
Ruth schluckte und senkte den Blick. »Dann bist du wie ich.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. »Ich verstehe nicht.«
Ruth hielt den Blick weiter gesenkt und die Hände fest im Schoß verschränkt. »Ich war dreizehn, als mein älterer Adoptivbruder mich fortholte. Meine Eltern waren nie da, sie waren zu beschäftigt damit, sich wieder etwas zu trinken zu besorgen, um sich zu kümmern. Also nahm er mich mit. Er kam zu mir und erzählte mir, dass er Gott gefunden und eine heilige Aufgabe zu erfüllen habe.«
Ich erstarrte total, als sie fortfuhr.
»Er brachte mich nach Texas. Ich konnte nicht glauben, dass das sein neues Zuhause war, als ich es sah. Ich konnte nicht fassen, dass alle diese Menschen ihn liebten und verehrten … aber meine Liebe für sein neues Heim dauerte nicht lange an.« Bella drückte meine Hand so fest, dass ich glaubte, sie drücke mir das Blut ab. »Denn eines Nachts kam er zu mir. Ich begriff nicht, was er von mir wollte – von seiner Schwester. Aber ich fand es bald heraus.« Sie zuckte zusammen. »Er holte mich in sein Bett … und … und …« Ruth presste fest die Augen zu.
Als sie den Kopf hob, liefen ihr Tränen über die Wangen. »Ich wusste nicht, dass ich Zwillinge erwartete. Mein Bruder Lance verheimlichte es mir, als die Ärzte Ultraschallbilder machten. Ich blieb isoliert, bis sie geboren wurden.« Sie schluchzte auf. »Nach der Geburt durfte ich sie nur ein paar Minuten lang in den Armen halten. Ich hatte diese Kinder nie gewollt, sie wurden mir von ihm aufgezwungen. Aber als ich ihre großen Augen zu mir aufblicken sah, verliebte ich mich sofort in sie. Ich wollte sie so unbedingt, dass ich es kaum erklären kann. Sie waren meine Kinder … meine Seele, mein Herz … bis er sie mir wegnahm.«
»Oh nein«, flüsterte Bella, und ihre Hand in meiner zitterte wie Espenlaub. Ich wollte Luft holen, doch ich konnte nicht. Ich konnte nicht atmen.
»Ich weinte stundenlang. Ich schrie nach meinen Söhnen, dass man sie mir zurückgeben solle. Aber mein älterer Bruder, der Prophet, sagte mir, dass meine Jungen – seine Söhne – als seine Erben aufwachsen sollten. Dass Gott ihm Anweisungen gegeben habe, wie sie erzogen werden sollten … weit weg von den anderen. Weil sie etwas Besonderes waren.«
»Ruth«, flüsterte Bella und griff nach ihrer Hand. Ruths Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, als Bella ihr den so dringend nötigen Trost schenkte. Aber ich konnte mich nicht rühren. Ich war sprachlos vor Schock.
»Ich kam nie über den Verlust meiner Jungen hinweg. Der Prophet behauptete, ich sei mit meiner Depression und meinem Mangel an Glauben zu einer Last für die Gemeinde geworden, also schickte er mich weg. Weit weg von meinen Söhnen, damit ich mich nicht in Gottes Pläne einmischte.«
»Puerto Rico«, flüsterte Bella.
Ruth nickte. »Ich war dort, bis wir wieder in die USA zurückgebracht wurden, um in Neu Zion zu leben.« Ruth schaute mich nervös an und rutschte dann nach vorn. Sie hob eine Haarsträhne von mir vom Boden auf. Da wurde mir klar, dass ihr Haar und meins genau dasselbe Braun hatten. Ihre Augen hatten dieselbe Farbe und Form wie meine.
Sie war … sie war …
»Ich denke, dass Judah wie sein Vater war, und du« – sie schluckte –, »du bist wie deine Mutter …« Sie sah mir in die Augen. »Wie ich.«
Ich starrte die Frau an und versuchte zu begreifen, was sie mir da gerade sagte. Onkel David war nicht mein Onkel – er war mein Vater. Und er hatte seine Adoptivschwester vergewaltigt … meine Mutter …
»Ich weiß nicht, wie man ein Sohn ist.« Ich hatte keine Ahnung, wieso das das Erste war, was mir über die Lippen kam. Aber so war es.
Ruth seufzte und schenkte mir ein Lächeln unter Tränen. »Ich weiß auch nicht, wie man eine Mutter ist.«
Ich ließ den Kopf hängen und hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. Plötzlich lag eine Hand in meiner freien Hand – warm und weich und … »Mutter«, flüsterte ich und mühte mich, die Worte aus meiner zugeschnürten Kehle zu zwingen. »Ich habe eine Mutter.«
»Ja«, weinte Ruth, und ihre Hand in meiner zitterte. »Und wenn du mich lässt, würde ich … dich gern kennenlernen. Ich … ich liebe dich, Sohn. Das habe ich immer …«
Bella beugte sich vor zu Ruth und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. Dann schmiegte sie sich an mich, drückte mich an sich und bewahrte mich davor, zusammenzubrechen.
Ich saß auf dem Boden im Badezimmer, meine Hände und mein Herz erfüllt mit meiner Frau und meiner Mutter. Beide gute Frauen. Beide reine Seelen …
… und wir alle Überlebende.
Smilers Worte gingen mir wieder durch den Kopf, und ich wusste, dass der Bruder recht hatte. Ich musste es versuchen und weiterleben. In meinem Leben in unreiner Hölle war ich mit reinen Gaben gesegnet worden.
Ich drückte die Hand meiner Mutter und die meiner bezaubernden, tapferen Frau und schloss die Augen. Und als dieses Mal die Finsternis kam, kamen keine schrecklichen Bilder in meinen Kopf. Stattdessen breitete sich ein Licht in meiner Brust aus, und Wärme in meinem Herzen.
Und trotz allem lächelte ich.
Ich lächelte und drückte meine Familie an mich …
… denn ich war gesegnet.
So verdammt wahrhaft gesegnet.