20

Bella

Drei Tage später …

Ich zog das schwarze Shirt über Riders Arme und seinen nach wie vor verletzten Oberkörper. Inzwischen konnte er sich selbst anziehen, aber ich machte mir Sorgen, dass es ihn zu sehr anstrengte. Als ich aufsah, ruhte sein Blick schon auf mir. So war es während der letzten Tage immer gewesen. Als hätte sich etwas in ihm verändert, das ihn dazu brachte, mich zu schätzen, zu lieben … und zu akzeptieren, dass ich nie von seiner Seite weichen würde.

Es war die Wahrheit. Ich würde nirgendwohin gehen.

»Geht es dir gut?«, fragte ich, und mir blieb die Luft weg, als er sich vorbeugte und meinen Mund mit einem Kuss eroberte. Ich schloss die Augen und strich mit den Händen durch sein nun kurz geschorenes Haar.

Er löste sich von mir, und ich lächelte, als er flüsterte: »Ja. Es geht mir gut.«

»Gut.« Ich drückte ihm einen Kuss auf den Kopf.

Ich machte mich daran, die wenigen Dinge, die er brauchte, im Zimmer aufzusammeln. Heute würden wir die Hangmen verlassen und in unser neues Zuhause umziehen. Als Rider mir von Styx’ Entscheidung erzählt hatte, hatte ich weinen müssen. In diesem Moment waren alle aufgestauten Emotionen aus meinem Körper gewichen. All die Kraft, an der ich mich festgehalten hatte, verschwand.

Er würde weiterleben.

Und ich würde mit dem Mann leben können, den ich liebte.

Das war alles, was zählte.

Es klopfte leise an der Tür. Ich lächelte, als ich Schwester Ruth hereinkommen sah. Ihr zaghafter Blick fiel sofort auf ihren Sohn.

Ihren Sohn.

Selbst jetzt noch, als ich zusah, wie die stille Frau auf Rider zukam – ihre Nervosität war ihr deutlich anzumerken –, konnte ich es kaum glauben. Rider erwiderte ihren Blick, und ein nervöses Lächeln breitete sich um seine Lippen aus.

Sie waren beide so verletzt von ihrer Vergangenheit und kämpften doch so verzweifelt um eine Zukunft. Als Mutter und Sohn, endlich wiedervereint.

»Wie fühlst du dich?«, fragte sie und hob die Hand an einen verblassenden Bluterguss. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, aber mit Stolz sah ich zu, wie sie dann die Hand weiter ausstreckte und sanft über Riders Haut strich.

Rider schluckte, als er die kurze, liebevolle Berührung spürte. »Ich fühle mich besser. Und ich bin froh, hier wegzukommen.«

Ruth nickte verständnisvoll. Stephen kam mit Solomon und Samson im Schlepptau zur Tür. Ich umarmte ihn. Die vergangenen Wochen waren gut für Stephen und meine Schwestern gewesen. Wir hatten uns jeden Tag miteinander unterhalten und waren einander dabei immer nähergekommen.

Ich kannte die Güte in seinem Geist und seinem Herzen schon von meinen Tagen in Puerto Rico. Doch zu wissen, dass er mein Vater war – mein eigen Fleisch und Blut –, vertiefte meine Verbindung zu ihm noch. Und ich konnte sehen, dass es Mae und Maddie ebenso ging. Mae hieß ihn in ihrem Herzen willkommen, wie sie es bei den meisten Menschen tat. Und was Maddie anging, fühlte sie sich mit jedem Tag wohler in seiner Gesellschaft. Mit jedem Tag bröckelten ihre Schutzwälle ein klein wenig mehr.

Ich war so stolz auf die beiden.

Stephen und Ruth hatten ein Apartment außerhalb des Quartiers bezogen, das Tank gehörte. In Puerto Rico hatte ich mich oft gefragt, ob sie mehr als bloß Freunde waren, aber nun war ich sicher, dass es nicht so war. Ich dachte, in gewisser Weise sah Ruth Stephen als den älteren Bruder, den sie hätte haben sollen. Stephen hatte sich in Puerto Rico um sie gekümmert und ihr die Liebe gegeben, die sie so dringend gebraucht hatte. Sie waren beste Freunde.

Sie waren unsere Familie.

Solomon und Samson waren in das Apartment über der Garage gezogen. Sie besuchten häufig das Clubhaus, und das nicht nur, um Rider und mich zu sehen. Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass die Brüder die Hangmen mochten. Zumindest mochten sie deren Lebensweise. Solomon hatte mir anvertraut, dass ihm die Art, wie die Hangmen lebten, nicht wie eine große Abweichung von ihrer Rolle als Wächter vorkam. Auch die Hangmen schienen die Brüder zu mögen. Ich konnte das verstehen. Solomon und Samson waren stets starke und anständige Männer gewesen. Ich hatte nie erfahren, was mit ihnen passiert war, das sie in die Gemeinde der Abtrünnigen gebracht hatte, aber ich begriff, dass es etwas Schlimmes war. Ich konnte es in ihren Augen sehen, immer wenn sie von unserem früheren Zuhause sprachen.

So wie ich versuchten sie bloß, sich an diese fremdartige neue Welt anzupassen, so weit sie konnten. Auch wenn ich im Gegensatz zu ihnen erst noch begreifen musste, dass wir wahrhaft frei waren. Ich musste erst einmal dieses Clubhaus verlassen.

»Bist du bereit?«, fragte Solomon Rider.

»Ja«, antwortete der. Solomon und Samson halfen ihm vom Bett und zur Tür. Mir wurde es schwer ums Herz, als ich sah, wie viel Gewicht er verloren hatte. Seine Jeans hing locker um die Beine, und das Shirt, das zuvor gepasst hatte, war ihm nun eine Nummer zu groß.

Ich fand sein kurzes Haar nach wie vor merkwürdig, und seinen kürzeren Bart auch. Aber er sah nach wie vor atemberaubend aus. Ob langes oder kurzes Haar, Bart oder nicht, er sah immer noch unglaublich gut aus. Rider ging langsam zur Tür, und ich folgte ihm mit Ruth und Stephen.

Als wir über den Korridor gingen, konnte ich Stimmen von der Bar hören. Das machte mich nervös. Es war kein Geheimnis, dass die Männer Rider hassten. Nur Smiler war je gekommen, um ihn zu besuchen.

Das hier würde nicht leicht werden.

Als Rider die Bar betrat, wurde es still. Ruth streckte die Hand aus und nahm meine. Ich straffte die Schultern, als wir ihm folgten … und es brach mir das Herz. Jeder einzelne Bruder warf Rider einen finsteren Blick zu. Worte waren nicht nötig, denn wir konnten ihre stummen Gesichter lesen: Keiner von ihnen wollte Rider am Leben sehen.

Mir stockte der Atem, als die Männer von ihren Stühlen aufstanden und höhnisch grinsend die Arme verschränkten. Doch mir ging vor Stolz fast das Herz über, als Rider seine Niedergeschlagenheit verbarg, die er, wie ich wusste, empfinden musste und seine Beine zwang weiterzugehen.

Er schüttelte die helfenden Hände von Solomon und Samson ab und drehte sich zu ihnen um. Ich hatte recht. Das Verhalten seiner ehemaligen Clubbrüder machte ihn fertig. Der Schmerz in seinen Augen war offensichtlich.

»Ich kann selbst gehen.« Ich musste die Augen abwenden, als mein Ehemann unter den hasserfüllten Blicken der Männer in der Bar wankend weiterging. Ich konnte es nicht ertragen, ihm zuzusehen, wie er versuchte, an dem Stolz festzuhalten, den sie ihm so brutal entrissen hatten.

Ich hörte Ruth schmerzerfüllt Luft holen. Rider war mitten im Zimmer stehen geblieben, um den Schmerz wegzuatmen. Ich wollte zu ihm gehen und ihm helfen, doch Ruth schüttelte den Kopf. »Lass ihn das machen«, flüsterte sie fast unhörbar. »Er muss das selbst tun.«

Es widersprach all meinen Instinkten, aber ich wusste, dass sie recht hatte. Mein Ehemann hob den Kopf und ging weiter zum Ausgang. Dabei blickte er starr gerade aus, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzuschauen.

Denn wir konnten nicht anders. Wenn wir weiterleben wollten, dann mussten wir uns ganz auf die Zukunft konzentrieren. Und genau das tat er gerade und ließ meine Liebe zu ihm damit noch wachsen.

Rider schaffte es zur Tür und ging hinaus. Solomon und Samson blieben genau hinter ihm. Doch ich konnte es nicht. Stattdessen ließ ich meinen enttäuschten Blick über all die Männer gleiten, die so grausam dagestanden und ihn gedemütigt hatten. Aber es war ihnen egal. Das konnte ich in ihren ausdruckslosen Gesichtern sehen.

Ich war mir nicht sicher, ob Rider je wieder ihre Gunst erlangen würde. Zu viel Blut war zwischen ihnen vergossen worden. Allerdings war es mir nicht mehr wichtig. Ich hatte immer mehr das Gefühl, dass diese Männer seiner Gunst nicht würdig waren. Ich verstand nicht, wie sie dastehen und alles ignorieren konnten, was er getan hatte, um für seine Sünden zu büßen.

Er war mehr wert, als diese Männer ihm zugestanden. Und doch akzeptierte er das alles. Ich liebte diesen Mann. Ich liebte ihn mit einer atemlosen und seelenzerschmetternden Stärke.

Ruth zog leicht an meinem Arm, damit ich weiterging. Ich wollte schon gehen, als ich meine Schwestern hinten an der Bar stehen sah. In ihren schönen Gesichtern standen widerstreitende Gefühle und Unsicherheit. Aber ich gab ihnen keine Schuld. Ich wusste jetzt, welche Opfer man für den Mann, den man liebte, brachte.

Ich nickte ihnen zu. Maddie rührte mich fast zu Tränen, als sie die Hand hob und mir verstohlen zuwinkte.

Ich liebte sie auch. Ich liebte sie so sehr, dass ich sie gehen lassen würde. Sie waren keine Kinder mehr, die meinen Schutz brauchten. Und auch ich musste nach vorn blicken.

»Bella?«, fragte Ruth. Ich nickte und folgte ihr nach draußen, wo zwei Fahrzeuge auf uns warteten.

Ruth stieg mit Solomon und Samson in das eine. Stephen saß vorn im anderen. Ich war überrascht gewesen, zu entdecken, dass er Autofahren konnte. Er hatte es gelernt, bevor er sich der Gemeinde anschloss. Ich stieg hinter meinem Vater ein.

Rider hatte den Kopf an die Kopfstütze gelehnt, doch sein trauriger Blick ruhte auf mir. Plötzliche Rührung trieb mir die Tränen in die Augen, und ich griff nach seiner Hand. »Ich bin so stolz auf dich, Baby. So unglaublich stolz.«

Rider schloss die Augen. Er sagte nichts. Und ich drängte ihn nicht. Ich würde die immer mehr schwindende Stärke, an die er sich klammerte, nicht zerbrechen. Ich rutschte neben ihn und legte den Kopf an seine Schulter.

Ich hielt meinen Mann fest, während wir an mehreren leeren Feldern vorbeifuhren. Vor einer kleinen Holzhütte hielt Stephen den Wagen an. Sie hatte nichts von der Pracht und dem Luxus von Maes oder Lilahs Hütten. Sie sah nicht einmal so gepflegt aus wie die von Maddie und Flame.

Aber meine Aufregung wuchs trotzdem … dies sollte unser Zuhause sein.

»Es tut mir leid«, sagte Rider plötzlich.

»Was denn?«, fragte ich stirnrunzelnd.

»Das da«, antwortete er und zeigte auf die Hütte. »Sie ist ein Loch. Heruntergekommen … du verdienst mehr als das.«

Ich begegnete seinem Blick und schüttelte den Kopf. »Nein. Sie gehört uns. Sie wird unser Zuhause. Aussehen spielt keine Rolle, weißt du noch?« Rider sah mir zweifelnd ins Gesicht, und dann trat ein Grinsen in sein Gesicht.

Wir gingen hinein. Die Hütte war klein und musste geputzt werden. Doch es gab ein großes Bett und eine Couch. Für mich war sie ein Palast.

Ruth machte das Bett, und Rider ging langsam dorthin. Er setzte sich auf den Bettrand, und ich bückte mich und schnürte seine Stiefel auf. Rider verfolgte jede Bewegung von mir.

Ich liebe dich, las ich in seinem Gesicht.

Ich liebe dich auch, antwortete ich mit meinem.

Hinter uns räusperte sich jemand. »Wir lassen euch jetzt allein, damit ihr euch einrichten könnt«, sagte Stephen und blickte sich enttäuscht in dem schäbigen Zimmer um.

»Danke«, sagte ich.

Solomon, Samson und Stephen verließen die Hütte. Ruth kam verlegen ans Bett, als Rider sich niederlegte. Er war müde. Ich sah, dass ihm gleich die Augen zufielen.

»Soll ich bleiben und dir beim Putzen helfen?«, fragte Ruth.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann das schon. Die Hütte ist nicht so groß.«

Ruth nickte und ging dann nervös zu ihrem Sohn. Ich trat aus dem Weg und beschäftigte mich mit den Reinigungsmitteln, die Ruth mitgebracht hatte. Aber ich konnte nicht anders als die neue Beziehung, die sich vorsichtig zwischen Mutter und Sohn entwickelte, mit einem Kloß im Hals zu betrachten. Rider beobachtete seine Mutter, als sie um das Bett herum ging und neben ihm stehen blieb.

Sie fuhr über den Bettrand. »Geht es dir hier gut?«

»Ja«, sagte Rider mit seiner tiefen, brüchigen Stimme.

Ruth nickte. »Vielleicht könnte ich regelmäßig hier rauskommen und dich besuchen? Falls … falls du das möchtest. Wenn nicht, ist es okay, aber …«

»Ja«, fiel Rider ihr ins Wort. »Ich …« – er räusperte sich –, »das würde mir gefallen … dich zu sehen.«

Das strahlende Lächeln, das in Ruths Miene erhellte, hätte auch den finstersten Himmel erleuchten können. »Okay«, hauchte sie, »dann freue ich mich schon darauf.«

Verlegen blieb sie stehen, bückte sich dann vorsichtig und drückte Rider einen Kuss auf die Stirn. Er schloss die Augen, als er die Berührung spürte.

Mir ging das Herz auf.

Ruth verabschiedete sich, verließ die Hütte und lächelte mir im Vorbeigehen zu. Ich sah kurz zum Bett. Riders Blick ruhte wieder auf mir. Ich ging zu ihm und nahm seine Hand. Dann setzte ich mich auf den Bettrand, beugte mich vor, um Riders weiche Lippen zu küssen, und strich ihm durchs Haar. »Schlaf, Baby«, flüsterte ich. »Schlaf.«

Riders Augen fielen zu, und nur Minuten später wurden seine Atemzüge gleichmäßig.

Während er schlief, säuberte ich die Hütte. Erst als die Abenddämmerung kam, war ich fertig. Ich brauchte ein wenig frische Luft, also ging ich hinaus in die feuchte Nacht.

Ich setzte mich auf einen langen Balken, der mitten im wild wachsenden Gras lag … und ich atmete. Zug um Zug atmete ich und gestattete mir zum ersten Mal, unsere neue Realität zu begreifen.

Wir waren frei. Wir waren raus aus der Gemeinde, weg von den Hangmen … und wir waren frei.

Ich spürte Tränen auf meinen Wangen. Und ich gestattete mir zu weinen. Ich weinte um all die verlorenen Leben, die Bürde und den Schmerz. Ich weinte alles von mir, was ich jahrelang in mir eingeschlossen hatte, und schickte es ins Zwielicht des Himmels. Viele Minuten vergingen, bis alle Tränen vergossen waren. Und an ihre Stelle trat eine willkommene Taubheit.

Der Funke eines Neubeginns.

Ich starrte die alte Holzhütte an. Hoffnung keimte in mir auf. Sie gehörte uns. Wir hatten ein eigenes Zuhause. Ich holte tief Luft und dachte über unsere Zukunft nach. Ich hatte keine Ahnung, was sie für uns bereithalten würde. Zum ersten Mal, seit wir hierhergekommen waren, fragte ich mich, wie ich in dieser Außenwelt wohl leben würde.

Bruder Stephen hatte mir in Puerto Rico so viel erklärt, dass ich mich nun in einer seltsamen Gefühlsmischung aus Wiedererkennen und Unsicherheit wiederfand, wenn ich mich mit neuen Gebäuden, Menschen und Dingen konfrontiert sah. Geräte, die unser Volk gemieden hatte. Sogar die Kleidung, die manche Menschen trugen, verwirrte mich.

Aber ich ließ mich davon nicht schrecken. Wenn ich bisher nur überlebt hatte, war ich entschlossen, die Lebensweise dieser neuen Welt mit offenen Augen anzunehmen. Ich würde mich nicht länger zurückhalten lassen.

Ich legte den Kopf in den Nacken und lächelte, als ich die Sterne am Himmel hervorkommen sah. Plötzlich hörte ich einen Wagen näher kommen. Scheinwerfer bewegten sich langsam auf die Hütte zu.

Ich erstarrte und fragte mich, wer das wohl sein konnte. Der Wagen blieb stehen, und meine Schwestern stiegen aus.

Alle drei.

Lil’ Ash saß am Steuer. Scheu wie er war, winkte er mir kurz. Ich winkte zurück. Zu müde, um von dem Holzbalken aufzustehen, lächelte ich, als meine Schwestern zu mir kamen. Sie hatten Schüsseln in den Händen. Lilah ergriff als Erste das Wort. »Wir haben euch etwas zu essen gebracht. Für euer neues Zuhause.«

»Danke«, antwortete ich und stand auf. Ich nahm die Schüssel von Lilah entgegen und stellte sie neben die Tür. »Rider schläft gerade«, erklärte ich.

»Wollen wir uns setzen?«, fragte Mae und zeigte auf den Holzbalken.

Ich nickte und setzte mich wieder. Lilah setzte sich neben mich, und Mae und Maddie ließen sich uns gegenüber auf dem Boden nieder. Ich sah zu, wie Maddie sich mit wehmütigem Blick umsah.

»Sei nicht traurig«, sagte ich zu meiner jüngsten Schwester. Maddie blickte durch feuchte Wimpern zu mir auf.

»Es gefällt mir nicht, dass du so weit weg von uns bist.« Sie wischte sich über die Wange. »Und es gefällt mir nicht, dass du ganz allein hier draußen leben musst und nicht zu den Versammlungen kommen kannst. Zu unseren Feiern. Zu uns nach Hause.«

Der Schmerz in ihrer Stimme ließ mich ganz wehmütig werden. Ich nahm ihre Hand. »Maddie … es muss eben so sein. Und es ist in Ordnung für mich. Er ist am Leben. Das ist alles, was für mich zählt. Nicht dieses Haus oder die Entfernung. Sondern dass ich nicht noch einen furchtbaren Verlust erlitten habe, der mir das Herz gebrochen hätte. Und das liegt an euch.« Ich lehnte mich wieder zurück und ließ Maddies Hand los. »Ich konnte euch allen noch gar nicht richtig dafür danken. Aber … aber ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was es für mich bedeutet hat, als ihr euch im Schuppen auf meine Seite gestellt habt.« Ich erstickte ein Schluchzen. »Als ich ihn sah, gefesselt, so gebrochen, hatte ich Angst, ich würde nie wieder atmen können.« Ich blinzelte durch die Tränen. »Aber dann standet ihr neben mir. Alle gemeinsam.«

Mae rührte sich und legte ihre Hand auf meine. »Immer«, flüsterte sie. »Das werden wir immer tun.«

Lilah legte ihre Hand auf meine Schulter und nickte. Mae rutschte vorwärts und legte ihre Hand auf die von Maddie. Ich fühlte die Berührung meiner Schwestern und musste die Augen schließen, um diesen Moment auszukosten. Diesen Moment, den ich zuvor für so unmöglich gehalten hatte und der nun so real und wahrhaft war.

Und so willkommen.

Ich öffnete die Augen. »So waren wir immer, nicht wahr? Wir vier gegen den Rest der Welt?« Ich stieß ein kurzes Lachen aus. »Trotz allem hatten wir eine Liebe füreinander, die durch nichts zu erschüttern war. Ein Band, das kein Mann zerstören konnte.«

»Nicht einmal jetzt«, sagte Mae und lächelte. »Nicht einmal in diesem Schuppen. Wir hätten dich nie alleingelassen. Du bist unsere Schwester. Wir lassen dich nie wieder gehen.«

»Und sie werden es nie verstehen«, sagte Lilah leise. Ich drehte mich zu meiner Schwester. »Die Männer hier – unsere Ehemänner eingeschlossen –, sie werden nie wirklich begreifen, warum du ihn gerettet hast. Aber wir verstehen es.« Ich erstarrte. Lilah blickte zurück zur geschlossenen Tür der Hütte. »Ich habe viel darüber nachgedacht, was du im Schuppen gesagt hast. Und es ist wahr. Wir hatten immer einander. Er hatte niemanden.« Ihre Augen schimmerten. »Stell dir vor, du bist dein ganzes Leben lang allein und hast bloß einen Bruder wie Judah an deiner Seite. Rider hätte nie auch nur geahnt, wie verdorben Judah war. Er hatte ja niemanden, mit dem er ihn vergleichen konnte.«

Mae seufzte traurig. »Bella, ich glaube nicht, dass sie ihn je wieder zurück in ihre Mitte lassen.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Und das ist in Ordnung. Denn er hat mich. Er hat Ruth, Stephen, Solomon und Samson.«

»Und uns«, warf Maddie errötend ein. »Uns auch. Wir alle verstehen, wie dieses Leben war. Und wir geben ihm nicht die Schuld daran.«

Ich nickte, zu überwältigt von Dankbarkeit, um etwas zu sagen. Als ich mich wieder gefasst hatte, flüsterte ich: »Ich liebe euch. Ich liebe euch alle so sehr.«

»Wir lieben dich auch«, antwortete Mae.

Ich spürte, dass mich die Müdigkeit der letzten fünf Wochen langsam überwältigte. Lilah streichelte mir übers Gesicht. »Du bist erschöpft.«

»Ja«, seufzte ich. »Ich bin so, so müde.«

Wir standen auf. Maddie legte unvermittelt die Arme um mich und drückte ihre Wange an meine Brust. »Du musst nicht mehr kämpfen«, flüsterte sie, und ihre leise Stimme beruhigte mich. »Wir sind alle in Sicherheit. Auch Rider. Du musst nicht mehr kämpfen.« Sie hob den Kopf, und ihre grünen Augen fixierten mich. »Jetzt kannst du leben, Bella. Wir alle sind glücklich. Du auch. Es gibt keinen Krieg mehr für dich zu kämpfen.«

Mein Gesicht verzerrte sich, als ich unter der Wirkung ihrer Worte zu weinen anfing. Lilah und Mae umarmten mich auch – diesmal waren sie es, die mich trösteten, mich retteten … mich schützten.

»Das ist alles, was ich je wollte«, brachte ich heraus. »Dieser Moment, genau jetzt … wir alle frei. Es ist alles, was ich so lange für uns erträumt habe.«

»Und nun hast du das. Du hast es für uns erreicht«, sagte Mae. Viele Minuten lang hielten meine Schwestern mich in ihrer festen Umarmung. Als die Tränen versiegt waren und die Nacht still wurde, hob ich den Kopf. Eine nach der anderen küsste mich auf die Wange und wandte sich zum Gehen. Doch bevor Lilah ging, sagte sie: »Sei glücklich, Schwester. Das ist das Geschenk, das wir alle bekommen haben.«

»Das werde ich …«, sagte ich. »Das bin ich.«

Lilah lächelte. Und es war wundervoll.

Als sie gingen, fragte ich: »Kommt ihr mich ab und zu besuchen?«

Mae warf einen Blick über die Schulter. »Wir werden jeden Tag hier sein, Bella. Jeden einzelnen Tag.«

Ich drückte mir dankbar beide Hände aufs Herz und war überrascht, dass ich es unter meinen Handflächen nicht schwellen fühlte. Dann ging ich zurück in die Hütte und nahm das Essen mit, das sie mitgebracht hatten. Die kleine Lampe in der Ecke war das einzige Licht im Haus. Ich ließ den Blick über die drei kleinen Zimmer schweifen … und ich lächelte. Es war sauber. Es gehörte uns … Es war ein Zuhause.

Ich stellte die Schüsseln auf den Tresen und ging hinüber zum Bett. Rider trug nur noch seine Unterwäsche. Seine Haut schimmerte in der Hitze. Er musste sich die Sachen ausgezogen haben, als ihm zu heiß wurde.

Ich zog mein Kleid aus und kroch aufs Bett. Es war nach wie vor merkwürdig, eine weiche Matratze unter meinem Rücken zu spüren. Aber es war ein Luxus, an den ich mich langsam gewöhnte. Vor allem, wenn Rider neben mir schlief.

Als ich mich zu meinem Mann umdrehte, gingen seine verschlafenen Augen blinzelnd auf. Seine Oberlippe verzog sich zu einem Lächeln. »Ich liebe dich, Baby«, flüsterte er, legte eine Hand an meine Taille und zog mich an sich.

Ich rutschte zu ihm, mit einer neuen Leichtigkeit im Herzen und Freiheit in meiner Seele. »Ich liebe dich auch, Rider … ich liebe dich auch.«

Arm in Arm schliefen wir ein.

Endlich in Frieden, ohne weitere Kriege, die gewonnen werden mussten.

Glücklich und erfüllt von Liebe.

Solch befreiender Liebe.