Heute …
Ich starrte durch geschwollene Lider geradeaus, als der nächste Wassertropfen auf den Boden fiel. Die Luft war stickig; die texanische Luftfeuchtigkeit erreichte langsam ihren Höhepunkt. In meiner Zelle wurde es so dunkel, dass es fast nachtschwarz war, als wieder ein Sturm aufzog. Donner grollte in der Ferne und kam immer näher auf Neu Zion zu.
Mehrere Minuten vergingen, bis der Ausläufer des Gewittersturms immer wieder Lichtblitze durch die dunkle Zelle jagte. Der Regen wurde von leichtem Nieseln zu einem sintflutartigen Wolkenbruch, der auf das Dach meiner Zelle trommelte. Die sanften Tropfen, die durch die schmalen Risse in der Steindecke gefallen waren, wurden zu einem heftigen Strom, der auf den Boden prasselte.
Ich bewegte das Bein und zuckte zusammen, als meine Muskeln protestierten. Dann versuchte ich dasselbe mit dem Arm und schnaubte frustriert, als mein ganzer Körper vor Schmerz brannte.
Blinzelnd schaute ich die Wand hinter mir hoch. Meine Schläfen pochten, und meine Sicht verschwamm zu undeutlichen Linien. Selbst wenn ich wach war, war ich von Zeit zu Zeit schon gar nicht mehr bei vollem Bewusstsein.
Ich zwang mich, mich zu konzentrieren, und zählte die Striche, die ich mit der scharfen Kante eines Steins in die Wand hatte kratzen können. Fünfunddreißig. Fünfunddreißig … fünfunddreißig … Ich lag seit fünfunddreißig Tagen in dieser Zelle. Hatte täglich Exorzismen und Prügel durch die neuen Wächterjünger über mich ergehen lassen müssen …
»Bereue deine Sünden! Bereue deine Sünden und verneige dich vor dem Propheten!«, kreischte Bruder James, während ich an Ketten gefesselt von der Decke hing.
»Nein«, keuchte ich heiser. Glühende Agonie schnitt über meinen Rücken, als der Ledergürtel noch eine Strieme über meine schon aufgeplatzte Haut zog.
»Bereue deine Sünden! Bereue deine Sünden und bekenne deine Loyalität zu deinem Propheten!«
Mir fielen die Augen zu, während frisches Blut in Strömen über meinen Rücken lief, über meine in der Luft baumelnden Füße und auf den Boden tropfte.
Ich biss die Zähne zusammen, schloss die Augen und betete um Absolution. Betete darum, diesem Schmerz entrissen zu werden … diesem verdammten ständigen Schmerz …
»Bereust du deine Taten?«, hakte Bruder Michael nach. Ein, zwei, drei Herzschläge lang ging mir die Frage durch den Kopf.
»Du musst nur deine Taten bereuen, und all dies wird enden. Bereue deine Sünden, und der Schmerz hört auf. Bereue deine Sünden und führe die Anhänger zusammen mit deinem Bruder zum Himmel. Bereue deine Sünden, und du wirst das Innere dieser Zelle nie wieder sehen.«
Mir stockte der Atem, als die Versuchung, Judahs Forderungen nachzugeben, sich über meine Lippen drängen wollte. Die Worte »Ich bereue«, sie lagen mir auf der Zunge. Mein gefolterter Körper wollte sie aussprechen, bloß um eine Atempause zu bekommen … Doch dann erfüllte Kraft meine Seele, als ich an die Göttliche Teilhabe dachte, deren Zeuge ich geworden war … der Schmerz … die Angst … Pädophilie in meinem Namen …
Ich stieß den angehaltenen Atem aus und spürte, wie mir leichter ums Herz wurde. »Nein … ich bereue meine Taten nicht … das werde ich nie …«
Meine Augen blieben zu. Ich kniff sie fest zu, als eine harte Faust sich in meine Rippen rammte und mir einen erstickten Schrei aus der wunden Kehle trieb. Aber es war mir egal. Ich würde mich nicht vor meinem Bruder verneigen.
Das konnte ich nicht … Ich konnte es einfach … nicht …
Wieder verschwamm alles vor meinen Augen, und ich schüttelte meinen pochenden Kopf und versuchte bei Bewusstsein zu bleiben. Ich hatte es satt, orientierungslos und allein im Dunkel aufzuwachen. Ich war fertig mit schmerzenden Knochen, aufgeplatzter Haut und Mich-übergeben-müssen. Fertig damit, die hysterischen Predigten meines Bruders vom Jüngsten Gericht aus den Lautsprechern überall in der Gemeinde mit anzuhören.
Meine Fingernägel kratzten über den Steinboden, als ich aufzustehen versuchte. Mit aller Willenskraft wollte ich meine Beine zum Funktionieren bringen, aber sie wollten nicht gehorchen. Ich versuchte es wieder und schaffte es, auf die Knie zu kriechen. Doch meine geschwächten Muskeln versagten, unfähig mein Gewicht zu halten, und ich prallte rücklings auf den harten Boden. Der Aufprall trieb mir die Luft aus den Lungen, und ich atmete schwer durch die Nase, während ich immer frustrierter wurde. Eine verräterische Träne lief aus meinem rechten Augenwinkel, als die Trostlosigkeit zuschlug. Die finstere Kreatur, die auf ewig in meinen Eingeweiden hauste, schlug ihre Krallen hinein.
Draußen erwachte ein Lautsprecher kreischend zum Leben. »Volk von Neu Zion!« Ich schloss meine müden Augen, als Judahs Stimme in meine stille Zelle drang. »Der schwere Sturm und die Finsternis über uns signalisieren das Ende. Zweifelt nicht daran: Das Ende der Welt naht! Die Fluten, die sich unserem Heim nähern, der tägliche Kampf, den wir alle erleiden, indem wir Gottes Weg folgen … sie alle führen zu unserer Erlösung. Arbeitet härter an den euch zugewiesenen Aufgaben. Betet mit noch mehr Hingabe. Wir werden obsiegen!«
Mein vernebelter Verstand blendete den Rest von Judahs Worten aus. Aber es spielte keine Rolle. Es waren jeden Tag dieselben. Mein Bruder peitschte unsere Anhänger in einen Rausch der Angst. Jede Minute, jeden ihrer Tage, erfüllte er mit Angst.
Das konnte Judah am besten.
Punkte flackerten vor meinen Augen, und meine Lippen waren rissig vor Trockenheit. Ich konnte meine Arme nicht mehr spüren und wusste, dass mich bald die Bewusstlosigkeit überwältigen würde. Ich konnte fühlen, wie sie immer näher kam. Aber ich wehrte mich dagegen. Jeden Tag wehrte ich mich gegen die Auswirkungen der Bestrafungen.
Der Kampfgeist in mir war alles, was ich noch hatte.
»Die Männer des Teufels nahen! Unsere Tage sind gezählt! Wir müssen uns retten!« Judahs letzter Satz schaffte es, durch das hohe Klingeln in meinen Ohren durchzudringen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und zitterten vor Wut.
Vor Jahren hatte Prophet David gepredigt, dass die Beauftragten des Satans eines Tages unsere Gemeinde stürmen würden, um Gottes auserwähltes Volk auszulöschen. Nur durch den Propheten könne der Himmel erreichbar werden. Nur durch Gehorsam vor jedem seiner Worte könne eine Seele gerettet werden. Als die Hangmen eindrangen und meinen Onkel töteten, glaubten viele, dies sei das Ende. Doch das war es nicht. Und jetzt predigte Judah, dass sie wiederkommen würden.
Ein lauter Donner explodierte genau über mir. Ich zuckte zusammen, als er mich aus meinen finsteren Gedanken riss. Finstere Gedanken waren alles, was ich in diesen Tagen hatte. Zweifel, das beste Werkzeug des Teufels, erstickten mein Herz und meine Seele wie ein Krebsgeschwür. Der Geschmack von Salz explodierte auf meiner Zunge. Das lange braune Haar klebte mir an den Wangen, und die erstickende Hitze badete meine Haut in Schweiß.
Ich leckte mir über die rissigen Lippen und wünschte, ich hätte Wasser. Schätzungsweise würde ich bald Nahrung und Wasser erhalten. Zweimal am Tag bekam ich etwas zu essen, man konnte die Uhr danach stellen. Frauen, die ich nicht kannte, kamen in meine Zelle und stellten ein Tablett mit Speisen zu meinen Füßen ab. Dann ließen sie mir eine gewisse Spanne Zeit, um zu essen, bevor sie wortlos wiederkehrten, um das Tablett wieder mitzunehmen. An guten Tagen säuberten sie mich, mit leerem, gleichgültigem Blick. Danach war ich wieder allein, bis die Jünger zurückkehrten, um mich zu züchtigen. Und dann ging alles wieder von vorn los.
Judah hatte ich noch nicht zu Gesicht bekommen.
Er schien ganz darauf fixiert, in der Gemeinde ein Chaos heraufzubeschwören, und spann ein tückisches Netz, um voranzutreiben, was ich mich weiterzuführen geweigert hatte. Er wollte einen Heiligen Krieg. Er wollte den Tod der Hangmen.
Ich war im Zwiespalt mit mir selbst. Einerseits war mir völlig egal, ob alle Hangmen für immer in der Hölle schmorten. Andererseits fiel mir das Atmen schwer, wenn ich an die drei Verfluchten Schwestern dachte, die drei Schwestern, die Judah zurück in die Unterdrückung zwingen oder schlicht töten lassen würde.
Übelkeit stieg in mir hoch, als ich mir vorstellte, was für ein Leben sie unter dem Befehl meines Zwillingsbruders hätten. Und noch mehr, als ich an die Narbe im Gesicht der Verfluchten Delilah dachte, an ihr geschorenes Haar. Als ich daran dachte, was Judah ihr auf dem Hügel der Verdammnis angetan hatte. Ich, der Prophet, hatte nicht gewusst, was Judah geplant hatte. Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wozu er wirklich fähig war. Hätte mir jemand nur erzählt, was mit Delilah geschehen war, hätte ich es nie geglaubt. Aber ich hatte ihr Gesicht gesehen. Ich hatte die Angst in ihren Augen gesehen, als sie in dieser alten Fabrik gefangen gewesen war. Es war geschehen. Daran gab es keinen Zweifel.
Und ich hatte nichts getan, um es zu verhindern.
Meine Gedanken wanderten zu Mae und ihren letzten Worten an mich. Als ich sie und ihre Schwestern freigelassen hatte. »Ich habe immer an dich geglaubt, Rider … Ich habe immer geglaubt, dass du tief im Inneren ein guter Mensch bist.«
Maes Worte würde ich stets in Erinnerung behalten. Und immer wenn ich an sie dachte, traf mich eine Woge aus Schmerz. Die Art, wie die Verfluchten Schwestern mich ansahen, würde ich nie vergessen. Sie fürchteten und verabscheuten mich. Und das Schlimmste von allem: Mae war enttäuscht von mir. Das Verhalten, das ich an den Tag gelegt hatte, hatte sie erschrocken, denn sie hätte nicht gedacht, dass ich so schlecht sein könnte.
Sie irrte sich.
Ich war mein Leben lang zwei Männer gewesen. Und langsam wurde mir klar, dass keiner von beiden echt war. Beide waren vollendete Heuchler. Rider spielte den Hangman, doch er blieb immer außen vor und sah zu. Cain gab vor, ein Prophet zu sein, und täuschte nach außen hin Stärke vor, machte sich in Wahrheit allerdings vor Angst in die Hose. Aber wenn beide Männer nicht echt waren – wer war dann ich? Was war mein wahres Ich?
Ich hatte nicht die geringste Ahnung.
Schritte vor meiner Zelle. Licht drang durch den Spalt unter der schweren Tür, und der Geruch von Essen stieg mir in die Nase. Mein Magen knurrte vor Hunger, und meine Kehle war ganz trocken vor Durst.
Das Schloss drehte sich, und eine Frau kam in die Dunkelheit. Sie hielt den Kopf gesenkt und das Gesicht abgewandt. Sie trug ein langes graues Kleid, das ihren Leib vom Hals bis zu den Füßen bedeckte, und eine weiße Haube auf dem Kopf. Als sie das Tablett auf den Boden stellte, konnte ich ihr Gesicht erkennen. Meine Pupillen weiteten sich vor Überraschung, als ich eine verirrte Haarsträhne aus ihrer Haube fallen sah. Rot. Leuchtendes Rot. Ihre Wangen und ihre Nase waren von Sommersprossen bedeckt, und ihre Augen waren eisblau.
Ich kenne sie …
Phebe.
Phebe stellte das Tablett auf den Boden und mied dabei jeglichen Blickkontakt. Seit Tagen hatten dieselben zwei Frauen mir Essen gebracht und meine Wunden gesäubert. Noch nie zuvor war Phebe zu mir gekommen.
Ihre Miene war ausdruckslos. Ohne mich anzusprechen oder mir auch nur ins ihr zugewandte Gesicht zu blicken, stand sie auf und ging hinaus.
Mein Herz schlug schneller. Jemand, mit dem ich zuvor Kontakt gehabt hatte, kam nun in meine Zelle … doch dann wurde mein Herzschlag wieder langsamer und mein Mut sank. Sie würde nie glauben, dass ich der wahre Cain war.
Sie war darauf konditioniert, alles zu glauben, was ihr Prophet ihr sagte.
Es war zwecklos.
Ich war allein.
Ich zwang mich in eine sitzende Haltung und biss die Zähne zusammen, als meine Gliedmaßen vor Anstrengung zitterten. Meine geschwollenen Augen blickten prüfend auf das Tablett: Gemüsebrühe, ein Kanten Brot und ein Glas Wasser. Ich griff zuerst nach dem Wasser und trank die lauwarme Flüssigkeit in Rekordzeit. Atemlos vor Erleichterung schnappte ich nach Luft. Danach tauchte ich den Löffel in die Brühe, ignorierte dabei das Zittern meiner Hand und führte ihn an meine Lippen. Meine Wunden brannten, als die warme salzige Flüssigkeit in die rissige Haut sickerte. Aber ich schloss die Augen, als die Nahrung meinen ausgehungerten Magen erreichte.
Phebe kam mit einer Schale und einem Tuch zurück. Sie kniete neben mir nieder und begann das Blut von meiner Haut zu waschen. Sie ging methodisch dabei vor und gab kein Wort von sich. Ich musterte sie, während sie arbeitete. Sie hielt den Kopf tief gesenkt und mied meine Aufmerksamkeit. Sie sah anders aus als beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte. Ihr Kleid war noch züchtiger als früher. Ihre Haut war viel zu blass. Ich spähte auf ihre Wange, auf etwas, das aussah wie ein verblassender Bluterguss. Mit meiner verschwommenen Sicht war es schwierig, Details zu erkennen.
Phebes Hand glitt an mein Haar. Etwas davon klebte immer noch an meinen Wangen, doch der Rest der langen wirren Strähnen klebte mir auf der Brust und verbarg mein Gesicht. Auch mein brauner Bart war länger geworden und verfilzt. Ich hatte mein Spiegelbild fünf Wochen lang gemieden, wusste allerdings, es wäre kaum wiederzuerkennen.
Sie machte mit meinen Armen weiter. Als sie Schmutz und Blut von meiner Haut wusch, sah ich, wie sie sich versteifte. Ihre Reaktion war kaum merklich, aber ich sah sie trotzdem. Meine Tattoos – die Überreste aus meinen Tagen bei den Hangmen – kamen langsam zum Vorschein. Mein Herz pochte schneller, während ich darauf wartete, dass sie etwas sagte. Als Prophet trug ich eine Tunika; man erwartete von mir, meinen Leib zu bedecken. Meine Anhänger wussten nicht, dass ich tätowiert war. Aber Phebe kannte jede noch so kleine Stelle von Judahs Körper und wusste, dass er keine Tattoos hatte …
Sie runzelte die Stirn, fuhr jedoch mit ihrer Arbeit fort. Als ich gesäubert war, stand Phebe auf, nahm Schale und Tuch und ging zügig hinaus.
Ich sank niedergeschlagen zusammen.
Über mir grollte der Donner, und eine weitere Welle des machtvollen Sturms kam heran. Ich krümmte mich auf dem Boden zusammen, schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Mir war klar, dass mir nur wenige Stunden blieben, bis die Jünger zurückkehren würden, um mich wieder zu züchtigen.
Ich presste die Wange auf den harten Steinboden und ließ mich von der Dunkelheit holen.
Vielleicht, wenn ich Glück hatte, würde ich nicht mehr erwachen.