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Harmony

Ich umklammerte den Sitzrand, als das Flugzeug auf und ab hüpfte. Bruder Stephen hatte mir erklärt, dass das etwas sei, das sich Turbulenzen nannte. Das merkwürdige Gefühl des Fliegens drehte mir den Magen um, und ich kniff fest die Augen zu.

»Geht es dir gut, Harmony?« Schwester Ruths leise Stimme drang an meine Ohren, und ihre warme Hand legte sich auf meine.

»Es … es fühlt sich seltsam an«, antwortete ich und öffnete die Augen.

Schwester Ruth musterte mich ihren dunklen Augen besorgt. »Da stimme ich dir zu. Egal wie oft ich fliege, es wird nie leichter.« Sie lächelte mir beruhigend zu. Ich drehte mich zu Bruder Stephen, der auf der anderen Seite des Gangs saß. Er blickte nach vorn, ohne dabei etwas Bestimmtes anzusehen. Dann drehte er sich zu mir und schenkte mir ein angestrengtes Lächeln.

Er lehnte sich zu mir und sagte: »Das liegt daran, dass dies ein kleines Flugzeug ist. In meiner Jugend bin ich mit größeren geflogen, als ich noch in der Außenwelt lebte. Ich erinnere mich, dass diese Flüge weniger nervenaufreibend waren.«

Ein Lächeln spielte um meine Lippen, doch das schwand, als das Flugzeug erneut absackte. Meine Fingerknöchel waren weiß, als ich die Armlehnen noch fester umklammerte. Ich schloss wieder die Augen und versuchte die Panik wegzuatmen, die durch die Turbulenzen immer stärker wurde.

Ich beschwor Gedanken an etwas Schönes herauf. Ich dachte an das Zuhause, das ich hinter mir gelassen hatte. Dort hatte ich mich wohlgefühlt. Ich liebte das heiße Wetter, aber noch mehr liebte ich das Gefühl, bei meiner Familie zu sein. Mir wurde es schwer ums Herz, als ich daran dachte, wohin wir nun gingen – Neu Zion.

Die Gemeinde in Puerto Rico, in der ich gelebt hatte, war außerordentlich klein im Vergleich zu den vielen anderen überall auf der Welt. Die meisten Menschen führten ein privates Alltagsleben. Wie meine Familie. Wir blieben unter uns. Wir kümmerten uns umeinander – kein Schmerz, keine Erwartungen.

Wir waren glücklich.

Dann starb Prophet David.

Sein Erbe, Prophet Cain, nahm seinen Platz ein, und innerhalb kürzester Zeit begann er, die Gemeinden zu vereinen. Eine nach der anderen wurde aufgelöst, und die Anhänger machten sich auf den Weg zurück nach Neu Zion, um eins mit unserem Führer zu sein.

Wir waren die letzte Gemeinde, die sich der Heimführung anschließen musste.

Ich sah mich in dem kleinen Flugzeug um. An Bord waren weniger als dreißig von uns, und die meisten kannte ich nicht. Die Blicke der fremden Männer und Frauen begegneten meinem. Ihre Gesichter spiegelten unterschiedliche Gefühle wider. Manche sahen glücklich aus, Puerto Rico zu verlassen. Andere wirkten verängstigt.

Von dem Moment an, als wir heute Morgen zusammengerufen worden waren, hatten mich viele argwöhnisch beäugt. Und manche sahen mich auch jetzt so an.

Ich wandte schnell den Kopf ab, und Panik und Angst gingen mir unter die Haut. Ich hatte aus gutem Grund isoliert von diesen Menschen gelebt. Ich hatte bloß mit den Menschen zu tun, denen ich wichtig war … denen, die mich nicht verletzen wollten.

Ich lehnte mich zurück. Schwester Ruth hielt meine Hand fester. Als ich die Frau ansah, die eine meiner treuesten Hüterinnen geworden war, traf mich Grauen wie ein Stich ins Herz. In ihren Augen und ihrer Miene sah ich die Beklommenheit – es war dieselbe quälende Angst, die ich in meinen eigenen Zügen wusste.

Auch Bruder Stephen, Schwester Ruths engster Freund, war in den letzten Wochen irgendwie von der Rolle gewesen. Neu Zion. Unsere Angst vor Neu Zion war greifbar. Während wir unserem neuen Zuhause immer näher kamen, fingen meine Hände zu zittern an.

Sei stark, ermahnte ich mich selbst. Du musst stark bleiben.

Ich konzentrierte mich darauf, tief ein- und auszuatmen. Das Flugzeug schien den Wind, der uns im Griff gehalten hatte, hinter sich gelassen zu haben, und alles war wieder ruhig. Ich zog meine Hand unter der von Schwester Ruth hervor, streckte die Finger aus und hob sie dann an meinen Schleier.

Kaum war der dünne hellblaue Stoff vor meinem Mund weg, atmete ich tief durch. Durch den Schleier ließ sich ganz gut atmen; Schwester Ruth hatte ihn so entworfen, dass er leicht war und sich einfach tragen ließ. Aber ich fühlte mich erstickt, wenn er über meinem Gesicht lag.

Schwester Ruth führte meine Hand wieder in meinen Schoß und schüttelte langsam den Kopf. »Harmony, du musst dich daran gewöhnen.« Schwester Ruth richtete den hellblauen Schleier wieder und glättete die dazu passende Haube auf meinem blonden Haar.

»Ich hasse ihn«, gestand ich so leise ich konnte und biss frustriert die Zähne zusammen.

Schwester Ruth sah mich mitfühlend an. »Ich weiß, mein Engel.« Ich lächelte über ihre Zärtlichkeit, doch das Lächeln verschwand, als sie fortfuhr: »Aber der Prophet hat befohlen, dass du ihn tragen musst.«

Ich strich über mein langes Kleid, das denselben hellen Blauton hatte wie der Schleier, und dachte an den neuen Propheten. Ich hatte gehört, dass er stark und gnadenlos war. Und so musste es wohl sein, denn er hatte mich gefunden. Ich hatte es geschafft, in Frieden zu leben, bis vor ein paar Wochen einer von Prophet Cains Wächterjüngern kam, um bei der Auflösung unserer Gemeinde zu helfen. Als jedes Mitglied in sein Quartier gerufen wurde, um sich bei ihm zu melden, wurde ich entdeckt.

Entdeckt und gezeichnet … Eine Verfluchte Tochter der Eva.

»Ich muss hinaus?«, fragte ich Bruder Stephen, als er die Tür zu meinem Zimmer öffnete. In seinen braunen Augen sah ich das Bedauern und die Traurigkeit, aber er nickte.

»Sonst kommen sie, um dich zu holen. Sie beurteilen jedes Mitglied der Gemeinde«, erklärte Bruder Stephen.

Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen und musste die Knie zusammenpressen, um das Zittern in meinen Beinen zu unterdrücken.

»Komm«, sagte Bruder Stephen sanft und streckte die Hand aus. Ich legte meine zitternde Hand in seine und hielt den Kopf gesenkt, um nicht das Mitgefühl in seinem Blick sehen zu müssen.

Bruder Stephen geleitete mich hinaus. Ich blinzelte, als mir das helle Sonnenlicht in die Augen schien. Die Gemeinde war totenstill, und meine Schritte klangen wie Donnerschläge auf dem Boden.

»Harmony, das ist Bruder Ezrah«, sagte Bruder Stephen.

Ich holte zittrig Luft. Meine Finger bebten immer noch, meine Beine zitterten, ich atmete stoßweise … aber ich hielt mich auf den Beinen. Ich blieb standhaft.

Zwei schwere Stiefel kamen in mein Blickfeld. Mein Herz schlug viel schneller als normal und jagte das Blut in viel zu hohem Tempo durch meine Ohren. Dann legte sich ein Finger unter mein Kinn und zwang mich grob, den Kopf zu heben. Ich hörte ein scharfes Luftholen von dem Wächter vor mir.

Ein warmer, sanfter Windhauch streifte über mein Gesicht und wehte mir Bruder Ezrahs Duft in die Nase. Moschus. Er roch nach etwas Moschusartigem. Dezent … vertraut.

»Sieh mich an«, befahl Bruder Ezrah. Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. Ich zählte lautlos bis drei und schaute dann auf.

Als unsere Blicke sich trafen, sah ich in seinen Augen ein Feuer auflodern. Er nahm die Hand von meinem Kinn und strich über mein langes blondes Haar. Dann streichelte er sachte mein Gesicht und musterte meine dunkelbraunen Augen eindringlich mit seinen blauen. Ein Lächeln spielte um seine Lippen.

Bruder Ezrah wandte sich an Bruder Stephen. »Was ist das? Warum wurde sie nicht schon früher gemeldet? Der neue Prophet hat bereits vor Wochen an jede Gemeinde eine Nachricht gesandt mit der Bitte, alle Mädchen zu beurteilen. Sie hätte für eine Überprüfung durch uns gemeldet werden müssen.«

Bruder Stephen heuchelte, davon nichts zu wissen. Mir wurde es schwer ums Herz, als Bruder Ezrah sich an einen untergebenen Wächter wandte: »Nimm Kontakt zum Propheten auf und sage ihm, dass wir eine potenzielle Verfluchte gefunden haben.«

Ich schloss die Augen. Eine Verfluchte. Angst flatterte in meinem Bauch los. Aber ich wusste, dass Widerspruch zwecklos war. Er würde seine Meinung nicht ändern, denn seine Augen hatten ihm bestätigt, was er für die Wahrheit hielt.

Ich war eine Hure des Teufels.

»Nein. Das ist sie nicht«, widersprach Bruder Stephen, doch Bruder Ezrah ging davon. In seinen Schritten lag eine neue Art von Entschlossenheit.

Ich schaute meine Hüter an, und wir tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Ich atmete tief durch, denn ich wusste, dass die Zeit nun gekommen war. Doch nach wie vor tröpfelte die Angst durch meine Adern wie dickflüssiges Gift. Das friedliche Leben meiner Familie hier in Puerto Rico war vorbei. Wir haben von Anfang an gewusst, dass das eines Tages der Fall sein würde. Aber das machte es nicht einfacher.

Jetzt würde sich mein Leben für immer verändern …

»Ich hasse es, dass er meine Verschleierung befohlen hat«, sagte ich und fühlte diesen Hass bis in die Knochen.

»Solltest du vom Propheten zu einer wahren Verfluchten erklärt werden, plant er, dich von der Gemeinde zu isolieren. Er will dich den anderen erst zur rechten Zeit vorstellen. Sie haben keine Ahnung, dass es dich gibt, Harmony. Der Prophet hat offenbart, das würde dann das Ende aller Tage sein. Die prophezeite Heirat unseres Führers mit einer Verfluchten hat noch nicht stattgefunden. Die Menschen fürchten, dass wir ohne sie alle der Hölle geweiht sind. Prophet Cain will dich heiraten, um zu zeigen, dass wir das auserwählte Volk Gottes sind. Dass er uns nicht verlassen hat.«

Bei dem bloßen Gedanken daran, mit dem Propheten verheiratet zu werden, wurde mir übel. Ich war Prophet Cain nie begegnet und hatte keine Ahnung, was für ein Mensch er war. Unsere Gemeinde in Puerto Rico war stets die letzte, die Neuigkeiten aus Neu Zion erfuhr.

Ich stieß ein freudloses Lachen aus. Schon bald würde ich mit einem Mann verheiratet werden, den ich nicht kannte. Obwohl es meine Pflicht war, was einige als Privileg betrachten würden, empfand ich nichts als vollständige und äußerste Abscheu. Meine Erfahrungen in der Vergangenheit mit Männern wie ihm hatten immer noch Narben auf meinem Herzen hinterlassen … und auf meiner Haut.

Auf meiner Seele.

Schwester Ruth tippte auf meinen Arm, und ich blinzelte, um wieder klarzusehen. Ich drehte mich um, um zu sehen, was sie wollte, und sie zeigte aus dem kleinen Fenster neben sich.

Ich lehnte mich an ihr vorbei und spähte nach unten. Doch ich sah nichts als weiße Wolken. Schwester Ruth hob die Hand. »Warte, es klart bald auf.«

Ich wartete geduldig, und dann brach das Flugzeug durch die Wolken. Mein Herz raste, als ich den grünen Flickenteppich unten sah. Gebäude, die sich meilenweit erstreckten. Ich machte große Augen, als mir klar wurde, wie enorm das war, was ich da sah.

»Neu Zion«, erklärte Schwester Ruth emotionslos.

Ich schluckte schwer, während ich den Blick über so viel heiliges Land wie möglich schweifen ließ. Das Flugzeug setzte zur Wende an und bot mir dabei einen vollen Ausblick auf die große Gemeinde. »Es ist riesig«, flüsterte ich staunend.

»Größer als ich es mir je vorgestellt hatte«, sagte Schwester Ruth.

Meine Hände, die ich in den Schoß gelegt hatte, begannen zu zittern. Neu Zion war gigantisch. Unser Zuhause in Puerto Rico umfasste nicht mehr als zehn Acre. Neu Zion war gigantisch … und vollkommen abgeschottet, verborgen vor neugierigen Augen.

Der perfekte Ort für unser Volk, um weit weg von der Außenwelt zu leben.

»Bruder Stephen, willst du es sehen?«, fragte Schwester Ruth.

Er blickte weiter geradeaus und schüttelte den Kopf. Er hatte die Lippen verzogen und kniff die Augen zusammen.

Ich sah wieder aus dem Fenster: Die Erde kam rasch näher. Ich schätzte, dass wir in wenigen Minuten landen würden.

Ich lehnte mich zurück und hielt meine Hände im Schoß fest umklammert.

Du kannst das. Du musst.

Die Reifen des Flugzeugs setzten unvermittelt auf dem Boden auf. Die Motoren heulten auf, als es langsamer wurde.

Wir waren da.

Der Kies knirschte unter den schweren Reifen, und das Geräusch drang durch die kleine Kabine. Ich konzentrierte mich darauf, meine Angst unter Kontrolle zu halten, aber das schien unmöglich. »Ich habe Angst«, flüsterte ich kopfschüttelnd und hasste es, dass ich meine Schwäche nicht verdrängen konnte.

Ich spürte, wie Bruder Stephen sich versteifte – ich wusste, er fühlte sich schuldig, weil ich hier war, in dieser Position. Schwester Ruth legte mir die Hand auf die Schulter und richtete meinen Schleier und mein Haar.

Ich musterte sie, während sie dafür sorgte, dass ich perfekt aussah – genau wie der Prophet es wollte. Dann lehnte sie sich zurück. »Du bist wirklich wunderschön, Harmony. Er wird Bruder Ezrahs Behauptung nicht abstreiten, da bin ich sicher.«

Ich nickte, doch ich empfand nichts als Abneigung dabei.

In Puerto Rico zwangen mich meine Hüter und unsere Freunde nie, mich böse oder vom Teufel befleckt zu fühlen. Aber ich wusste, dass das nicht die Norm war. Die Heilige Schrift, nach der wir lebten, verstärkte die Furcht der Menschen vor jenen, die als Verfluchte gezeichnet waren. Eine Passage nach der anderen wurde über die Verfluchten Töchter der Eva und ihre dämonischen Reize geschrieben. Darüber, wie sie unschuldige Seelen in ihre Falle lockten. Noch schlimmer waren die Kapitel in Prophet Davids Schriften darüber, wie man sich dieser Sünde entledigte.

Die körperlichen Qualen … die Himmlischen Andachten, beginnend im Alter von acht Jahren …

Kalte Schauer rasten mir durch die Adern.

Ich wusste, dass man mich hier in Neu Zion so sehr fürchten würde, als würde der Teufel über unser Land wandeln. Man würde mich verabscheuen. Nur wenn ich den Propheten heiratete, würde ich halbwegs respektiert werden. Falls der Prophet geglaubt hatte, dieser Schleier würde mich vor dem Urteil der Menschen schützen, dann war er im Irrtum.

Ich würde bloß noch mehr aus der Menge herausstechen.

Der Pilot kam in die Kabine und öffnete die Flugzeugtür. Von draußen drang feuchte Luft herein. Ich hörte Fahrzeuge kommen. In Puerto Rico hatten wir ein paar Wagen, aber als ich die sah, die beim Flugzeug stehen blieben, konnte ich erkennen, dass sie viel größer waren.

Meine Halsschlagader pochte heftig, als der Pilot die Treppe hinabließ. Ich hörte gedämpftes Gemurmel und dann Schritte, die die Stufen hinaufeilten. Ein Mann ganz in Schwarz, der eine Waffe vor sich hielt, erschien oben. Sein prüfender Blick schweifte über die kleine Kabine, bis er auf mich fiel. Ich spürte, wie Bruder Stephen und Schwester Ruth sich versteiften.

Der Mann, von dem ich annahm, dass er ein Wächterjünger war, lächelte in meine Richtung. Es war ein Lächeln, das in mir auf der Stelle das Bedürfnis weckte, ein Bad nehmen zu können. Seine Augen funkelten vor Erregung.

Doch schnell unterdrückte der Wächter sein Lächeln und wandte sich an die Leute hinter uns. »Ich bin Bruder James. Die erste Reihe verlässt das Flugzeug als Letzte. Alle anderen müssen jetzt aussteigen. Man wird euch zu euren neuen Quartieren bringen und euch eure Aufgaben zuweisen.«

Das musste man den Leuten nicht zweimal sagen. Sie sammelten ihre Habseligkeiten ein und stiegen hastig aus. Die Wächterjünger unserer Gemeinde, Solomon und Samson, sprachen mit Bruder James, und er gab ihnen gesonderte Befehle. Sie passten perfekt zu den Wächtern von Neu Zion. Sie wirkten körperlich bedrohlich und tödlich – genau so, wie der alte Prophet seine strengsten Zuchtmeister aussehen lassen wollte. Als ich Bruder James anschaute, war ich überzeugt, dass Prophet Cain da nicht anders war.

Ich blieb absolut reglos, bis das Flugzeug leer war. Der Wächter machte eine auffordernde Kopfbewegung. »Folgt mir.«

Mit zitternden Beinen stand ich auf und strich mein Kleid glatt. Bruder Stephen ging voran. Er trug seine beste Tunika, das schwarze Haar kurz geschnitten und gepflegt. Ich folgte. Schwester Ruth, die ihr bestes langes graues Kleid und eine weiße Haube trug, bildete die Nachhut.

Je näher wir der Tür kamen, umso stickiger und heißer wurde die Luft. Als ich das obere Ende der Treppe erreichte, sah ich unten ein großes schwarzes Fahrzeug stehen. Vier Wachen warteten davor … und alle starrten mich an.

Ich senkte den Kopf und stieg die Stufen hinunter.

Als ich den heißen Asphalt erreichte, blickte ich zu den Wachen auf. »Es ist wahr: Es gibt tatsächlich eine weitere Verfluchte«, sagte einer, und Erregung huschte über seine Züge. »Die Prophezeiung wird sich erfüllen.«

Ich spürte die wachsende Erregung, die in Wellen von den Männern aus pulsierte. Bruder James bedeutete den anderen, beiseitezutreten. Dann öffnete er die Wagentür und befahl: »Einsteigen.«

Bruder Stephen, Schwester Ruth und ich hielten uns an die Anweisung. Bruder James setzte sich ans Steuer. Ich sah aus dem Fenster, um den prüfenden Blicken des Wächters zu entgehen, der mich im Spiegel anstarrte.

Wir fuhren über eine Schotterstraße. Üppig grüne Bäume huschten verschwommen vorbei. Alle im Wagen schwiegen. Es fühlte sich an, als seien wir eine Ewigkeit darin gesessen, als wir vor einem Block mit Steingebäuden anhielten.

Wir wurden in ein kleines Steinhaus geführt, das links von einem längeren grauen Gebäude stand. Als wir eintraten, standen zwei schwarz gekleidete Männer, die an einem Tisch saßen, auf. Sofort fiel ihr Blick auf mich.

Mein Magen machte einen Satz, als mir klar wurde, dass sie das Sagen hatten. Diese Männer standen dem Propheten am nächsten. Der dunklere von beiden trat vor und sprach mit Bruder Stephen. »Bist du der Bruder, der bisher bei ihr gelebt hat?«

»Ja, Sir«, antwortete Bruder Stephen. »Und Schwester Ruth ebenfalls.«

Der Wächter runzelte die Stirn. »Aber keiner von euch hat gemeldet, dass ihr eine Verfluchte in eurer Gemeinde habt? Ihr habt sie dem Propheten vorenthalten? Ihr habt die direkte Anweisung, eine potenzielle Hure des Teufels zur Prüfung an Neu Zion zu übergeben, ignoriert?«

»Wir hatten Schwester Harmony nicht im Verdacht, eine Verfluchte zu sein«, erklärte Bruder Stephen.

Der Wächter drängte sich an Bruder Stephen vorbei und nahm den Schleier vor meinem Gesicht weg. Die feuchte Luft liebkoste meine bloßen Wangen, und ich spürte, wie ich blass wurde, als der Wächter mich förmlich mit seinen Blicken verschlang. Dann schob er die Haube von meinem Haar, sodass die taillenlangen blonden Strähnen wie ein Wasserfall über meinen Rücken fielen. Der Wächter wich zurück und legte den Kopf schief.

Bleib ruhig, mahnte ich mich. Nicht einknicken.

Ein wütender Ausdruck trat in sein Gesicht. »Euch ist kein einziges Mal der Gedanke gekommen, dass diese Frau eine Verfluchte ist? Ich befinde mich nicht einmal zwei Minuten in ihrer Gegenwart und kann schon ihre unübertroffene Schönheit sehen und ihre sündige Anziehungskraft spüren. Das angeborene Böse in ihr verseucht förmlich die Reinheit dieses Zimmers.«

Bruder Stephen und Schwester Ruth schwiegen. Der Wächter kam näher auf mich zu. »Wie alt bist du?«

Ich schluckte nervös den Kloß in meinem Hals hinunter und flüsterte: »Dreiundzwanzig.«

Seine Augen loderten auf. »Das perfekte Alter. Das prophezeite Alter.« Der Wächter sah Bruder Stephen und Schwester Ruth finster an. »Die Verfluchte Schwester wird in Abgeschiedenheit bleiben, bis sie gebraucht wird. Wir können nicht riskieren, dass sie die Männer der Gemeinde vor der Heirat mit dem Propheten in Versuchung führt.« Sein Blick wanderte zurück zu mir, und er musterte mich von oben bis unten. »Sie ist weit anziehender, als sogar Bruder Ezrah preisgegeben hat. Der Prophet wird dies sehen und sie mit dem offiziellen Status einer Verfluchten benennen, da bin ich sicher.« Der Wächter machte eine mahnende Handbewegung. »Zur Strafe werdet auch ihr beide isoliert. Das Ende der Welt naht, und dennoch verbergt ihr unsere einzige Chance auf Erlösung in euren Händen.« Er schüttelte wütend den Kopf.

Dann wandte er sich an einen untergeordneten Wächter und befahl: »Bring sie zu den Zellen. Eine wurde für die potenzielle Verfluchte vorbereitet. Bringt Bruder Stephen und Schwester Ruth in die andere.«

Ein schlanker Mann drängte Bruder Stephen zur Tür. Schwester Ruth machte hastig meinen Schleier und die Haube wieder fest, bevor wir hinausgingen. Ich spürte die Blicke des Wächters den ganzen Weg über im Rücken, als er uns zu dem langen Steingebäude brachte. Als wir eintraten, würgte ich fast bei der klammen, feuchten Luft.

Der Wächter öffnete eine Tür. »Ihr kommt hier rein«, sagte er zu Bruder Stephen und Schwester Ruth. Schwester Ruth drückte sanft meine Hand, als sie an mir vorbeiging. Ich erwiderte den Händedruck. Der Wächter schloss die Tür hinter ihnen und sagte: »Ihr werdet bald eure Anweisungen erhalten.«

Anschließend ging er zur nächsten Tür. Sie stand schon offen. Darin befand sich eine Matratze ohne Bezug auf dem Boden, eine Toilette mit Waschbecken hinter einem Vorhang und ein hohes Fenster mit Gitterstäben davor. Mein Mut sank. Ich würde eine Gefangene sein.

»Das passende Quartier für eine Verfluchte Hure wie dich«, fauchte der Wächter. Seine Stimme triefte vor Verachtung. Er wies mit dem Kopf in die Zelle, ein stummer Befehl, hineinzugehen.

Ich trat ein, und die Tür schlug hinter mir zu. Hinter einer Wand rechts von mir, die mich, wie ich annahm, von einer anderen Zelle trennte, konnte ich Wasser tropfen hören. Unzählige Minuten lang stand ich mitten in meiner Zelle, bevor ich zu dem provisorischen Bett ging. Ich setzte mich auf die harte, fleckige Matratze und lehnte mich mit dem Rücken an die raue Wand.

Ich schloss die Augen und versuchte die Verzweiflung zu vertreiben, die mich zu überwältigen drohte. Ich mahnte mich, nicht zu vergessen, warum ich hier war. Ich musste stark sein. Die Menschen waren auf meine Stärke angewiesen. Meine Familie war auf mich angewiesen.

Du wirst nicht versagen. Du wirst deine Familie nicht im Stich lassen … nicht noch einmal.

Also hielt ich die Augen geschlossen und vertrieb die Angst aus meinen Gedanken, die mich mit ihren Klauen umklammert hielt.

Ich war hier.

Um den Propheten zu heiraten.

Mehr gab es dazu nicht zu sagen.