Kapitel 1
Als Mara zu sich kam, zerrte der Schmerz – eine wilde Bestie mit scharfen Zähnen und Klauen wie Rasiermesser – an ihren Gliedern. Er bohrte sich in ihre verkrampften Eingeweide, ließ ihren Magen rebellieren. Sie war eine Kämpferin, wusste aber, wann sie verloren hatte. Die Luft, die sie verzweifelt einsog, schmeckte so scharf wie sie roch. Der Ort, an dem sie sich befand, war düster und kalt. Im Laufe ihres langen, erbärmlichen Lebens hatte Mara viele schlechte Orte gesehen, hatte Zurückweisung, Demütigung und Misshandlungen aller Art erlebt, doch nichts ließ sich mit dem vergleichen, was ihr in den letzten Tagen widerfahren war.
Seit einer halben Ewigkeit hing sie hilflos an der kalten Wand. Die raue Oberfläche hatte ihr die Haut vom Rücken und den Gesäßbacken geschürft, als sie panisch zu entkommen versucht hatte. Inzwischen hatte sie das aufgegeben. Es schmerzte zu sehr. Sie war an den Handgelenken gefesselt. Eine Kette zog ihre Arme so weit nach oben, dass sie nur auf den Zehenspitzen stehen konnte. Sobald die Kraft sie verließ und sie ins Taumeln geriet – was nun häufiger geschah – wurde der Zugschmerz in ihren Schultergelenken unerträglich. Ihre Arme und Hände waren inzwischen taub. Der Rest ihres Körpers war eine einzige Pein. Wenn sie sich bewegte, spürte sie die losen Hautlappen. Anfangs hatte sie die für Kleidung gehalten, bevor ihr wieder einfiel, was er getan hatte, nachdem er sie gezwungen hatte, sich auszuziehen. Manche Schnitte waren nur oberflächlich und taten kaum weh, andere gingen bis auf die Knochen. Der Betonboden unter Maras zuckenden Zehenspitzen war rutschig von ihrem Blut und Urin. Eine Zeit lang hatte sie gegen den Harndrang angekämpft, bis sie es irgendwann einfach laufen ließ. Nachdem der Mistkerl sie an die Wand gehängt hatte, begann er mit dem Schneiden. Das Messer, das er dafür benutzt hatte, sah klein und harmlos aus. Umso länger hatte die Prozedur gedauert. Sie war immer wieder ohnmächtig geworden. Anfangs hatte sie noch geschrien und gefleht – Wie lange war sie nicht mehr so wach, sich so sehr ihres Körpers und all des verdammten Schmerzes bewusst gewesen?, – doch das hatte er ihr schnell ausgetrieben, indem er ihr die eigenen Brustwarzen in den Mund stopfte, die er zuvor mit Übelkeit erregender Gemächlichkeit abgeschabt hatte. Maras blutiges Fleisch schmeckte so bitter wie die Erkenntnis, dass sie einem Psychopathen in die Hände gefallen war.
Und da war sie nicht die Einzige. Als er genug vom Schneiden hatte und wegging, versuchte sie, Kontakt mit ihrem Leidensgenossen aufzunehmen, der auf der anderen Seite des kleinen Kellerraumes angekettet war und genau wie sie auf den Zehenspitzen tanzen musste. Wenn sie diesen jungen Mann ansah, wusste sie, wie es um sie selbst bestellt war. Auch er war nackt, der Körper mit Schnitten übersät. An seinen Oberschenkeln und seinem Bauch baumelten Hautlappen. An manchen Stellen waren Knochen und Sehnen zu sehen. Er hatte keine Brustwarzen und scheinbar keine Hoden mehr. So genau ließ sich das im blutigen Schlamassel seiner Genitalien nicht erkennen. Nachdem Mara die schleimigen Klumpen ihres eigenen Fleisches ausgespuckt hatte, rief sie ihm zu: »Hey, du! Hörst du mich?!«
Seine Lider flatterten, die Augen gingen langsam auf. Er war blutjung, ein halbes Kind. Sobald sein Blick auf Mara fiel, brach er in Tränen aus. Sie wusste, warum: An ihrem geschundenen Körper erkannte er, was ihm selbst widerfahren war. Er stieß ein lautes, lang gezogenes Heulen aus, das in ihren Ohren wehtat. Nervös schielte sie zu der Eisentür, durch die ihr Peiniger verschwunden war. »Du musst dich beruhigen! Ich weiß, dass du Schmerzen und Angst hast, aber du musst …«
»Ich will zu meiner Mom!«
Sie konnte es ihm nicht verdenken. Auch sie hatte in den letzten Stunden das erste Mal seit Jahren an ihre Mutter gedacht, die wahrscheinlich gar nicht mehr lebte.
»Bitte versuch dich zu beruhigen!«
»Mom!«
Wieder blickte sie panisch in Richtung Tür. »Alles wird gut«, sagte sie lahm. »Ich bin Mara. Wie heißt du?«
Er schluchzte, schniefte, zuckte. »Benjamin.«
»Wir kommen hier raus, Benjamin, das verspreche ich dir. Aber wir müssen Ruhe bewahren. So schlimm es ist. Verstehst du das?«
Sein Nicken kam zögerlich, aber immerhin …
»Ich weiß, dass du Schmerzen hast. Mir geht es genauso. Aber wir müssen einen klaren Kopf bewahren.«
»Wozu?«, jammerte er. »Wir sterben doch eh!«
Mara kämpfte gegen ihre eigenen Tränen und die Panik an, die erneut Oberhand gewinnen wollte. Der jahrelange Drogenkonsum hatte sie vielleicht ein bisschen weich in der Birne gemacht, doch nun war sie nüchtern und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit zu klarem Denken fähig. Die Schmerzen schienen ihren Verstand zu reinigen. In jeder anderen Situation hätten die Entzugserscheinungen sie längst in die Knie gezwungen, doch nun blieben sie im Hintergrund. Verrückt oder nicht, der reale körperliche Schmerz half ihr, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Sie musste den Jungen von seiner Panik ablenken. Sonst würde er zu nichts nutze sein.
»Wie lange bist du schon hier, Benjamin?«
Kurz kämpfte er mit seinen Fesseln, tänzelte auf den Zehenspitzen und gab sich keuchend dem Schmerz hin, seine Muskeln zitterten, schaumiger Speichel tropfte von seinem Kinn. Dann riss er sich zusammen, hielt sich ruhig und begegnete Maras Blick. »Ich weiß es nicht. Ein paar Tage vielleicht.«
Sie nickte. »Genau wie ich. Hat er dich auch auf der Straße aufgelesen?«
Er schluckte schwer, bevor er weitersprechen konnte. «Ja. Ich bin von zu Hause weggelaufen. Habs da nicht mehr ausgehalten. Mein Stiefvater …« Plötzlich brach er ab, fing wieder an zu weinen. »Jetzt wünschte ich, ich könnte ihn noch einmal sehen.« Er lachte, doch es klang traurig.
»Hat er dich in Manhattan erwischt?«
»Brooklyn. Ich wollte bei meinem Kumpel unterkommen. Aber seine Alte hat mich nicht reingelassen. Ich schlief ein paar Nächte draußen. Da tauchte dieser Kerl auf und bot mir einen Platz zum Schlafen an. Natürlich war mir klar, dass es einen Haken geben würde, aber dabei dachte ich an Sex.«
Ja, Kleiner, daran dachte ich auch. Und bei einem Kerl wie dem, schien das nicht mal ein echter Haken zu sein
, dachte Mara bitter. Wie hatte sie nur so naiv sein können? Drogensucht hin oder her.
»Das hab ich schon früher gemacht, für ein bisschen Kohle. Und der Typ sah so normal aus …«
»Es war nicht dein erstes Mal auf der Straße?«
»Nein.«
»Wie alt bist du?«
»Siebzehn.«
Fuck, das ist viel zu jung zum Sterben!
Mara spürte einen Schauer, der über ihren geschundenen Rücken lief. Der Junge tat ihr fast mehr leid als sie selbst. Er hatte wenigstens noch die Chance auf ein normales Leben.
»Wir müssen irgendwie …« Der Klang der schweren Eisentür ließ sie verstummen. Maras Herz setzte einen Takt aus, als sie den Mann hereinkommen sah. Seine Kleidung war so leger wie an dem Abend, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, dazu trug er gelbe Handschuhe und Plastiktüten über den Schuhen, was seiner sonst so gewöhnlichen Erscheinung einen grotesken Touch verlieh.
Scheiße, was hat der Mistkerl vor?
Scheiße war ein gutes Schlagwort, denn genau danach stank es aus der Plastikschüssel, die er bei sich hatte. Benjamin heulte wie ein geprügelter Hund, als der Mann vor ihn trat, wobei er Mara den Rücken zuwandte. Verzweifelt wand der Junge sich in seinen Ketten und trippelte auf den Zehenspitzen vor und zurück. Sein blutverkrusteter Körper zitterte, Tränen und Rotz liefen über sein blasses Gesicht.
»Lass ihn in Ruhe!«, brüllte Mara.
Der Mann reagierte nicht auf sie. Er klemmte sich die Schüssel unter den linken Arm und fasste mit der rechten Hand hinein. Der Gestank wurde intensiver, Benjamins Schluchzen hysterischer.
»Aufhören!«, kreischte Mara. Was tat er überhaupt? Sie konnte es von ihrer Position aus nicht genau erkennen. Es sah aus, als würde er den Jungen mit irgendetwas einschmieren. Wie schmerzhaft das sein musste, konnte Mara nur erahnen. Benjamin schrie aus voller Lunge, krümmte sich, zuckte und rutschte immer wieder aus, was die Belastung seiner Schultergelenke an die Grenze bringen musste. Der Fäkaliengestank ließ ihre Augen tränen.
Schmiert er ihn etwa mit Scheiße ein?
Mara hatte sich geschworen, ruhig zu bleiben, doch nun kämpfte sie mit ihren Fesseln, um besser sehen zu können.
Das kranke Schwein hatte tatsächlich eine Schüssel voller Scheiße mitgebracht, um diese in Benjamins Wunden zu reiben!
Wirre Gedanken an Darmbakterien und Infektionen schossen durch Maras Kopf. Auf der Straße war es nicht einfach, die nötige Hygiene einzuhalten. Wenn man krank wurde oder sich verletzte, bestand ein erhöhtes Infektionsrisiko. Sie hatte Menschen wegen eines Hustens oder eines entzündeten Zehs krepieren sehen, doch was dieser Psychopath hier machte war der Gipfel des Horrors! Kurz ergatterte sie einen Blick auf Benjamins gequältes Gesicht, das mehr an eine Fratze erinnerte. Die Schmerzen mussten die Hölle sein – und das war wohl erst der Anfang.
Das wird er auch mit mir machen!
In diesem Moment machte etwas in Maras Kopf klick und sie verlor endgültig die Beherrschung. Ihre hysterischen Schreie übertönten sogar die Schmerzenslaute des Jungen. Ihren Entführer schien das wenig zu kümmern. Er setzte seine
Arbeit
unbeirrt fort und hörte erst auf, als Benjamins Wunden dick mit Kot bedeckt waren. Zuletzt verteilte er noch eine ordentliche Portion auf den verstümmelten Genitalien, bevor er von dem wimmernden Jungen abließ und sich der kreischenden Mara zuwandte. Als er auf sie zukam, sah sie, dass die Schüssel noch etwa zur Hälfte voll war. Ihr Peiniger griff mit dem kotbeschmierten Handschuh hinein und förderte einen großen schleimigen Batzen zu Tage. In Erwartung des Schmerzens riss sie den Mund zum nächsten Schrei auf, da stopfte er ihr den Kot hinein. Mara verstummte. Zuckend, mit weit aus den Höhlen quellenden Augen, versuchte sie, auszuspucken, doch der Mann presste die behandschuhte Hand auf ihren Mund. Hektisch sog sie die Luft durch die Nase, während der beißende Geschmack ihre Sinne flutete. Magenflüssigkeit schoss in ihre Kehle. Das war ein bisschen wie Ertrinken. Mara tänzelte wie eine altersschwache Ballerina. Schon wurde ihr schwarz vor Augen. Da nahm er endlich die Hand weg und trat gerade noch rechtzeitig zur Seite, um nicht von dem Schwall aus Scheiße und Galle getroffen zu werden, der aus Maras Mund spritzte. Sie hustete, keuchte und würgte, bis ihr Magen und ihre Kehle brannten, konnte aber trotzdem nicht aufhören, so ekelhaft war der Geschmack! Der Mann wartete, bis sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Als er erneut in die Schüssel griff, schenkte er ihr ein mattes, beinah entschuldigendes Lächeln. »Ich mag das Geschrei nicht.«
Mara konnte ihn nur anstarren. Sie wusste, was jetzt kam, vergaß aber seine Worte nicht und ließ die Prozedur daher nahezu stumm über sich ergehen. Ihr Entführer arbeitete sorgfältig und sehr konzentriert. Penibel achtete er darauf, den weichen Kot tief in die offenen Wunden zu reiben und diese damit zu verschließen. Trotz aller Pein tasteten Maras Augen sein Gesicht ab und suchten nach einem kleinen Anzeichen von Menschlichkeit. Sie fand keins. Nachdem er sich um ihre Wunden
gekümmert
hatte und die Schüssel leer war, trat er zurück und musterte sie mit einem Blick, der nicht zu deuten war. Seine Stirn lag dabei in Falten, der Mund war leicht geöffnet.
»Wie alt bist du?«
Mara hörte die Worte, verstand sie aber nicht. Ihre Welt hatte sich in einen stinkenden, brennenden Albtraum aus Fäkalien verwandelt. Sie wollte nur noch, dass es aufhörte, damit sie nichts mehr hören, sehen, riechen oder fühlen musste. Und nun fing dieser kranke Wichser an, sich mit ihr zu unterhalten? Das konnte nicht sein Ernst sein!
Er bewegte sich rasch auf sie zu und bohrte den Finger in eine Wunde dicht unter ihrer Brust. Mara heulte auf.
»Antworte!« Sein Finger steckte noch immer in ihrem pochenden Fleisch.
»Achtundvierzig!«, stieß Mara hervor.
Der Finger verschwand und ließ den Schmerz zurück. Mara keuchte. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Körper unkontrolliert zitterte.
»Größe?«
»Eins einundsechzig.« Diesmal kam ihre Antwort prompt und ohne jedes Zögern. Die Vorstellung, er könnte erneut in einer ihrer Wunden herumbohren, trieb ihr den Angstschweiß auf die Stirn.
Nichts dergleichen passierte. Er nickte nur und ging weg.
Mara verspürte einen Hauch von Erleichterung, sobald die Tür sich hinter ihrem Entführer geschlossen hatte. Sie spuckte ein paarmal aus, um den widerlichen Geschmack loszuwerden. Benjamin hing lasch an seinen gefesselten Handgelenken. Seine Arme und Schultern würden es ihm nicht danken. Er war bei Bewusstsein, schien jedoch nichts wahrzunehmen. Seine Augen blickten apathisch aus dem kalkweißen Gesicht. Der Rest von ihm war braun. Das kranke Schwein hatte ganze Arbeit geleistet. Bevor Mara ihn ansprechen konnte, ging die Tür auf und der Entführer kam zurück. Ohne Schüssel und Handschuhe, dafür mit Block und Bleistift.
Was hat das kranke Arschloch jetzt vor? Eine Umfrage machen?
Genau danach sah es aus. Mit konzentrierter Miene baute der Typ sich vor Mara auf. »Name?«
»Mara Smith«, antwortete sie schnell, bevor er erneut auf die Idee kam, sich an ihrem malträtierten Körper zu schaffen zu machen.
Der Bleistift kratzte über das Papier. Beim Schreiben lugte die Zungenspitze aus dem Mund des Mannes – wie bei einem Grundschüler, der über seinen Hausaufgaben brütete.
»Seit wann bist du obdachlos?«
Mara ertappte sich dabei, dass sie angestrengt nachdachte. Sie wollte nichts Falsches sagen, was in Anbetracht der Tatsachen völlig lächerlich war. Was auch immer der Typ mit seiner Fragerei bezweckte, es würde ihr bestimmt nicht zum Guten reichen. »Fast zwanzig Jahre«, sagte sie schließlich.
Ihr Entführer nickte, steckte die Zunge zwischen die Lippen und schrieb. »Irgendwelche chronischen Krankheiten?«, fragte er, ohne aufzusehen.
»Nein.«
»Bist du in den letzten Jahren oft krank gewesen?«
»Nein.«
»Wann warst du das letzte Mal beim Arzt?«
»Vor etwa fünf Jahren. Eine Wunde an meinem Fuß hatte sich entzündet, nachdem ich in eine Scherbe getreten war.«
Er schrieb, blickte auf, nickte. »Du weißt also nichts über deinen medizinischen Allgemeinzustand. Blutwerte, Herzfunktion …«
»Nein.«
»Seit wann spritzt du Heroin?«
Sie schluckte, schämte sich sogar jetzt dafür. »Achtzehn Jahre.«
Er pfiff durch die Zähne. Anerkennung oder Erstaunen? Vielleicht beides. Mit ihrem Lebenslauf ließ sich also sogar ein Psychopath beeindrucken. Wieder schrieb er, dann fragte er: »Welche Drogen nimmst du noch?«
Sie lachte humorlos. »Alles, was ich in die Finger bekomme. Speed, Crack, Crystal. Aber nur sporadisch.«
»Und das Heroin?‹
»Täglich. Mehrmals.«
Sein Lächeln wirkte beinah freundlich. »Wie schmeckt der Entzug?«
»Besser als Scheiße«, gab Mara zurück und war selbst überrascht, wie schlagfertig sie noch war.
Er nickte ernst. »Okay. Du solltest dich ausruhen. Die nächsten Tage werden hart.«
Wie soll ich mich so ausruhen, du krankes Schwein?!
, wollte sie schreien, biss sich aber im letzten Moment auf die Zunge. »Was wollen Sie von uns? Was soll das alles?«
Er musterte sie von oben bis unten. »Na ja, im Grunde geht es ums Sterben.« Schulterzuckend fügte er hinzu: »Sorry.«
Sorry?! Das kann nicht sein Ernst sein!
»Wir schauen mal, wie lange es bei euch dauert«, sagte er, als er sich bereits zu Benjamin umgedreht hatte. Der weinte leise.
»Name?«
»Benjamin Turner.«
»Alter?«
»Neunzehn … Bitte, lassen Sie mich gehen!«
»Größe?«
»Ich will das nicht! Ich will nach Hause!«
Ungerührt trat der Mann nach vorn und packte – diesmal ohne Handschuhe – einen der kotverschmierten Hautlappen an Benjamins Oberschenkel. Das Kreischen des Jungen ging Mara durch Mark und Bein. Sie schloss die Augen – als ob das etwas gebracht hätte.
»Größe?«, wiederholte der Psychopath seine Frage.
»Eins achtzig!«, schluchzte sein Opfer.
»Seit wann bist du auf der Straße?«
»Das waren nur ein paar Tage …«
»Irgendwelche Krankheiten?«
»Nein.«
»Das letzte Mal beim Arzt?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Bist du oft krank?«
»Bitte, lassen Sie mich gehen!«
Diesmal griff der Entführer nach einem anderen Hautlappen. Benjamin kreischte, bis er sich übergeben musste. Genau wie Mara spuckte er einen Schwall Galle. Sie hatten nichts zu essen bekommen, seit sie hier waren. Nur ein bisschen Wasser.
»Antworte auf die Frage!«
»Ich-ich hab die Frage vergessen!«, jammerte Benjamin.
»Bist du oft krank?«
Der Junge schüttelte den Kopf, von seinem Kinn hing ein langer Speichelfaden.
»Also nein.« Der Bleistift kratzte über das Papier. »Nimmst du Drogen?«
Benjamin schien kurz zu überlegen, in seinem Gesicht arbeitete es. »Manchmal.«
»Was heißt das?«
»Ich rauche Crystal Meth und werfe ab und zu eine Pille ein.«
»Konsumierst du regelmäßig?«
»Meth ein paarmal am Tag.«
»Seit wann?«
»Ich-ich weiß nicht … ein paar Wochen. Noch nicht so lange.«
»Hast du Entzugserscheinungen?«
»Woher soll ich das wissen, verfickt noch mal? Mir tut alles weh!«
Unbeeindruckt vollendete der Mann seine Notizen. Als er fertig war, trat dieser Typ, der so schmerzhaft normal aussah, in die Mitte des Raumes und ließ seinen Blick zwischen Mara und Benjamin hin und her schweifen. »Das Gewicht brauch ich noch.« Er zeigte auf Mara. »Fünfzig Kilo?«
Sie nickte schwach. Als sie sich das letzte Mal gewogen hatte, war es noch etwas mehr gewesen, doch die letzten Jahre hatten an ihr gezehrt.
»Fünfundachtzig«, sagte Benjamin, als der Mann sich ihm zuwandte. Der nickte und schrieb auf. Diesmal blickte er mit einem breiten Grinsen in die Runde. »Ich bring euch gleich was zu trinken.« Seine Miene wurde ernst. »Und dann gehts ans Sterben, Freunde.«
***
Der Mann war überraschend freundlich, hatte ein adrettes, gut aussehendes Erscheinungsbild. Sie hätte wissen müssen, dass die Sache einen Haken hatte. Die Jahre auf der Straße hatten ihre Sinne geschärft und sie gelehrt, wie ein Tier potenzielle Gefahrenquellen zu wittern. Leider hatten sie ihr auch die Drogen gebracht, die ihren Körper willenlos machten und ihren Verstand umnebelten. Als der Mann sich in der feuchten Gasse über sie beugte, war sie soeben dabei, sich den letzten Schuss des Tages zu setzen. Seine Stimme klang angenehm und vermittelte eine Wärme, die sie seit Jahren vermisste. Auf dem Pappschild, das sie schon ewig mit sich herumtrug, stand in großen schwarzen Lettern: ›HOMELESS & ALONE. PLEASE HELP!‹
Und manchmal halfen die Menschen tatsächlich. Sie warfen Münzen in ihren Becher, schenkten ihr in Alufolie gewickelte Sandwiches und Wasser in Plastikflaschen. Hin und wieder gab es sogar ein paar aufmunternde Worte und ein kurzes, scheues Lächeln. Die meisten Leute wurden schüchtern und unsicher, wenn sie an jemandem vorbeikamen, der in seinem eigenen Dreck auf der Straße lag. Mara war es gewöhnt, ignoriert und verachtet zu werden. Beschimpfungen taten weh, gehörten aber dazu. Schlimmer waren die Gewaltausbrüche. Jugendliche, die einem im Vorbeigehen in die Rippen oder gegen den Kopf traten. Andere Obdachlose, die in einer Frau ein leichtes Opfer sahen. Sie konnte nicht mehr zählen, wie oft sie geschlagen, vergewaltigt und bestohlen worden war. Zumindest die sexuellen Übergriffe waren in den letzten zehn Jahren weniger geworden. Irgendeinen Vorteil musste das Altwerden ja haben! Mit Ende vierzig war sie auf der Straße so etwas wie ein Artefakt. Die meisten Junkies konnten froh sein, wenn sie ihren dreißigsten Geburtstag erlebten. Nach zwanzig Jahren auf der Straße, davon achtzehn an der Nadel, grenzte es an ein Wunder, dass sie noch lebte. Es wurde mit jedem Tag schwerer. Früher war es ein Leichtes gewesen, ihren Körper zu verkaufen, um sich ihren Drogenkonsum zu finanzieren. Heutzutage hielt sich das Interesse für ihren alten knochigen Arsch in Grenzen. Blow- und Handjobs liefen noch ganz gut, brachten aber zu wenig ein. Sie war gezwungen zu stehlen. Manchmal hatte sie Glück und traf auf unerfahrene Neueinsteiger oder kaputte Altjunkies, die ein bisschen Stoff abgaben, wenn sie ihnen im Gegenzug half, sich den Scheiß in die entzündeten Venen zu jagen. Bei vielen war früher oder später nur noch der Hals dafür geeignet. Nicht angenehm, aber für eine Reise ins Nirwana nahmen sie den Schmerz mit Handkuss in Kauf.
Jener Tag war ganz gut verlaufen. Sie hatte einem fetten Businesstypen in einer Seitenstraße den Schwanz gelutscht, ein bisschen mit seinen haarigen Hoden gespielt und dafür fünfzig Piepen kassiert. Ein seltener Glücksfall! Der Kerl hatte darauf bestanden, in ihrem Gesicht abzuspritzen, aber seis drum! Die Kohle reichte für die zwei finalen Schüsse des Tages. Der Abend war feucht und regnerisch, aber mild. Im Juli waren die Nächte in Manhattan meist schwül und barmherzig. Das würde sich spätestens im Oktober ändern, doch wer wollte jetzt an den Herbst denken? Dankbar hatte sie sich in ihr aus Pappkartons und ein paar alten Decken bestehendes Nachtlager zurückgezogen. Und dann war plötzlich dieser Typ aufgetaucht, in Jeans und T-Shirt, mit einem blonden Bart und Yankee-Cap, in den Mitdreißigern und eindeutig kein Junkie. Er wirkte weder schüchtern noch unsicher, als er sich über sie beugte und ihr ein warmes Essen und einen Platz zum Schlafen anbot. Wann sie das letzte Mal gegessen hatte, wusste Mara nicht. Das war irgendwie im Nebel der Sucht untergegangen.
»Was muss ich dafür machen?«, wollte sie wissen. Die volle Spritze zitterte in ihrer Hand. Sie brauchte diesen Schuss, verdammt noch mal! Für ein Essen – und eine heiße Dusche – hätte sie allerdings so einiges gemacht.
Er legte eine warme saubere Hand auf ihren dürren Arm, schien keinerlei Berührungsängste zu haben. »Warte damit, bis wir bei mir sind. Ich will, dass du klar im Kopf bist.«
Sie ließ die Hand sinken und protestierte nicht, als er die Spritze nahm. Das änderte sich, als er sie auf den Boden warf und unter seinem Schuh zermalmte.
»Hey! Was soll das?« Die Wut brachte ihr Blut zum Kochen.
»Keine Sorge, du bekommst gleich was Besseres.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Du hast Stoff?«
Da lachte er und streckte die Hand aus. »Jede Menge.«
***
Am Ende bekam Mara weder Stoff noch etwas zu essen, ganz zu schweigen von einer heißen Dusche. Der Mann brachte sie zu seinem Auto, einem unscheinbaren weißen Van, und bat sie, hinten einzusteigen.
Also doch
, dachte Mara.
Hätte mich auch gewundert, wenn du nicht ficken willst, mein Junge. Aber egal, bist ja ganz süß. Nur hoffentlich nicht zu pervers.
Sie machte die Hose auf.
»Was wird das?«
Mara zuckte mit den Schultern. »Ficken?«
Er lachte. »Deine Möse stinkt bis zum Mond, Schätzchen!«
Mara machte die Hose wieder zu. Sollte ihr auch recht sein. Die Frage war nur, was der Kerl sonst von ihr wollte. Er deutete auf eine Kiste in der Ecke hinter dem Beifahrersitz. »Mach es dir bequem. Ich hab was Gutes.«
Mara setzte sich. In der Zwischenzeit zog der Typ ein Tütchen mit weißem Pulver aus seiner Tasche. Sofort schlug ihr Herz schneller. »Ist das für mich?«
Statt zu antworten, verpasste er ihr eine Ohrfeige, die ihren Kopf nach hinten warf. Bevor sie sich fangen konnte, packte er ihren Hals und fing an, sie zu würgen. Mara dachte nur noch ein einziges Wort, bevor ihre Lichter ausgingen:
Verschissen!
Das hatte sie in der Tat.