Kapitel 3
Mara spürte nichts. Sie hatte es geschafft, die Schmerzen an den äußersten Rand ihres Bewusstseins zu drängen. Obwohl sie nicht mehr kräftig genug war, um ihr Gewicht auf den Zehenspitzen zu balancieren, und nur an ihren gefesselten Handgelenken hing, fühlte sich das inzwischen okay an. Ihr Körper war wie ein großer heißer Ballon kurz vor dem Platzen. Das war gar nicht so schlimm. Schweben war ein angenehmes Gefühl. Sie blinzelte und sah zu Benjamin hinüber. Vielleicht schwebte er ebenfalls – wo immer er sich nun befand. Der Junge war vor ein paar Stunden gestorben. Das Ende war schrecklich gewesen. Er hatte halluziniert und mit Menschen gesprochen, die nicht da waren, hatte abwechselnd geweint wie ein Baby und gelacht wie ein Irrer. Maras Worte waren nicht mehr zu ihm durchgedrungen, so sehr sie sich bemühte, ihn zu beruhigen. Sein aufgeblähter Körper hatte unkontrolliert gezuckt. Flüssige Fäkalien waren auf den Boden gespritzt. Zum Glück stank Mara selbst so extrem, dass sie inzwischen unempfindlich gegenüber allen Gerüchen war. Der Anblick des sterbenden Jungen war so schrecklich gewesen, dass er sich für den Rest ihres Lebens einprägen würde. Sie war fast froh, dass das Ende nicht mehr fern war. Aber wollte sie wirklich einen solchen Tod sterben? Benjamins armer vergifteter Körper war von Krämpfen gebeutelt worden, bis sie befürchtet hatte, seine Arme würden jeden Moment abreißen. Sie hatte sie bereits lose in der Luft hängen sehen – und seinen verstümmelten Körper auf dem dreckstarrenden Boden. Wenigstens das war ihm erspart geblieben. Nun hing der arme Junge dort, stumm und tot. Seine Augen quollen wie Murmeln hervor und seine Zunge hing heraus. Sie war geschwollen und lila verfärbt. Warum musste dieses Licht so erbarmungslos hell sein? Mara vermutete, dass dies zu den Foltermethoden des Entführers gehörte. Sie sollten genau sehen, was mit ihnen geschah. Wie lange noch? , fragte sie sich verzweifelt. Ihr verschwommener Blick fiel auf den leeren Stuhl. Würde sie noch leben, wenn der Psychopath das nächste Mal darauf Platz nahm? Wollte sie das überhaupt?
Während Mara darüber nachdachte, schien ihr Kopf weiter anzuschwellen. Oder war das nur ihr Gehirn? Sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund, da sich noch Fäkalienreste zwischen ihren Zähnen befanden, und hätte ihre Würde, ihr Leben, einfach alles, was sie je gewesen war, für einen Schluck Wasser gegeben. Sie hätte sogar Schlammwasser oder Pisse getrunken, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätte. Kurz bevor sie erneut das Bewusstsein verlor, ertappte Mara sich dennoch dabei, wie sie seiner Rückkehr entgegenfieberte. Sie konnte es kaum erwarten, bis endlich die Tür aufging und dieses miese Schwein hereinkam, das doch nur Verachtung für sie übrig hatte.
***
Jetzt saß er auf dem Stuhl und starrte sie an. Ordentlich angezogen und ohne Erektion. Mara öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ihn anzuschreien und zu beschimpfen, was herauskam, war jedoch nur ein klägliches Japsen.
»Wer hätte das gedacht?«, murmelte er kopfschüttelnd.
Ist das ein Becher in seiner Hand? Maras Gedanken überschlugen sich. Die Hitze ihres Fiebers wollte sie verschlingen, doch das durfte sie nicht zulassen. Nicht jetzt!
Der Psychopath stand auf und kam auf sie zu. Mara hatte nur Augen für den Becher, aus dessen Deckel ein kleiner Strohhalm lugte. Gierig riss sie den Mund auf.
»Du lebst tatsächlich noch«, stellte der Entführer fest. Als er den Strohhalm in ihren Mund schob, gab etwas in Mara nach. Tränen schossen in ihre Augen, als der erste Schluck – angenehmen kühl – in ihre Kehle floss. Er erlaubte ihr ein paar kleine Schlucke, bevor er den Becher wegzog. Mara gab ein enttäuschtes Jammern von sich. Sie wollte mehr! So viel mehr!
»Wir müssen es langsam angehen«, erklärte der Psychopath. Er stellte den Becher auf den Stuhl. Erst jetzt bemerkte Mara, dass er einen Eimer mitgebracht hatte. Als er sich mit einem tropfenden Schwamm näherte, zuckte sie zurück. Diesmal war der Sadist erstaunlich sanft. Wollte er sie tatsächlich nur waschen? Dennoch tat es weh. Mara schloss die Augen und ertrug es stumm. Obwohl das Wasser warm war, begann sie zu frieren. Als er fertig war, tupfte er sie vorsichtig mit einem Handtuch ab.
»Kannst du die schlucken?«
Mara öffnete die Augen und sah zwei große weiße Kapseln in der ausgestreckten Hand ihres Peinigers. Gift?
»Das sind Antibiotika.«
Was soll der Mist? Ich dachte, hier geht es ums Sterben? Hat er das nicht gesagt?
Natürlich gab es viele Wege zu sterben. Die schnellen und die langsamen. Wer wusste schon, was dieser kranke Wichser sich als Nächstes ausdachte? Sicher war nur, dass es ihr nicht gefallen würde! Dennoch nickte Mara. Was hätte sie auch tun sollen? Er schob ihr eine Kapsel in den Mund und holte den Becher. Es klappte nicht beim ersten Anlauf, aber schließlich gelang es Mara, das Medikament hinunterzuspülen. Bei der zweiten Kapsel ging es schon leichter. Falls ich eine Blutvergiftung habe, ist es eh zu spät.
»Braves Mädchen.« Der Psychopath tätschelte ihre Wange und ließ sie noch ein paar Schlucke trinken.
»Danke«, zwang sich Mara zu sagen. Vielleicht machte es doch Sinn, sich mit ihm gut zu stellen.
»Du imponierst mir irgendwie, Mara.« Das war das erste Mal, dass er sie beim Namen nannte. Mara konnte sich nicht mal erinnern, wann sie ihm den verraten hatte. »Wenn du überlebst, behalte ich dich noch ein bisschen.« Ein fast kindliches Lächeln umspielte seine Lippen.
»Was heißt das?«, wollte sie wissen. »Was hast du vor?«
»Sag mir, was du denkst? Wovor hast du Angst?«
»Ich habe keine Angst. Du kannst mir nichts antun, was ich nicht schon erlebt habe.«
Seine Augen funkelten. »Da solltest du dir nicht so sicher sein. Ich bin ein kreatives Kerlchen.«
»Du bist ein krankes Arschloch!« Hatte sie nicht vorgehabt, sich gut mit ihm zu stellen? Verdammtes Temperament!
Der Psychopath lachte nur. »Und du bist dem kranken Arschloch ausgeliefert! Willst du leben, Mara?«
»Nicht so. Nicht hier.«
»Lieber auf der Straße?«
»Da war ich wenigstens mein eigener Chef.«
»Das ist nicht wahr, Mara, und das weißt du. Die Drogen waren dein Chef. Aber ich habe dich von deiner Sucht geheilt. Du solltest mir dankbar sein.«
»Ich bin dankbar für das Wasser, das ist alles!«
»Ich habe eine antibiotische Salbe für deine Wunden. Wärst du dafür dankbar?«
Sie nickte.
»Dann zeig es.« Er hielt seinen Handrücken vor ihren Mund. »Küss mich.«
Mara hob den Kopf und streckte sich, bis ihre rissigen Lippen seine Haut berührten. Es war der schmerzhafteste Kuss ihres Lebens. Die größte aller Überwindungen, da die Symbolik quasi auf der Hand lag.
»Fein.« Er schlug ihr auf den Mund. »Noch mal!«
Mara küsste die Hand erneut und steckte den nächsten Schlag ein. Ihre Lippen fühlten sich taub an. Nach der siebten Wiederholung schmeckte sie Blut und der Sadist schien endlich genug zu haben. Er fasste in seine Hosentasche und zog eine Tube heraus, in der sich tatsächlich eine Salbe zu befinden schien. »Kein Ton! Und halt still!«
Die Prozedur dauerte eine gefühlte Ewigkeit und Mara musste mit sich kämpfen, um nicht zu schreien. Plötzlich waren die Schmerzen wieder da, intensiver denn je.
Als er endlich fertig war, atmete sie hektisch und zitterte am ganzen Körper.
»Manchmal tut das, was gut für uns ist, am meisten weh.«
Mara konnte ihm nicht widersprechen.
»Würdest du dich gern hinlegen? Ich kann eine längere Kette holen und sie an deinem Hals befestigen. Wie wäre das?« Die Hand erschien vor Maras aufgeplatzten Lippen und sie küsste sie, ohne auf eine Aufforderung zu warten. Diesmal streichelte er über ihren Kopf, bevor er wieder zuschlug. »Morgen vielleicht«, erklärte er, bevor er sich abwandte.
***
Der Mann seufzte, als er sich über Donna beugte. In den letzten Tagen war er nur hier gewesen, um sie notdürftig zu versorgen. Sie durfte aus einem Becher mit Strohhalm trinken und wurde mit einem süßen Brei gefüttert. Als sie pinkeln musste, hatte er eine seltsam gebogene Plastikflasche parat, die genau zu diesem Zweck gemacht zu sein schien. Für Bettlägerige und körperlich Behinderte. Für das große Geschäft schob er eine silberne Bettpfanne unter ihren Hintern. Den Ball Gag musste sie nicht mehr tragen, doch die Fesseln löste er kein einziges Mal. Donna wartete darauf, erneut vergewaltigt und misshandelt zu werden. Jedes Mal, wenn er den Raum betrat, verkrampfte sie sich und versuchte, sich gegen einen Schmerz zu wappnen, der nicht kam. Es schien beinahe, als hätte der Entführer das Interesse an ihr verloren. Donna sagte sich, dass sie froh und dankbar sein sollte. Aber wo war der Haken? Er konnte sie ja nicht für den Rest aller Zeiten auf diesem Bett liegen lassen. Das war kein Leben! Ihre Muskeln schmerzten von der immer gleichen Position. Dazu kam die Langeweile. Sobald die Panik nachließ, fühlte Donna sich mit ihrer Einsamkeit und der Ausweglosigkeit ihrer Lage konfrontiert. Falls überhaupt jemand nach ihr suchte, befand er sich wohl kaum auf der richtigen Spur, denn sonst wäre die Polizei längst aufgetaucht. Sie würde sich mit der Tatsache abfinden müssen, dass niemand außer ihr selbst sie aus diesem Albtraum befreien konnte. Inzwischen erwartete sie die Rückkehr ihres Entführers mit täglich wachsender Ungeduld. Seine kurzen Besuche stellten die einzige Abwechslung in ihrem tristen Dasein dar. Sie ertappte sich sogar dabei, sich nach seinen Berührungen zu sehnen, solange diese nicht verletzend waren. Und nach seiner Stimme, die so freundlich und beruhigend klingen konnte und die so viel besser war als die dumpfe Stille, in der sie sonst ausharren musste.
Nun war er wieder bei ihr und musterte ihren nackten Körper mit neuem Interesse. Als er näherkam, stieg Donna der Duft seines Aftershaves in die Nase. Ihr war bewusst, dass ihre eigenen Ausdünstungen weniger angenehm waren. Bisher hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sie zu waschen. Nicht mal den Hintern hatte er ihr abgeputzt. Anfangs war Donna froh darüber gewesen. Sie hätte sich zu sehr geschämt, hätte er sie gesäubert. Inzwischen ekelte sie sich allerdings vor ihrem eigenen Körpergeruch und sehnte sich nach einer Dusche. Dass sie die nicht bekommen würde, lag auf der Hand.
»Bald geht es dir besser«, flüsterte der Entführer. »Ich mach dich neu.«
Neu? Was soll das heißen? Will er mich umbringen?
Donna zuckte zusammen, als seine Hände über ihren Körper glitten. Er drückte ihre Brüste, bohrte den Finger in ihren Nabel und ihre Scham.
Vergewaltigt er mich jetzt?
Ein Teil von ihr schien regelrecht darauf zu warten. Wenigstens wäre dann klar, was er von ihr wollte. Die Ungewissheit machte sie verrückt.
Er steckte einen Finger in ihren Anus, zog ihn heraus und roch mit verkniffener Miene daran. »Wir müssen dich sauber machen. Das geht bald leichter.«
»Wie meinen Sie das? Was haben Sie mit mir vor?«
»Wenn du ein braves Mädchen bist, lass ich dir die Augen. Wie hört sich das an?«
»Ich weiß nicht, was das bedeutet!«, heulte Donna. »Bitte, tun Sie mir nicht weh!«
Mit nachdenklich gerunzelter Stirn streichelte er ihre Brüste. »Weißt du, es gibt Diebe und Schöpfer. Diebe kidnappen eine Frau, sperren sie ein und zwingen ihr ihren Willen auf. Schöpfer müssen niemanden einsperren, weil sie etwas Neues kreieren. Ein Wesen, das nur existiert, um ihnen zu gefallen.«
Donna öffnete den Mund, ihre Lippen zitterten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Zuvor hatte sie sich gefragt, warum er einen Arztkittel trug. Nun zog er aus einer der Taschen eine Spritze, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. »Wir müssen in einen anderen Raum gehen. Das hier beruhigt deine Nerven.« Er hielt die Spritze hoch.
Donna stemmte sich gegen ihre Fesseln, obwohl ihr klar war, dass sie chancenlos war. »Was ist das? Ich will es nicht!«
»Es ist gut für dich.« Seine Stimme klang warm und belehrend.
Donna hatte keine Wahl. Mit aufgerissenen Augen sah sie zu, wie er die Nadel in ihre Armvene stach. Darin schien er geübt zu sein. Sie spürte nur einen leichten Piks. Fasziniert beobachtete sie, wie ihr Blut in die Spritze gezogen wurde, bevor der Mann es zurück in ihre Ader pumpte. Schon wurde ihre Wahrnehmung verschwommen und eine seltsame Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Das Gefühl war zu angenehm, um dagegen anzukämpfen.
»Steh auf, Donna.«
Irritiert blickte sie sich um.
Bin ich nicht mehr gefesselt? Wann hat er mich losgemacht?
Die Zeit war genauso aus den Fugen geraten wie Donnas Verstand. Tatsächlich konnte sie ihre Arme und Beine bewegen. Die Lederriemen waren verschwunden. Wie das Antlitz der Grinsekatze schwebte das lächelnde Gesicht ihres Entführers über ihr. Sie griff nach den Händen, die er ihr reichte, und ließ sich aus dem Bett ziehen. Hatte sie Gummibeine wegen der Spritze oder wegen des langen Liegens? Egal. Jedenfalls trugen sie ihr Gewicht. Donna ließ sich durch eine Welt führen, die komplett aus den Angeln gekippt war. Sie fühlte sich wie ein Kind, das soeben aus einem wilden Karussell gestiegen war. Der Boden wackelte, die Decke bog sich über ihrem Kopf und die Wände pulsierten, als wären sie irgendwie lebendig. Hilfesuchend sah sie den Mann an, der ihre Hand hielt. Er war so hübsch wie jemand, den man umarmen und küssen wollte. War es wirklich so schlimm, bei ihm zu sein? Er wollte etwas aus ihr machen, das nur ihm gehörte. Vielleicht sollte sie sich geehrt fühlen. Zumindest war er der erste Mann, der nicht schon nach einer Nacht genug von ihr hatte. Dennoch hatte sie Angst, als sie den weiß gekachelten Raum sah, der an einen Operationssaal erinnerte. Das Licht war grell und in der Mitte stand eine silberne Liege. Donna versteifte sich, doch der Mann zog sie weiter und drückte sie mit sanften Händen auf den kühlen Edelstahltisch. Ihr Körper wollte ihr noch immer vorgaukeln, dass alles in Ordnung war und sie relaxen sollte. Donna stieß ein leises Stöhnen aus, als eine weitere Nadel in ihrem Blickfeld erschien. Der Verrückte legte einen Zugang an ihrem Hals! Obwohl ihrem Kopf das ganz und gar nicht gefiel, war ihr Körper auf Entspannung programmiert. Donna ließ so locker, dass ihr ein leiser Furz entfuhr. Der Mann lächelte und tätschelte ihre Schulter. »So ist es gut. Lass alles raus.«
Sie furzte erneut. Wie peinlich! »Tut mir leid.«
»Ist schon gut«, beruhigte er sie lachend, während er eine Infusion vorbereitete.
Donna starrte auf den durchsichtigen Beutel, der an einem Ständer über ihr hing. »Sind Sie ein Arzt?«
»Natürlich. Alles ist in Ordnung.«
»Was passiert mit mir?«
»Du bekommst eine Narkose und wirst sehr lange schlafen. Und wenn du aufwachst, beginnt dein neues Leben.«
In Donnas Kopf kreischte die Stimme der nackten Panik, während ihr Körper ganz ruhig blieb.
»Sind Sie wirklich …?« Ein Arzt?
Den Rest der Frage nahm sie mit in die Dunkelheit.