Kapitel 9
Casey beschloss, den Wagen zu nehmen und hinaus nach Coney Island zu fahren. Ein bisschen Seeluft und der Duft von Popcorn würden ihn vielleicht auf andere – oder neue – Gedanken bringen. Zum Baden war es schon zu kalt, aber perfekt für einen kleinen Strandspaziergang. Der Freizeitpark hatte noch ein paar Tage offen, bevor er für den Winter schließen würde.
An einem kühlen windigen Oktoberfreitag wie diesem hätten die Betreiber sich das vielleicht überlegen sollen. Es war nicht viel los und die meisten Fahrgeschäfte hatten den Betrieb eingestellt. Den Strand und den breiten weitläufigen Steg, der gern von Anglern genutzt wurde, hatte Dale heute für sich. Er spazierte bis ans Ende und ließ sich den salzigen Wind um die Nase wehen. Als Kind war er oft hier gewesen. Einmal mit zehn oder elf war er einem kleinen Mädchen in die Umkleide gefolgt und hatte ihr zwischen die Beine gefasst und in ihre kleine Muschi gezwickt bis es heulte. Die Erinnerung bescherte ihm noch heute einen Steifen. Das Leben war seltsam. Man sollte sich auf die Gegenwart konzentrieren, die Vergangenheit möglichst vergessen und sich nicht vor der Zukunft fürchten, dabei war der Mensch das Produkt seiner Gedanken und Gefühle und lebte die wenigste Zeit im Hier und Jetzt. Ohne ihre Erinnerungen wären viele Menschen nur wandelnde leere Hüllen. Es machte keinen Sinn, die Vergangenheit auszublenden, nachdem sie das Bedeutendste war, was viele hatten.
Manchmal musste man aber auch loslassen.
Casey zwang sich, nicht mehr an die kleine Blonde im grünen Badeanzug zu denken. Heute war sie erwachsen und hatte vielleicht, vielleicht auch nicht, vergessen, was er damals mit ihr gemacht hatte. Vielleicht träumte sie noch davon. Weil kein Mensch sich seiner Vergangenheit entziehen konnte. Das war unser Los. Casey war da keine Ausnahme. Hier zu sein bedeutete eine Reise in die Vergangenheit, die er bereitwillig in Kauf nahm, denn damals hatte er das Leben noch in vollen Zügen zu genießen gewusst.
Wo war dieser Junge nur hin?
Casey war hergekommen, um ihn zu fühlen und sich neu mit ihm zu verbinden. Das würde ihm helfen, alte Gefühle zu beleben.
Während er auf die bewegte graue Wasseroberfläche starrte, dachte er doch wieder an das Mädchen im grünen Badeanzug. Den hatte er weggeschoben, um seine zarte kleine Fotze zu packen. Damals war die Welt noch groß und spannend gewesen, das Leben mit all seinen Verführungen ein einziges großes Geheimnis. Doch auch Psychopathen wurden erwachsen und ihrer Illusionen beraubt. Casey versuchte sich an seine Schwester zu erinnern, die solche Angst vor ihm gehabt hatte. Ihr Leben hatte aus nichts anderem bestanden. Wenigstens das hatte er erreicht. Und vieles mehr. Menschen waren durch und wegen ihm gestorben, hatten ihre Würde und Hoffnungen verloren. Manche hatte er ihres gesamten Menschseins beraubt. War das nicht schlimmer als sterben? All das hatte er in seinen fünfunddreißig Lebensjahren erreicht. Vielleicht war dieses Lebenswerk nicht beispiellos, aber trotzdem eine anständige Leistung verglichen mit dem, was die meisten Menschen so auf die Beine stellten – oder eben nicht. Versagen galt als menschlich, aber Casey wollte nichts damit zu tun haben. Seine Schwächen waren ihm zuwider, während er sich an denen anderer aufgeilte.
Am Ende ging es nur um Macht. Gestern, heute und morgen. Macht war seine größte Triebfeder und würde es auch bleiben. Leider nutzte sich diese genauso ab wie alles andere. Zu retten war nur, was man neu erfinden konnte.
Warum wollte ihm dieses kleine Mädchen nicht mehr aus dem Kopf gehen?
Seit er erwachsen war, hatte er die Finger von Kindern gelassen. Sie hatten ihn schlichtweg nicht gereizt. Das lag vor allem daran, dass er sich mit seinen Opfern zumindest in der Theorie auf Augenhöhe befinden wollte, bevor er sie in den Boden stampfte.
Am Ende hatte das aber nicht mehr gereicht.
Casey war kein Pädophiler. Sex mit Kindern war nicht sein Ding. Das hatte ihn nur gereizt, als er selbst noch eins war. Trotzdem fragte er sich auf einmal, wie wohl ein Kind auf seine Folterkammer oder das Spielchen mit den Amputationen reagieren würde. Erwachsene resignierten in der Regel sehr schnell. Sie wurden still und devot, ließen alles mit sich machen, bettelten mehr um den Tod als um ihr jämmerliches Leben.
Kinder waren anders. In ihren Köpfen hatten sich für gewöhnlich noch keine schädlichen Gedankenmuster festgesetzt. Vielleicht würden sie an eine Amputation ähnlich unbedarft herangehen wie an ihren ersten Schultag. Das wahre Grauen stellte sich erst später ein.
Sie mussten nur jünger als zwölf sein, also in jenem magischen Alter, in dem man keinen logischen Grund darin sah, nicht an die Zahnfee oder den Weihnachtsmann zu glauben, weil das Wort Logik sich noch nicht in den Sprachgebrauch geschlichen hatte.
Alles konnte so einfach sein, solange man ein Kind war. Sie waren die einzigen Lebewesen, für die es tatsächlich nur die Gegenwart gab.  
Und dann war man eines Tages beim Baden am Meer und hatte eine gute Zeit, bevor ein größerer Junge kam und einem zeigte, wie mies das Leben sein konnte.
That’s life, Baby!
Bei dem Gedanken huschte ein flüchtiges Lächeln über Caseys Gesicht, in das sich in den letzten Wochen die Sorgenfalten gegraben hatten. Er war schon mal hübscher – und jünger – gewesen, doch er war noch da und ab einem gewissen Alter war das alles, was zählte. So alt war er zwar noch nicht, aber manchmal fühlte es sich trotzdem so an. Außerdem ging es ab dreißig bergab, das wusste jeder.
Manchmal fragte er sich ernsthaft, warum das Leben so sein musste, mit Altwerden und dem ganzen Scheiß! Dass es jedem so ging, war höchstens ein kleiner Trost. Wie deprimierend es doch war, sich jahrelang selbst beim Verfallen zuzusehen! Als würde man bei lebendigem Leibe verwesen.
Casey hatte vor Kurzem diesen Film gesehen – einen ekelhaften Horrorstreifen über eine junge Frau, die plötzlich feststellen musste, dass sie bei lebendigem Leibe und vollem Bewusstsein verfaulte! Schritt für Schritt. Anfangs versuchte sie noch, sich selbst zusammenzuflicken, nähte Körperteile wieder an oder klebte sie fest, doch das half alles nichts. Am Ende ging sie genauso elendig zugrunde wie Casey sich heutzutage fühlte. Daher konnte er sich gut vorstellen, wie es wäre, lebendig zu verwesen und den Maden beim Festmahl in den eigenen Eingeweiden zuzusehen. Das war sein verdammtes Leben, seitdem es keinen Spaß mehr machte.
Er erinnerte sich, dass auch die Frau im Film die Freude am Leben verloren hatte. Plötzlich konnte sie nichts mehr genießen, weder Sex noch ihr Hobby, ihren Job oder ihre Freunde, und sie konnte – oder wollte – niemandem vertrauen. Casey vermutete, dass die einsetzende Fäulnis ihres Körpers eine Metapher für diesen seelischen Ausnahmezustand war. Wenn das wirklich so passieren würde, hätte er sich längst bis zur Unkenntlichkeit zersetzt. Doch Filme waren nicht das wahre Leben. Sie konnten nur dabei helfen, eine andere Bewusstseinsebene zu erreichen, von der aus sich der ganze Mist leichter verstehen ließ.
Der Film hatte Caseys Interesse an den Zersetzungsmechanismen des menschlichen Körpers geweckt.
Nun beschloss er, die drei Leute im Keller so lange dort zu lassen, bis sie anfingen, sich aufzulösen. Diesen Prozess könnte er mit Fotos für die Nachwelt festhalten.
Wirklich befriedigte ihn diese Vorstellung allerdings nicht. Er befürchtete, dass das genauso langweilig sein würde wie alles andere, was er ihnen bisher angetan hatte. Er brauchte wirklich einen neuen Impuls.
Nachdenklich wandte er sich vom Anblick des stürmischen Meeres ab und wollte gerade den Rückweg zum Strand antreten, als er dort unten ein kleines Mädchen erblickte. Sie trug keinen grünen Badeanzug, sondern eine rote Regenjacke und einen kleinen gelben Eimer in der Hand.
Dich schickt der Himmel! , dachte Casey, dessen Mund auf einmal trocken wie die Sahara war.
Hektisch blickte er sich um, doch niemand war in Sichtweite, obwohl man von seiner Position auf dem Steg aus kilometerweit auf den Strand blicken konnte. Vermutlich befanden sich der oder die Begleiter des Mädchens auf dem Gelände des Freizeitparks, wo es neben Fahrgeschäften auch Essensbuden und Souvenirshops gab. Die Kleine zog es vor, beim Muschelsammeln die harsche Strandluft einzuatmen.
Mit klopfendem Herzen eilte Casey an das andere Ende des Stegs und begab sich ebenfalls an den Strand, wobei er sich in einigen Metern Entfernung von dem Kind aufhielt und so tat, als würde er aufs Meer hinausschauen.
Schließlich konnte er sein Glück kaum fassen. Die Kleine bewegte sich auf ihn zu.
Sie war etwa neun, genau wie das Mädchen im grünen Badeanzug, das inzwischen über dreißig sein musste. Die Zeit verging. Ob dieses Kind genug Glück haben würde, einmal seinen dreißigsten Geburtstag zu feiern, bezweifelte Casey. Außerdem war es ihm egal.
Die Kleine war so sehr in die Tätigkeit des Sammelns vertieft, dass sie Casey noch gar nicht bemerkt hatte. Alle paar Sekunden bückte sie sich, um etwas vom Boden aufzuheben und in ihren Eimer zu werfen. Dabei bewegte sie sich langsam, aber sicher in Caseys Richtung. Der stand da wie angewurzelt und war sich weder des kalten Windes in seinem Gesicht noch des feuchten Sandes unter seinen Füßen bewusst. In seinem Kopf kämpften die Bilder der Vergangenheit mit denen der Gegenwart. Was er mit dem Kind vorhatte, wusste er noch nicht, aber das Mädchen brachte neue Impulse, das spürte er ganz deutlich. Es war so klein und zerbrechlich … wie schnell es wohl aufgeben würde?
Wenn ich nur wüsste, wie ich es ungesehen zu meinem Auto bringe …
Ein derart großes Risiko war er nie zuvor eingegangen, doch neue Impulse verlangten alternative Vorgehensweisen. Es war weder Nacht noch war dieses Mädchen ein gutgläubiger Junkie oder eine bis unter die Haarwurzeln mit Alkohol abgefüllte Tusse. Die Zeit der leichten Opfer war vorbei.
»Hi!«, rief er, als das Mädchen aufblickte und ihn entdeckte. Es winkte kurz und widmete sich dann weiter seiner Sammelleidenschaft.
Casey ging auf die Kleine zu und blieb nah bei ihr stehen. Der Wind zerrte an ihren blonden Haaren und ließ die Kapuze an ihrem Rücken flattern.
»Bist du allein hier?«
Sie hielt inne und richtete sich zu ihrer ganzen süßen Größe auf. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Mit der roten Jacke und dem Eimer erinnerte sie Casey an Rotkäppchen.
Und ich bin der böse Wolf , dachte er vergnüglich. Was der im Märchen mit dem kleinen Mädchen angestellt hat, wisst ihr ja.
»Mein Bruder isst was«, erklärte die Kleine.
»Du nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hab keinen Hunger.«
»Was hast du da Schönes?« Casey tat so, als versuchte er einen Blick in den Eimer zu ergattern.
Das Mädchen kam einen Schritt näher, damit er besser sehen konnte. »Ich sammle Muscheln. Aber hier gibt es keine besonderen.«
»Da hast du recht«, stimmte Casey zu. Plötzlich hatte er einen Gedankenblitz. »Aber weißt du was?«
»Hm?«
»Ich hab ganz tolle in meinem Auto. Am Strand von Hawaii gesammelt, bei meinem letzten Urlaub. Willst du sie sehen und vielleicht ein paar tauschen? Ist gar nicht weit.«
Nun wirkte das Mädchen ein wenig verzweifelt. Zögerlich blickte es sich an dem vereinsamten Strand um. »Ich weiß nicht, Mister. Ich soll eigentlich hierbleiben. Sonst findet mich mein Bruder nicht mehr.«
»Ach Quatsch! Wir sind gleich wieder da. Ich bin übrigens Casey. Und du?«
Sein Misstrauen wich einem Lächeln. »Mein Dad heißt auch Casey.«
So ein schöner Zufall!
»Ich bin Samantha, aber alle nennen mich Sam.«
»Freut mich, Sam.« Er streckte ihr eine Hand entgegen, die Sam zaghaft schüttelte.
Casey zwang sich, sie wieder loszulassen. Am liebsten hätte er sie festgehalten und gleich zum Auto geschleppt. Doch sie würde schreien und das war zu viel des Risikos.
»Und, kommst du mit?«, fragte er in bemüht lockerem Tonfall.
Sam runzelte die Stirn. Sie schien nachzudenken und Alternativen abzuwägen, die sie gar nicht einschätzen konnte, weil sie zu jung war, um zu wissen, wie böse die Welt sein konnte. Ihr Blick richtete ich auf den sandigen Inhalt ihres Eimers.
Rotkäppchen hatte einen Korb mit Kuchen und Wein und wollte Blumen pflücken, das ist der einzige Unterschied , dachte Casey mit pochendem Schwanz. Nein, er stand nicht auf Kinder, aber hier ging es ums Prinzip und die Sache mit der Macht.
»Okay«, knickte sie schließlich ein, womit Casey eine ganze Wagenladung Steine vom Herzen fiel. Der Wolf hatte am Schluss Steine im Bauch gehabt und war gestorben, aber so einfach würde er es seinen Feinden nicht machen.
»Cool! Du wirst staunen!«
Die Kleine ließ ein breites Grinsen sehen, in das auch ihre Augen miteinbezogen waren. Casey hatte das jahrelang vor dem Spiegel geübt und schaffte es bis heute nicht. »Na, dann los!« Er wollte ihre Hand nicht nehmen, weil das zu auffällig gewesen wäre, doch Sam folgte ihm auch so.
Wölfe konnten sich eben gut tarnen, das hatten sie alle gemeinsam.
***
Als sie beim Lieferwagen ankamen, fiel ihr der gelbe Eimer aus der Hand, kippte um und spuckte Sand und Muscheln auf den grauen Asphalt. »Ups.« Das Mädchen machte Anstalten, sich zu bücken. Casey hielt es zurück, indem er es sanft, aber bestimmt am Arm nahm. »Lass das liegen. Du bekommst neue Muscheln von mir.«
»Aber mein Eimer!«, begann es zu protestieren.
Casey packte fester zu. »Ich hab jede Menge Eimer, Süße. Steig erst mal ein.« Mit diesen Worten riss er die Hintertür auf und hob es auf die Ladefläche. Sam verkrampfte sich und drehte sich erschrocken nach ihm um. »Ich will meinen Eimer!«
»Ich hole ihn gleich!« Casey sprang hinter ihr in den Wagen und zog die Türen zu.
Sams Augen wurden groß. »Hey!«
Ein kurzer harter Schlag mit der Handkante reichte, um das Mädchen auszuknocken. Es sackte wie eine Puppe zusammen. Casey fing es auf und war überrascht, wie leicht es war. Mit Kindern hatte er tatsächlich keine Erfahrung. Die Kleine schien nicht mal so viel zu wiegen wie die Rümpfe, mit denen er sonst hantierte.
Aus ihr könnte ich auch einen Rumpf machen. Ob sie sich trotzdem weiter zur Frau entwickeln wird?
Natürlich würde sie das, solange sie lebte! So ein dämlicher Gedanke!
Casey ärgerte sich über sich selbst – aber nur ein bisschen. Im Vordergrund standen sein heftiges Herzklopfen und das Pochen in seiner Hose. Endlich wieder! Sollte er am Ende wirklich nur ein kleines Mädchen gebraucht haben, um sich gut zu fühlen? Konnte es so leicht sein?
Sanft legte er das Kind auf dem schmutzigen Boden der Ladefläche ab. Es erinnerte ihn noch immer an Rotkäppchen. Casey fand ein Seil, ging neben der Bewusstlosen in die Hocke, drehte sie auf die Seite und fesselte ihr die Hände auf den Rücken. So kleine Hände … Sein Herz machte den nächsten Sprung. Es tat weh, was gut war, weil Schmerz Leben bedeutete. Und Leidenschaft. Noch war er sich nicht sicher, was er mit der Kleinen anstellen würde, doch sie zu besitzen, war bereits das größte Glück. Er hatte sie irgendwie gern und würde ihr nur wehtun, wenn es nötig war. Ganz ohne Schmerzen ging es leider nicht. Mit verklärtem Blick strich er ihr ein paar feine Haarsträhnen aus der Stirn.
»Süße kleine Sam«, flüsterte er mit heiserer Stimme. Sein Schwanz würde jeden Moment explodieren. »Mein süßes kleines Rotkäppchen.« Casey zwang sich aufzustehen. Es war höchste Zeit, um von hier zu verschwinden. Bisher hatte niemand etwas mitbekommen, aber er sollte sein Glück nicht überstrapazieren.
Der Wolf im Märchen hatte das getan und wir wissen alle, wie das endete.
***
Als Mark vor drei Wochen sechzehn geworden war, hatten seine Eltern ihm einen kleinen Ford geschenkt. Nicht unbedingt das Modell, das er sich selbst ausgesucht hätte, aber auf jeden Fall besser als weiter auf seine Alten und den Schulbus angewiesen zu sein. Tatsächlich war er überrascht, dass sie es ihm überhaupt erlaubten, allein mit dem Auto unterwegs zu sein.
Natürlich gab es jede Menge Regeln, die er einhalten musste, wenn er sich diese neue – wenn auch beschränkte – Freiheit nicht wieder zunichtemachen wollte. Eine davon besagte, dass er niemals nach zweiundzwanzig Uhr unterwegs sein durfte. Eine andere wies ihn an, seine kleine Schwester mitzunehmen, wann immer seine Eltern das für richtig hielten. So fuhr er sie morgens zur Schule, damit sie eine halbe Stunde länger schlafen konnte und nahm sie oft nachmittags mit, wenn von seinen Alten niemand Zeit hatte, was eindeutig häufiger vorkam, seitdem er mobil war.
Mark nervte das gewaltig. Viel lieber wäre er mit seinen Kumpels durch die Gegend gefahren und hätte das eine oder andere Mädel mitgenommen. Allerdings gab es auch hierfür eine Regel, die da lautete, dass er erst um Erlaubnis bitten musste, bevor er jemanden mitnahm, den seine Eltern nicht kannten.
Mark war streng katholisch erzogen worden und stets ein gehorsames Kind gewesen. Seine kleine Schwester Sam muckte mit ihren neun Jahren zum Teil bereits mehr auf, als er es in seinem ganzen bisherigen Leben getan hatte. Er war unter dem Credo aufgewachsen, dass das Wort seines Vaters Gesetz war und er seiner Mutter stets den nötigen Respekt zu zollen hatte.
Zu Hause mimte er bis heute den braven Sohn, doch seit etwa einem Jahr brach er immer öfter aus und versuchte, heimlich all das zu tun, was andere in seinem Alter machten, wobei er nicht selten gierig und rücksichtslos agierte. Seine Familie hätte ihn nicht wiedererkannt. Inzwischen rauchte er Pot und hatte auch schon härtere Drogen probiert. Manchmal setzte er sich danach trotzdem hinters Steuer, was er nicht tun sollte, aber umso mehr genoss, wenn er sich vorstellte, wie seine Eltern darauf reagieren würden. Noch waren seine Noten stabil und er kam immer pünktlich nach Hause, weshalb seine Alten keine Ahnung von seinen außerschulischen Aktivitäten hatten. Sie vermuteten ihn in Lerngruppen oder bei seinem Kindheitsfreund Luis, während er sich in Uptown aufhielt und mit Leuten abhing, vor denen er als Kind Angst gehabt hätte. Dass das nicht ewig so gehen konnte, dass sie früher oder später etwas merken und ihn ordentlich bestrafen würden, war Mark bewusst. Aufhören konnte er trotzdem nicht. Dieses kleine Stück Freiheit schmeckte viel zu gut! Vor einer Woche hatte er zum ersten Mal Meth geraucht – und er wollte es wieder tun, da es ihm ein Gefühl beschert hatte, das so fantastisch war, dass er es nicht in Worte fassen konnte. Er hatte sich stark und mächtig gefühlt. Wie einer, auf den alle Weiber standen und der nur mit dem Finger schnippen musste, um seinen Willen zu bekommen. Er hatte sich, verdammt noch mal, wie ein Held gefühlt!
Danach war allerdings alles noch viel düsterer und fahler gewesen als davor. Mark hatte eine Leere in sich verspürt, die sich wie ein großes schwarzes Loch anfühlte, in das er hineinfallen könnte, ohne je wieder die Sonne zu sehen. Das hatte ihm Angst gemacht. Die vorangegangene Euphorie war dennoch stark genug gewesen, um es erneut zu versuchen.
Die meisten der Leute, mit denen er in letzter Zeit abhing, waren ein paar Jahre älter als er. Ein paar von ihnen hatte er durch den Bruder eines Klassenkameraden auf einer Party kennengelernt, von der seine Eltern nichts wussten. Die waren an jenem Abend davon ausgegangen, dass er bei Luis übernachtete, der wie gedruckt lügen konnte, seitdem er seinem alten Freund Mark so oft die Stange halten musste. So war Mark auf Spider und dessen Gang getroffen. Spider war ein schlaksiger Afroamerikaner mit Glatze und Goldketten, im Grunde ein wandelndes Klischee, doch für Mark so etwas wie der King. Er vertickte Drogen, bekam die hübschesten Mädchen und all den Respekt, von dem einer wie Mark nur träumen konnte. Um dazuzugehören und sich das nötige Ansehen zu verschaffen, hatte er schon so manchen Mist gebaut, wie Bier geklaut und Marihuana vor einer Grundschule verkauft. Mit mehr Glück als Verstand war er bisher mit alledem durchgekommen, ohne erwischt zu werden. Spider schien zufrieden mit ihm. Nun durfte er regelmäßig in seiner Wohnung abhängen und bekam etwas von den Drogen ab, die Spider und seine Kumpels sich so großzügig gönnten.
Marks Leben war seither aufregender und schien mehr Sinn zu machen. Früher hatte er nur für die Schule und seine paar langweiligen Freunde gelebt, heute lebte er für den Kick und würde vielleicht irgendwann so ein harter Kerl wie Spider sein, der ohne Job und geregeltes Leben eine verdammt geile Zeit zu haben schien. Natürlich wollten Marks Eltern, dass er ein guter Junge war und aufs College ging. Später sollte er studieren und einen anständigen spießigen Job machen, der zu dem anständigen, spießigen und todlangweiligen Leben passte, das sie sich für ihn ausgedacht hatten. Da würde er aber nicht mitmachen! Sobald er achtzehn war, würde er sich verpissen und seinen eigenen Weg gehen. Vielleicht sogar schon früher, wenn das so weiterging. Mark wusste, dass das Eis, auf dem er wandelnde, mit jedem Tag dünner wurde. Falls seine Alten Lunte rochen, würden sie ihm das Auto wegnehmen und ihn nicht mehr aus dem Haus lassen! Sein Dad würde ihn morgens zur Schule fahren und nachmittags abholen. Aus einem solchen Hamsterrad zu entkommen, war für einen Sechzehnjährigen schier unmöglich. So weit durfte es also gar nicht erst kommen.
Doch Mark wurde leichtsinniger. Immer öfter zog es ihn zu Spider und dessen Gang, der außer ihm nur noch ein anderer Weißer angehörte – ein pickeliger Typ mit einem Ziegenbart namens Zac. Nicht, dass Mark wirklich dazugehört hätte! Im Grunde war er nur ein Laufbursche und der Idiot, der den Kopf hinhielt, wenn die anderen Bock auf Unsinn hatten. Sie wussten, dass er aus einem weißen Spießerhaushalt stammte und seine Sonntagvormittage in der Kirche verbrachte, während sie den Rausch der letzten Nacht ausschliefen und vor Sonnenuntergang nicht mal mit der Wimper zuckten. Wie er von solchen Leuten jemals respektiert und ernst genommen werden sollte, wusste Mark nicht. Am Ende würde er wahrscheinlich von zu Hause abhauen müssen, um akzeptiert zu werden.
Seine Eltern würde das wie ein Hammerschlag mitten in die Fresse treffen, aber vielleicht brauchten sie genau das, um endlich aufzuwachen und die Fehler, die sie bei ihm gemacht hatten, nicht an Sam zu wiederholen. Denn wer seine Kinder erzog wie sie es taten, stieß sie am Ende nur weg und erreichte das Gegenteil von allem Erhofften.
An diesem Freitag im Oktober hatten sie ihm aufgetragen, Sam nach der Schule abzuholen und mit ihr in die Mall zu fahren, um neue Schuhe zu kaufen. Warum seine Mutter das nicht selbst erledigte, war Mark ein Rätsel. Schließlich schloss sie ihre Kanzlei freitags immer früher.
»Ich habe noch etwas zu erledigen«, lautete ihre knappe Antwort, die in einem Tonfall kam, der keine Widerworte duldete und Mark augenblicklich in den braven Jungen zurückverwandelte, der er all die Jahre für sie gewesen war.
Sein Vater befand sich auf Geschäftsreise und würde erst Ende nächster Woche nach Hause kommen, ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich dem Willen seiner Mutter zu beugen. Dabei fragte er sich ernsthaft, was sie denn nach Geschäftsschluss so Wichtiges zu tun hatte, dass nicht mal Zeit blieb, um ihrer Tochter neue Sneaker zu besorgen. In letzter Zeit kam es immer häufiger vor, dass Mom so schwerbeschäftigt war. Vor allem, wenn Dad unterwegs war.
Natürlich hätte Mark es niemals gewagt, sie ernsthaft darauf anzusprechen. Sie war seine Mutter und es stand ihm nicht zu, über sie zu urteilen. So war ihm das von klein auf eingetrichtert worden.
Aber heute war Freitag, verfickt noch mal! Spider und die anderen trafen sich am Nachmittag auf Coney Island und Mark hätte sein Leben gegeben, um dabei sein zu können. Er hatte das bereits fest eingeplant und sich eine gute Lüge für Mom ausgedacht, die nun allerdings nicht zum Einsatz kommen würde.
»Es kann spät werden bei mir, deshalb möchte ich, dass du heute zu Hause bleibst und auf deine Schwester aufpasst«, fügte Mom noch hinzu. Als wäre das alles nicht schon beschissen genug!
Es wird also spät bei dir, Mom! Was bedeutet das? Wo treibst du dich herum, wenn Dad nicht zu Hause ist? Und warum kümmerst du dich nicht selbst um deine Tochter?!
Nichts davon kam Mark über die verkniffenen Lippen. Er nickte nur und eilte in sein Zimmer, um die Fingernägel so tief in das Fleisch seiner Oberschenkel zu graben, dass es blutete. Das war nicht fair! Einfach nicht fair! Doch was sollte er tun? Sam konnte schließlich nichts dafür und als großer Bruder war es seine Pflicht, sich um sie zu kümmern.
Fuck! Fuck, fuck, fuck!!!
Mark saß in der Schule und die letzte Stunde hatte soeben begonnen, als ihm der rettende Einfall kam: Ich nehme sie einfach mit. Wir können auf dem Rückweg Schuhe kaufen. Bei Mom wird es spät. Das hat sie gesagt und ich glaube ihr aufs Wort. Sie hat Besseres zu tun und wird sich wahrscheinlich nur mal kurz per WhatsApp melden. Dass wir nicht zu Hause sind, wird sie gar nicht merken. Und Sam wird dichthalten. Die ist viel abgebrühter als ich es in ihrem Alter war.
Das stimmte allerdings. Sam hatte schon öfter Ärger in der Schule gehabt und brachte selten gute Noten nach Hause. Mom musste ihr oft ein paar Ohrfeigen verpassen, um sie zum Schweigen zu bringen, und Dad hatte ihr schon Dutzende Male Hausarrest erteilt. Mark gegenüber war die Kleine bisher allerdings stets loyal gewesen. Wahrscheinlich würde sie sich sogar über die Abwechslung freuen. Coney Island war schließlich ein cooler Platz für Kinder.
Als sie vor der Junior High in sein Auto stieg, weihte Mark seine kleine Schwester sofort in seine Pläne ein.
»Erlaubt Mom es denn?«, fragte die Kleine skeptisch.
Mark musste auf den Verkehr achten, allerdings konnte er sich gut vorstellen, wie sich ihre Augen zu Schlitzen verengten und sie die Stirn in Falten legte. Er kannte seine kleine Sam.
»Mom würde es wohl nicht erlauben«, sagte er mit einem Seufzen. »Sie will, dass ich mit dir Schuhe kaufen fahre und dann gleich nach Hause. Aber sie kommt heute erst spät und bis dahin sind wir zurück.«
»Und was ist mit meinen Schuhen?«
»Die kaufen wir auf dem Rückweg. Auf Coney Island kannst du ein Eis haben – oder Popcorn. Und Karussell fahren.«
»Okay.«
»Okay? Du musst mir aber versprechen, dass du Mom nichts sagen wirst. Und auch nicht Dad, wenn er wieder zurück ist. Sonst bekomme ich den Ärger meines Lebens. Verstehst du das, Sammy?«
»Klar.«
»Verstehst du es wirklich? Sie werden mir das Auto wegnehmen und mich nicht mehr rauslassen. Du musst unbedingt dichthalten. Versprichst du es?«
»Ich verspreche es«, sagte Sam ernst. »Großes Ehrenwort.« Im Augenwinkel sah Mark, dass sie die Finger wie bei einem Schwur vor Gericht hob. Fehlte nur noch die verdammte Bibel! Amen.  
»Okay, cool, fahren wir nach Coney Island und haben ein bisschen Spaß oder was meinst du?«
Sam lachte auf. So süß und rein wie es nur bei einem Kind klingen konnte. »Okay!«
Und so gab der sechzehnjährige Mark Ellison Gas und machte den Fehler seines Lebens.
***
Spider, Zac und zwei Mädchen erwarteten sie vor einer der Schießbuden. Zac hatte seiner Freundin einen riesigen blauen Teddybären geschossen, den diese nun stolz vor sich hertrug. Mark entging der neidische Blick seiner Schwester nicht. »Ich schieß dir nachher auch was. Aber du musst dir was Kleineres aussuchen, das du irgendwo verstecken kannst.«
Sam nickte ernst. Sie waren Komplizen.
Viel war bei dem kühlen Wetter nicht los und Mark musste feststellen, dass unbewegte Fahrgeschäfte und zu viel leerer Platz auf einem Freizeitpark etwas Bedrückendes an sich hatten. Plötzlich bereute er, hergekommen zu sein. Sam hätte es im Sommer bestimmt mehr Spaß gemacht. Dann hätte sie auch baden können. Die Kleine liebte Wasser und den Strand.
Natürlich war er nicht wegen seiner kleinen Schwester hier, sondern um Eindruck bei seinen neuen Freunden zu schinden. Mark hatte vor, die erste Runde Bier auszugeben. Dafür hatte er extra gespart. Außerdem gefiel ihm das Mädchen, das keinen Freund zu haben schien, der etwas für sie schießen konnte. Er hätte das gern übernommen, aber es war kompliziert, wenn man gleichzeitig seiner kleinen Schwester gerecht werden musste. Die skeptischen Blicke der anderen waren ihm nicht entgangen. Ob er heute überhaupt noch mit irgendetwas würde punkten können, blieb dahingestellt.
Vielleicht hätten wir doch in die Mall fahren sollen. Was hab ich mir dabei gedacht, sie hierherzubringen? Sie ist viel zu jung für den Scheiß.
Dafür war es allerdings zu spät. Da musste sie durch.
»Hast du Hunger?«, fragte Mark, als sie sich den Buden mit dem Essen und den Getränken näherten, die sich am Rande des Parks mit Blick auf Strand und Meer befanden. Die meisten hatten geschlossen, aber es würde Bier geben und danach – hoffentlich – bessere Laune.
»Eigentlich nicht«, sagte Sam. »Ich würde lieber an den Strand gehen.«
»Wir wollen aber erst mal hierbleiben und was essen.« Und saufen , fügte er in Gedanken hinzu.
»Wenn ich einen Eimer hätte, könnte ich Muscheln sammeln.«
Mark blickte sich um, während die anderen sich bereits an der Kasse anstellten. Verdammt! Er hatte die Rechnung übernehmen wollen, um wieder besser dazustehen! Es war sicher nur noch eine Frage der Zeit, bis ihn der – oder die – Erste fragte, warum zum Teufel er seine kleine Schwester mitgebracht hatte. Da war ein Strandshop, der noch offen hatte. Mark sah Ständer mit Sonnenbrillen und Sandspielzeug. Na also. Hektisch kramte er nach seinem Geldbeutel und fischte einen Zehndollarschein heraus. »Schau mal in den Shop. Da gibt es bestimmt Eimer. Du kannst dir einen kaufen und damit an den Strand gehen. Aber lauf nicht zu weit weg und merk dir, wo wir sind. Ich komme später nach.«
Sam strahlte. Wenn seine neuen Freunde nur genauso leicht zu beeindrucken wären!
»Aber was ist, wenn Mom …?«
»Den kleinen Eimer verstecken wir schon vor ihr, keine Sorge.«
Sam grinste. »Okay! Danke, Mark!«
Er drückte sie kurz an sich. »Alles cool. Lauf nur nicht zu weit weg!«
»Mach ich nicht!« Und schon rannte sie in Richtung Shop.
Als sie kurze Zeit später wieder herauskam, hatte sie einen kleinen gelben Eimer bei sich und strahlte über das ganze Gesicht. Sie winkte Mark zu und hüpfte in Richtung Strand. In ihrer roten Jacke würde sie nicht zu übersehen sein. Dennoch war Mark nicht ganz wohl bei dem Gedanken, sie allein an den Strand zu lassen …
»Ist heute eigentlich noch was anderes als Babysitten angesagt, Alter?« Das war Spider. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel – dabei war Rauchen hier gar nicht gestattet – und zwei Dosen Budweiser in der Hand.
»Danke, Mann«, sagte Mark, als Spider ihm eine der Dosen reichte. »Die Kleine ist beschäftigt.«
»Na, das will ich hoffen. Ich brauch nämlich deine ganze Aufmerksamkeit, Alter.« Spiders Lachen klang rau.
»Na klar«, gab Mark grinsend zurück und trank einen Schluck Bier. Plötzlich war das Mädchen, das er noch nicht kannte, an seiner Seite. Sie hatte einen Nasenring und roch nach Vanille. Außerdem hatte sie Gras dabei, wie sich kurze Zeit später herausstellen sollte.
Im Laufe der nächsten Stunde trank Mark drei weitere Bier und dachte nicht mehr an seine kleine Schwester, die ganz allein den einsamen Strand erkundete und sich dabei immer weiter aus seinem Blickfeld entfernte.
***
»Wo ist eigentlich die Kleine?«, fragte das Mädchen mit dem Nasenring, das Veronica hieß, und Mark auf einem der Plastikstühle gegenübersaß.
Er fuhr zusammen und sah sich erschrocken um. Wie ein giftiger Stachel bohrte sich die Panik in seine Eingeweide. Der weiche Nebel des Alkohols lichtete sich mit einem Mal.
Fuck! Wie viel Zeit ist vergangen?
»Sie ist an den Strand gegangen«, sagte er lahm. »Ich schau mal nach ihr.«
Veronica nickte. Die anderen waren weiterhin in ein Gespräch über Baseball vertieft, an dem Mark soeben auch noch teilgenommen hatte. Sie beachteten ihn nicht, als er sich hektisch erhob und in Richtung Strand eilte.
Nur Veronica blickte ihm noch kurz hinterher, bevor sie sich wieder ihrem Bier und dem Geplänkel ihrer Freunde widmete. Sie fand ihn irgendwie süß. Später an diesem Tag würde sie ihren Freundinnen erzählen, wie enttäuscht sie darüber war, dass er sich einfach so, ohne ein Wort des Abschieds, verpisst hatte. Sie war sich nicht sicher war, ob sie ihn je wiedersehen würde, da Spider nun stinksauer war und sich wohl nicht mehr mit dem Typen abgeben würde.
Wahrscheinlich hatte er seine kleine Schwester nach Hause bringen müssen, was jedoch noch lange kein Grund war, sich so unhöflich und respektlos gegenüber seinen Freunden zu verhalten …
***
Der Strand war leer! Keine Spur von Sam!
Mark rannte, bis er Seitenstechen bekam. Er kniff die Augen zusammen und schirmte sie gegen die hinter den Wolken hervorlugende Sonne ab, um besser sehen zu können, doch es gab nichts zu sehen. Nichts!
Sam war verschwunden!
Gott, nein! Bitte nein! Es tut mir so leid, dass ich sie allein gelassen habe!
Mit pochenden Schläfen und rasendem Herzen rannte er bis zum Ufer. Da waren Fußspuren im nassen Sand. Kleine und größere. Sie konnten von jedem stammen.
Wo bist du, Sam?
Was, wenn sie im Wasser ist? Das würde sie nicht tun, oder?
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Mark auf das unruhige graue Meer hinaus. Die Schreie der Möwen bohrten sich wie Angelhaken in sein Trommelfell.
Bitte, tauch auf, Sam! Gib mir ein Zeichen!
Atemlos wandte Mark sich vom Wasser ab und ließ den Blick in Richtung des Vergnügungsparks und der dort befindlichen Buden schweifen.
Da nahm er im Augenwinkel ein rotes Aufblitzen wahr. Sam? Es war zu weit weg, um viel zu erkennen, doch Mark glaubte am Ende der Promenade eine kleine rote neben einer größeren schwarzen Gestalt zu erkennen.
»Sam?«, schrie er, doch der Wind verschluckte seine Stimme. »Sam!« Mark rannte los. Schon waren die Gestalten aus seinem Blickfeld verschwunden – falls sie überhaupt dagewesen waren –, er war sich aber sicher, dass sie sich Richtung Parkplatz bewegt hatten.
***
Als Mark den Parkplatz erreichte – er war noch nie so gerannt – sah er sich hektisch um. Niemand war hier. Er erblickte seinen eigenen Wagen, der zwischen einem alten Buick und einem Dodge Ram parkte.
Auf der gegenüberliegenden Seite standen mehrere Kleinwagen und ein schmutzig weißer Van. Ein untypisches Gefährt für einen Familienausflug.
Und was lag da hinter dem Wagen auf der Straße?
Marks Herz setzte aus.
Sam hatte so einen Eimer!
Es muss nicht ihrer sein! Die verkaufen sie hier überall …
Mark hatte sich soeben wieder in Bewegung gesetzt, um sich den Eimer aus der Nähe anzusehen, als der Wagen plötzlich mit einem Ruck zurücksetzte. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass jemand hinter dem Steuer saß. Er erkannte einen Mann mit Kappe und Dreitagebart. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, dann gab der Mann Gas. Dabei fuhr er achtlos über den gelben Eimer hinweg, der nun in gelben Splittern auf dem Asphalt lag.
Sam!!!
Mark spürte sein rasendes Herz, die schmerzende Lunge und das Seitenstechen nicht mehr. Seine Schwester musste sich in diesem Lieferwagen befinden, das war die einzige logische Erklärung. Seine Hände fuhren in seine Hosentaschen, zogen Handy und Autoschlüssel heraus. War er sich sicher genug, um die Polizei zu rufen? Wie lange würden die brauchen? Würden sie ihn überhaupt ernst nehmen? Wohin würde der Wagen mit Sam fahren? Mark hatte das Nummernschild gesehen, aber das würde nicht viel bringen, wenn der Kerl seine Schwester in der Zwischenzeit umbrachte. All das schoss ihm in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Der Lieferwagen bog soeben vom Parkplatz ab. Mark fuhr herum und rannte zu seinem Auto.
Dranbleiben! , dachte er nur. Ich muss irgendwie dranbleiben!
***
Mist, ich hab den Eimer vergessen! , fiel es Casey siedend heiß ein, als er aus der Parklücke fuhr. Soll ich noch mal aussteigen?
Er sah aus dem Fenster und erblickte einen Jungen im Teenageralter, der gerade noch nicht dagewesen war.
Wo kommt der plötzlich her?
Der Junge trug eine Lederjacke und Bluejeans und machte einen abgehetzten Eindruck. Er starrte Casey an, als wäre er der Teufel höchstpersönlich.
Hoffentlich hat der Bengel mich nicht mit dem Mädchen gesehen!
Das ließ sich nicht mehr ändern, er musste auf jeden Fall schleunigst von hier verschwinden. Vielleicht hatte der Junge irgendein anderes Problem. Wenigstens war er allein.
Und wenn er die Bullen ruft? Du kannst es nicht ändern! Gib endlich Gas!
Es galt mit dem Schlimmsten zu rechnen und das Beste zu hoffen. So ging Leben. Zumindest hatte Casey seine Krise überwunden: Sein Herz stand kurz vor der Explosion, er machte sich vor Angst fast in die Hose und hatte gleichzeitig einen Ständer, um den ihn so mancher beneidet hätte. Wenn das keine echten Empfindungen waren, wollte er einen Besen samt Stiel fressen!
***
Während der Heimfahrt war Casey so sehr mit all den neuen und doch vertrauten Empfindungen in seinem überlasteten Organismus beschäftigt, dass er sich kaum auf den Verkehr vor sich, geschweige denn auf mögliche Verfolger in seinem Rücken konzentrieren konnte. Sein verfluchter Schwanz spielte völlig verrückt und jeder Gedanke an sein neues kleines Opfer bohrte sich wie ein heißer Schürhaken in seine Eingeweide und ließ sein Herz tanzen. Sein Magen schlug Purzelbäume, bis ihm so übel war, dass er sich wahrscheinlich übergeben hätte, wenn er etwas in sich gehabt hätte. Doch die letzten Tage hatte er weder Elan noch Appetit gehabt. Nun kam das alles in einer Woge zurück, die ihn zu ertränken drohte.
Und all das wegen eines kleinen Mädchens? War es wirklich so leicht?
Casey beschloss, dass es keinen Sinn machte, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Was zählte, waren die Fakten und die sprachen definitiv für sich. So euphorisch und geil war er lange nicht gewesen.
Kurze panische Blicke in den Rückspiegel zeigten ihm nichts Verdächtiges. Zumindest waren keine Bullen hinter ihm her. Ob ihn sonst jemand verfolgte? Vielleicht der Junge vom Parkplatz?
Casey könnte sich irren, glaubte allerdings nicht, dass der Bengel alt genug war, um Auto zu fahren. Warum also die Panik?
Der kleine Penner könnte sich mein Nummernschild gemerkt und die Bullen verständigt haben.
Das Risiko blieb, erschien Casey aber überschaubar.
Er hätte ohnehin nichts tun können, wenn es so wäre. Der Stadtverkehr war um diese Zeit viel zu dicht, um sich eine Verfolgungsjagd zu liefern. Wenn es so sein sollte, könnten die ihn problemlos zum Anhalten zwingen. Dann würden sie einen dicken Schwanz in seiner Hose und ein gefesseltes Mädchen auf der Ladefläche seines Wagens finden, was sicher ausreichte, um ihn für viele Jahre hinter Gitter zu bringen. Von den Überraschungen, die sie in seinem Haus erwarten würden, einmal abgesehen.
Casey versuchte sich das vorzustellen. Seine Verhaftung, eine Gerichtsverhandlung, schockierende Medienberichte … Einem Teil in ihm würde das sogar gefallen. Es war derselbe Teil, der seit Jahren wie besessen in dieses verfluchte Tagebuch kritzelte. Der Teil, der mit Schuld und Scham gut leben konnte, solange es ihm ein bisschen Publicity einbrachte. Dieser Teil würde sich rechtzeitig ergeben, da er eine Verhaftung dem Tod vorzog.
Natürlich gab es da auch noch einen anderen Teil …
Welcher am Ende siegen würde, würde sich herausstellen. Casey Douglas hatte auf jeden Fall nie aufgehört, sich selbst zu überraschen.
Ich sollte gar nicht daran denken, dass sie mich erwischen könnten, denn das wird nicht passieren! Das Glück ist auf meiner Seite! Ich darf nur nicht einknicken!
Genau darauf kam es an. Er durfte, verdammt noch mal, nicht einknicken!
Hauptsache war, dass er sein Gefühl zurückhatte und sich endlich wieder auf ein Opfer freuen konnte. Die kleine Sam würde sein Meisterstück werden! Das Schlimmste und Schönste zugleich, das ein Mensch je einem anderen Menschen angetan hatte. Für diese Kleine wollte Casey über sich hinauswachsen und das Unmögliche möglich machen. Er würde alles geben, um ein Lebewesen aus ihr zu formen, das ihn glücklich machte – anbetungswürdig und einzigartig. Und wenn es, verfickt noch mal, das Letzte war, das er tat!
***
Mark Ellison schwitzte wie ein Schwein, während er seinen kleinen Ford durch den dichten Freitagnachmittagsverkehr steuerte und sich dabei mit stoischer Verbissenheit darauf konzentrierte, den weißen Lieferwagen zwei Fahrzeuge vor ihm nicht aus den Augen zu verlieren. In seinem Tunnelblick existierten nur noch das Stück Straße vor ihm und die Hinteransicht dieses verdammten Lieferwagens, in dem er seine kleine Schwester vermutete.
Er dachte nicht darüber nach, was er tun würde, wenn sie – wo auch immer – ankamen oder was passieren würde, falls er den Lieferwagen aus den Augen verlor.
Er dachte nur an Sam – und an ihren gelben Eimer, der unter den Reifen des Lieferwagens zersplittert war. Als großer Bruder hatte er auf ganzer Linie versagt, aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Wenn er es schaffte, dranzubleiben, konnte er sie retten! Davon war er überzeugt.
Die zarte Stimme seines Unterbewusstseins, die fragte, was er tun sollte, falls Sam sich wider Erwarten nicht in diesem Wagen befand, war zu schwach und leise, um gehört zu werden.
Das Bild des kaputten Eimers ließ ihn nicht los – darin steckten alle Antworten, die er brauchte. Seine Schwester war gekidnappt worden und befand sich in eben jenem Wagen. Das war sowohl die bittere Realität als auch die einzige Chance, sie zu retten. Wie er das anstellen wollte, wusste Mark nicht. Darüber würde er nachdenken, wenn es so weit war.
Nun galt es erst mal, an dieser verfluchten Karre dranzubleiben. Nicht mehr und nicht weniger.
***
Der Verkehr war die Hölle und der Heimweg war ihm nie so weit vorgekommen, dennoch pulsierte Caseys Penis noch immer, als er eine gefühlte Ewigkeit später durch ein rostiges Tor in die Einfahrt seines Grundstücks bog. Hier herrschte im Gegensatz zu dem Trubel auf den Hauptstraßen eine überraschende Ruhe. Die Vorstadtatmosphäre irritierte angesichts der Tatsache, dass der lärmende Großstadtirrsinn sich nur wenige hundert Meter entfernt befand. Motorenbrummen, Hupen und Sirenen waren gut hörbar, schienen aber aus einer anderen Sphäre zu kommen.
Casey konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als er aus dem Wagen sprang, um das Tor zu schließen. Jahrelanger Wildwuchs hatte die Hecke um das Grundstück und den Garten in einen kleinen Dschungel verwandelt und bot ausreichend Schutz vor den Blicken neugieriger Nachbarn oder Passanten. Von der Straße aus war das Haus nicht einsehbar. Besucher mussten am Gartentor klingeln, bevor sie auch nur in die Nähe kamen.
In der Nachbarschaft hielt man Casey bestimmt für einen seltsamen Eigenbrötler und tuschelte nicht zu knapp über ihn, solange man ihn in Ruhe ließ, kümmerte ihn das allerdings nicht. Leben und lesen lassen – das war ein schönes Motto.
So konnte er ungesehen die Türen seines Lieferwagens öffnen und die kleine Sam herausheben, die zu sich gekommen war und leise weinte. Zur Sicherheit presste Casey eine Hand auf ihren Mund. Die Augen, die ihn anblickten, waren kugelrund und mit Tränen gefüllt. Puppenaugen. Unter dem kleinen runden Kinn prangte ein großer Bluterguss, wo Casey das Mädchen mit der Handkante getroffen hatte. Blut verkrustete die Lippen. Casey musste an Lippenstift denken. Die Vorstellung erregte ihn.
Hektisch knallte er die Türen zu und eilte durch den Hintereingang ins Haus. Sam stöhnte, der kleine warme Körper bäumte sich in Caseys Armen auf. Er drückte sie fester an sich, spürte ihren Speichel an seiner Handinnenfläche. In dem Moment – Casey war soeben durch die Tür in den düsteren Flur getreten – traf ihr Fuß seine Weichteile. Der Schmerz flammte so heftig und plötzlich auf, dass ihm die Luft wegblieb. Caseys Hand rutschte von Sams Mund und endlich konnte der Schrei entweichen, der so tief in ihrer Kehle gesteckt hatte.
»Kleines Miststück! Halt die Klappe!« Wutentbrannt warf Casey das Mädchen zu Boden. Sie landete auf dem Rücken und der Schmerz des Aufpralls erstickte ihren Schrei.
»Das machst du nicht noch mal!«, brüllte Casey, nachdem er die Tür mit einem gezielten Fußtritt geschlossen hatte. Als er sich über das hilflose Kind beugte, schien er nur noch aus dem Rauschen in seinem Kopf und dem Pochen in seinen Genitalien zu bestehen.
Es war Zeit für die erste Lektion.
***
Als Dale zu sich kam, war alles beim Alten: Das gleißend helle Licht in seinen Augen, der beißende Gestank in seiner Nase, die Schmerzen in seinem geschundenen Körper, die verkrüppelte Frau und die verwesende Leiche zu seinen Füßen. Es war fast wie in diesen Filmen, wo Menschen ein und denselben Tag wieder und wieder durchleben mussten. Schön war das nicht.
Warum kann ich nicht einfach sterben? , fragte er sich verzweifelt. Menschen sterben unentwegt. In jeder beschissenen Sekunde ist irgendeiner dran. Warum kann ich es nicht sein?
Er hörte ein Stöhnen und sein Blick fiel auf Maras blutigen Rumpf. Auch sie gehörte nicht zu den Glücklichen, die in dieser Sekunde das Zeitliche segnen durften. Obwohl sie so aussah, als wäre sie bereits mehr als einmal gestorben, atmete sie noch.
»Mara?«, krächzte Dale. Seit wann klang seine Stimme so? Und wie lange war er schon ohne Wasser? Fragen über Fragen und nicht eine verdammte Antwort!
»Ja?« Mara krächzte ebenfalls.
»Wie geht es dir?« Was für eine selten dumme Frage! Fällt dir nichts Besseres ein?
Maras Antwort war ein trockenes Lachen, das wie das Bellen eines halb toten Hundes klang. Was für ein bemitleidenswertes Duo sie doch waren!
»Bestens, Dale. Und dir so?«
Jetzt musste auch er lachen. Verrückt, oder nicht. Und was blieb einem am Ende schon, wenn man sich nicht mal den Galgenhumor bewahren konnte?
»Denkst du, er taucht noch mal auf oder war es das mit uns?«, fragte Dale. Dabei war er sich tatsächlich nicht sicher, was ihm lieber war. Eine letzte Chance oder der endgültige Schlussstrich …
»Lassen wir uns überraschen«, meinte Mara.
Natürlich blieb ihnen nichts anderes übrig.
Schwer zu erfassende Zeit verstrich, in der beide erneut in ihrem Leid versanken. Dale, der an seinen tauben Armen hing und diesen verrückten Tanz auf den Zehenspitzen vollführte. Mara, die nackt und verkrüppelt auf dem kalten Boden lag und kaum mehr was von dem kleinen Stück Körper spürte, das der Verrückte ihr gelassen hatte. Geteiltes Leid wäre womöglich halbes Leid gewesen, doch über diesen Punkt waren beide längst hinaus. Sie hatten nicht mehr die Kraft, um irgendetwas zu teilen. Dale versuchte, an seine Kinder zu denken, an die Familie, die er einmal gehabt hatte, aber die Erinnerung an dieses alte Gefühl verblasste allmählich. Was blieb, war eine dumpfe schmerzerfüllte Leere, die ihn in ein seelenloses Nichts zu verwandeln drohte. Vielleicht ließ sich das so besser ertragen, doch der Preis war unverhältnismäßig hoch. Noch immer fühlte Dale sich nicht bereit, ihn zu zahlen. Ein Teil von ihm kämpfte weiter und würde es bis zum Schluss tun. Und der Rest – nun, der war wohl dieses zitternde Häuflein Elend, das hier von der Decke hing und in seinen eigenen Exkrementen herumtrippelte.
Er fragte sich, wie es um Mara stand. Ob sie sich noch an die Frau mit Beinen klammerte, die sie gewesen war. Oder konnte sie ihr Schicksal akzeptieren? Trotz ihrer misslichen Lage strahlte sie noch immer diese erstaunliche Stärke aus. Dale war froh, dass sie hier war. Es war allemal besser, als allein zu sein.
Er war so in Gedanken versunken, dass er den Psychopathen erst bemerkte, als dieser schon mitten im Raum stand. Er atmete schwer. Schweiß bedeckte seinen nackten Oberkörper.
»Zeit für ein bisschen Action!« Casey grinste über beide Backen. »Es geht mir wieder besser!«
Nachdem er vor Kurzem noch die arme Mara als Psychologin missbraucht hatte, schien der Typ jetzt tatsächlich neuen Lebensmut gefasst zu haben. Wo auch immer er den so plötzlich herhatte. Dale bezweifelte allerdings, dass ihnen das zugutekommen würde. Maras hektischen Atemstößen war zu entnehmen, dass es ihr ähnlich ging.
Casey zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und kam Dale so nahe, dass dieser den Zigarettenrauch in seinem Atem riechen konnte. Wann hatte er selbst zum letzten Mal geraucht und würde er es je wieder tun? Lieber nicht darüber nachdenken!
»Komm her! Wird Zeit, dass du dich mal nützlich machst.« Mit diesen Worten streckte Casey sich und öffnete erst die eine, dann die andere Handfessel. Dales Beine konnten sein Gewicht nicht tragen und er stürzte zu Boden, sobald seine Hände frei waren. Schmerzhaft langsam kroch das Gefühl in seine Extremitäten zurück. Er heulte vor Schmerz und versuchte krampfhaft, auf alle viere zu kommen, was auf dem von Blut und Exkrementen schmierigen Boden ein echtes Kunststück darstellte.
»Reiß dich zusammen!«, herrschte Casey ihn an und versetzte ihm ein paar kräftige Tritte in den Hintern, die allerdings weniger wehtaten, als der Rest von Dales Körper. Dennoch kämpfte er weiter, bis er es schließlich schaffte, wie ein Hund vor seinem Entführer zu hocken, zitternd und keuchend.
»Okay, das reicht fürs Erste.« Dieses kranke Arschloch tätschelte tatsächlich seinen Kopf!
»Was wünscht du dir von mir, Dale?«
Dale hob den Kopf. Er hatte sich noch nie so erniedrigt gefühlt. Dicht neben sich hörte er Mara. Weinte sie? »Ich wünschte, du würdest uns gehen lassen. Aber das wirst du nicht.«
Casey schüttelte den Kopf, er wirkte nachdenklich. »Nein, das werde ich nicht. Aber du sprichst von euch? Das finde ich bemerkenswert für einen kleinen Junkie-Penner wie dich. Was soll sie denn noch anfangen da draußen? Welchen Sinn hätte das?«
Dale versuchte, eine Antwort zu finden, doch sein Kopf wollte nicht mitmachen. Jetzt wusste er, dass Nachdenken tatsächlich wehtun konnte.
»Was könnte ich sonst für euch tun?« Casey klang beschwingt und leicht sarkastisch.
»Erlöse uns endlich!« Das war Mara.
Dale sah sie an. Was würde er sich an ihrer Stelle wünschen?
»Kannst du das?«, fragte der Entführer.
»Was?« Dales Blick glitt wieder nach oben, wodurch sein Nacken schmerzte.
»Kannst du sie erlösen, Dale?«
Warum ich? Was will dieser kranke Wichser?
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Sicher weißt du es!« Casey lachte. »Und sie weiß es auch! Nicht wahr, Mara? Ich bin stolz auf dich, altes Mädchen. Du hast dich gut geschlagen. Du warst etwas Besonderes für mich. Ich weiß nicht, ob ich ohne dich da rausgegangen wäre und mir die Kleine geschnappt hätte …«
»Welche Kleine?«, ging Dale dazwischen.
»Oh, sie ist wirklich süß. Schade, dass ihr sie nicht mehr kennenlernen werdet. Für die Kleine fängt es gerade erst an.«
»Du Schwein!«, zischte Mara.
Sie war wirklich eine bemerkenswerte Frau.
Casey ließ ein herzhaftes Lachen hören. »Du müsstest sie sehen, Mara. Genau jetzt, in diesem Moment. Sie ist oben, wo sie deinen und Donnas Platz einnehmen wird. Ich hab sie schon so weit, dass sie nicht mehr schreit. Obwohl sie es versucht hat, darauf könnt ihr wetten!«
»Was willst du?«, schrie Dale, obwohl es in seinem Hals wehtat. »Warum hörst du nicht endlich auf!?«
»Oh, aber warum sollte ich, mein Lieber? Wo es gerade wieder anfängt, Spaß zu machen.«
Dale ließ den Kopf hängen. Was soll ich noch tun oder sagen? Dieser kranke Mistkerl macht eh, was er will!
»Dieses Mädchen kannst du nicht retten. Aber du kannst deiner Freundin helfen. Und dir selbst. Was sagst du?«
Dale sagte gar nichts. Nun galt es, auf den nächsten Haken zu warten. Dass es einen gab, war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Da platzte Casey auch schon heraus damit: »Wenn du Mara tötest, töte ich dich. Schnell und gnädig , das verspreche ich.«
Ich scheiße auf die Versprechen eines geisteskranken Psychopathen!
Verlockend klang der Vorschlag dennoch, das ließ sich nicht leugnen. So hatte Dale zumindest die Möglichkeit, Mara vor weiterem Leid zu bewahren. Was danach mit ihm passierte, sollte zweitrangig sein. Darauf hatte er ohnehin keinen Einfluss.
»Na, was sagst du?«, wollte Casey wissen.
»Darf ich entscheiden, wie ich es mache?« Er warf einen kurzen, beinahe entschuldigenden Blick auf Mara, die nicht böse zu sein schien. Ganz im Gegenteil. War das Hoffnung in ihren Augen?
»Ja. Sozusagen. Du musst aber die bloßen Hände benutzen.«
Dale atmete innerlich auf. Er würde sie ersticken! In ihrem geschwächten Zustand würde das nicht lange dauern.  
»Und sie darf nicht ersticken. Das wäre zu einfach.«
Was? Das ist nicht sein Ernst!
»Aber wie soll ich denn sonst …?« Dale starrte auf seine Hände.
»Sei kreativ, Kleiner. Darum geht es hier!«
Dieses Lachen! Großer Gott! Dale sah sich aufspringen und dem Kerl mit bloßen Händen die Kehle aufreißen. So viel zum Thema. Wenn er nur nicht so verdammt schwach gewesen wäre!
»Das ist nicht fair!«, protestierte er. »Wie soll man jemanden auf diese Weise schnell töten?«
»Wer hat denn was von schnell gesagt, Dale? Aber du kannst schneller sein als ich es wäre. Du musst nur die Regeln einhalten: Kein Ersticken und mit bloßen Händen. Die Füße sind auch tabu, aber das ist dir sicher klar.«
War es nicht. Dale hatte eben noch überlegt, ob er es vielleicht mit einem gezielten Tritt gegen Maras Kopf beenden könnte. Ohne Schuhe wäre das allerdings schwierig. Gott, er hasste dieses kranke Arschloch!
»Und wenn ich Nein sage?«
Casey grinste. »Das ist dein gutes Recht. Dafür kümmere ich mich um die alte Mara, beziehungsweise das, was von ihr übrig ist. Ich werde sie bei lebendigem Leibe häuten und du wirst zusehen, mein Lieber. Ich klemme dir Streichhölzer unter die Lider, damit du nicht auf die Idee kommst, die Augen zu schließen. Was hältst du davon? Es liegt bei dir.«
»Mach du es!«, keuchte Mara. »Bitte, mach du es, Dale!«
Er sah sie mit tränennassen Augen an. »Ich will dir nicht wehtun!«
»Das ist okay. Lass nur nicht zu, dass er es tut!«
Casey zuckte amüsiert mit den Schultern. »Du hast die Lady gehört.«
Dale versuchte über die Möglichkeiten nachzudenken, einen Menschen möglichst schnell und schmerzlos zu töten, wenn man nur die Hände zur Verfügung hatte. Es erschien ihm unmöglich. Er wusste nicht mal, ob seine verbliebene Kraft ausreichen würde …
»Wie viel Zeit habe ich?«
Casey kicherte wie ein Schuljunge. »Ich dachte, du willst es schnell machen, Junge! Die langsame Tour bekommt sie schon von mir!«
Vielleicht hatte er die Frage falsch formuliert. »Wann muss ich anfangen? Ich … ich brauch ein bisschen Zeit, bis mein Körper mir wieder gehorcht.«
»Sorry, aber es muss jetzt losgehen, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Schließlich erwartet mich oben mehr Spaß, als ihr mir hier unten bieten könnt.«
Dale wandte sich von seinem Peiniger ab und konzentrierte sich auf Mara, die ihn mit großen Augen ansah. Darin las er Hoffnung und Erwartung, aber warum? War ihr nicht klar, dass diese Aktion zum Scheitern verurteilt war? Von ihm würde sie die erhoffte Erlösung nicht bekommen. Er hob die schmutzigen Hände mit den viel zu langen Nägeln und versuchte, nachzudenken.
***
Die Gegend war für New Yorker Verhältnisse erstaunlich ruhig. Die Häuser und Grundstücke wiesen auf gediegenen Mittelstand hin. Mark biss auf seiner Unterlippe herum, die inzwischen blutete. Er schmeckte Kupfer und etwas anderes, Bitteres, das vielleicht Adrenalin, vielleicht auch nur Angst war. Als der weiße Lieferwagen vor einem rostigen Tor stehen blieb, hinter dem sich ein schwer einsehbares Grundstück befand, fuhr Mark mit pochenden Schläfen vorbei. Er zwang sich, nach vorn zu schauen und seine Geschwindigkeit beizubehalten. Falls der Typ ihn erkannte, war er gefickt, so viel stand fest. Im Rückspiegel konnte Mark sehen, wie der Mann wieder in seinen Wagen stieg und durch das Tor fuhr. Schon war er aus dem Blickfeld verschwunden. Marks Herz raste. Hektisch leckte er sich über die blutige Lippe. Verzweifelt kämpfte er gegen den Drang, anzuhalten, aus dem Auto zu springen und zu diesem verdammten Entführer-Arschloch zu rennen. Ein letztes Mal erblickte er den Wichser im Rückspiegel. Der schloss das Tor und blickte sich dabei kurz um, schien jedoch kein weiteres Interesse an Marks kleinem roten Ford zu haben.
Alles ist gut! Er hat nicht gemerkt, dass ich ihm gefolgt bin.
Mark atmete für einen Moment auf, bevor ihm klar wurde, dass das erst der Anfang war. Unsichtbare Hände schlossen sich um seine Brust und drückten zu, bis er kaum mehr Luft bekam. Er bog in die erstbeste Seitenstraße ein und fuhr neben einem scheinbar leer stehenden Haus rechts ran. Obwohl nur eine Straße weiter, wirkte die Gegend hier schäbiger. Die Farbe blätterte von den Fassaden der Häuser, die Gärten machten einen ungepflegten Eindruck, und es lag mehr Müll herum. Das rostige Tor des Kidnappers hätte hier besser ins Bild gepasst.
Mark nahm die Hände vom Lenkrad, die in der letzten Stunde damit verwachsen gewesen waren, und wischte die schweißnassen Handflächen an seiner Hose ab. Erst jetzt bemerkte er, dass er zitterte. Seine Nackenmuskeln schmerzten vor Anspannung. Er versuchte, sie zu massieren, doch seine Hände waren so verkrampft, dass sie den Dienst versagten.
Ich könnte die Polizei rufen , schoss es ihm durch den Kopf.
Aber wollte er das wirklich? Was, wenn er sich irrte und Sam gar nicht entführt worden war? Seine Eltern würden ihn umbringen, weil er sie aus den Augen gelassen hatte. Nein, falsch, sie würden ihn schon allein dafür killen, dass er seine Schwester überhaupt mit nach Coney Island genommen hatte. Das durften sie auf keinen Fall erfahren! Sonst würde Mark alles verlieren. Das Auto, seine Freiheit und damit sein ganzes Leben, solange er nicht in der Lage war, dieses selbst zu bestreiten, was frühestens in ein paar Jahren der Fall sein würde. Und für einen Sechzehnjährigen waren ein paar Jahre ein Stück Ewigkeit.
Ich muss das allein regeln! Mir bleibt nichts anderes übrig.
Er hatte tatsächlich keine Wahl. Falls Sam entgegen aller Erwartungen nicht bei diesem Mann war, würde Mark sich höflich entschuldigen und von dannen ziehen. Dass er dann ein anderes Problem hatte, stand außer Frage, war aber erst mal irrelevant.
Und wenn er sie entführt hat und ein kranker Psychopath ist? Wie willst du mit so einem fertig werden?
Mark hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass er es irgendwie schaffen musste . Danach würden seine Eltern sich hoffentlich nicht mehr dafür interessieren, dass er mit Sam in Coney Island gewesen war und sie allein gelassen hatte. Alle würden nur noch von seiner Heldentat sprechen und wie er es geschafft hatte, einen Kinderschänder zu überwältigen. In der Regel waren diese Typen schwach und feige und trauten sich nur an kleine Kinder ran. Mit so einem fertigzuwerden war ein Kinderspiel.
Natürlich musste Mark erst mal an das Schwein herankommen.
Und das sollte schnell passieren. Wer weiß, was der in der Zwischenzeit mit Sam anstellt.
Der Gedanke ließ Marks Eingeweide unangenehm kribbeln. Ihm war auf einmal kotzübel.
Wenn er ihr etwas antut, ist er tot!
Mark beugte sich über den Beifahrersitz und ließ das Handschuhfach aufschnappen. Mit zitternden Händen griff er hinein und zog das Klappmesser heraus, das er seit Monaten hier aufbewahrte, da sein Auto der einzige Ort war, zu dem seine Eltern keinen Zugang hatten. Hier bewahrte er auch seine Marihuana-Vorräte und seine Bong auf. Ungünstig, falls er in eine Polizeikontrolle stolperte, aber trotzdem besser, als ins Fadenkreuz seiner Eltern zu geraten.
Wenn ich eine Knarre hätte …
Ein unnützer Gedanke, denn Mark besaß keine Waffen. Er wusste, dass Spider welche hatte, doch bei dem brauchte er genauso wenig anzukommen wie bei den Bullen oder seinen Alten. Er war auf sich selbst gestellt. Je schneller er das akzeptierte, desto effektiver würde er seiner kleinen Schwester helfen können.
Ich muss sie retten! Falls mir das nicht gelingt, will ich gar nicht weiterleben!
Nichts würde dann mehr Sinn machen.
Mark schloss das Handschuhfach und ließ das Messer in seiner Jacke verschwinden. Für einen Moment lehnte er sich in seinem Sitz zurück, schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Vor seinem inneren Auge tanzten rote Kreise – dann sah er plötzlich den zersplitterten gelben Eimer! Vielleicht würde Sam ähnlich aussehen, wenn das Dreckschwein mit ihr fertig war.
Was mache ich hier eigentlich? Während ich in meiner verdammten Karre hocke und Däumchen drehe, fällt das Schwein womöglich schon wie ein wildes Tier über die Kleine her oder hat sie längst umgebracht!
Der Gedanke erschütterte Marks Welt in den Grundfesten.
Ohne sich weiter um seine zitternden Hände und sein rasendes Herz zu kümmern, startete er den Motor und setzte zurück.
Halte durch, kleine Sam! Ich rette dich!
Wenn es nur nicht schon zu spät war …
***
Dale beugte sich so weit über Mara, dass er ihren Atem auf dem Gesicht spüren konnte. Als er sie küsste, schloss er die Augen. Danach sahen sie sich an. Es war der intimste Moment, den Dale je mit einem anderen Menschen geteilt hatte. Er hatte sogar den fies grinsenden Psychopathen in seinem Rücken vergessen. Langsam ließ er die Hände über Maras verunstalteten Rumpf gleiten, ohne dabei den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen. Obwohl er vorsichtig war, zuckte sie immer wieder zusammen, wenn er eine ihrer Wunden berührte. Dale ertastete eine besonders große oberhalb ihrer linken Brust. Mara sog geräuschvoll die Luft ein. Mit einem vagen Nicken bedeutete sie Dale, dass er weitermachen sollte. Der spürte ihren Herzschlag unter seinen Fingern. Wie ein kleines, verrückt gewordenes Tier, das weder ein noch aus wusste.
Nun lag es an ihm.
Sanft strich Dale mit den Fingerspitzen über Maras Augenlider und küsste ihre verkrusteten Lippen zum letzten Mal. Mit den geschlossenen Augen wirkte ihr Gesicht beinahe entspannt. Dale blickte wieder auf die von Blut und Eiter verkrustete Wunde, die so nah an Maras Herz war.
Wenn er nur die Finger hineinbohren könnte, um es zu zerstören! Doch so einfach würde das ohne Hilfsmittel nicht gehen und Mara würde schreckliche Qualen leiden. Den Gefallen wollte Dale dem kranken Schwein nicht tun!
***
Samantha lag bäuchlings auf einem großen Bett. Ihre Handgelenke waren auf dem Rücken gefesselt, die Fußgelenke an die Bettpfosten, sodass ihre Beine bis zur Schmerzgrenze gespreizt waren. Sie war nackt und fror. Alles tat weh.
Das Einzige, was sie bewegen konnte, war ihr Kopf. Sie drehte ihn vorsichtig nach links, wo sich rissige Bretter vor einem kleinen Fenster befanden, durch die nur wenig Licht drang. Rechts gab es noch weniger zu sehen. Nur eine Wand, an der seltsame Bilder hingen, auf denen blaue Flecken und aufgeplatzte Haut zu sehen waren. Erneut drehte Sam den Kopf nach links, zum Fenster. Vielleicht gab es da draußen ja eine Straße. Andere Menschen. Hilfe. Sollte sie es wagen? Würde der böse Mann ihr wieder wehtun, wenn sie um Hilfe schrie?
Samantha beschloss, dass sie das Risiko eingehen musste, versuchte den Mund zu öffnen – und realisierte, dass sie das nicht konnte! Ihre Lippen klebten irgendwie zusammen. Sie versuchte, sie mit Gewalt zu öffnen, doch das tat zu sehr weh und sie schmeckte Blut.
Panik kroch in Sam hoch. Tränen schossen in ihre Augen, Hitze in ihren Kopf. Sie bekam keine Luft, weil ihre Nase verstopft war!  
Hilfe! Warum hilft mir denn keiner? Ihr Körper zuckte, Urin und Kot gingen ab, ohne dass sie es merkte.
Da löste sich etwas in ihrer Nase. Wie eine große Seifenblase, die platzte. Sie realisierte, dass sie atmen konnte, wenn sie sich beruhigte.
Eins – zwei – drei. Ganz langsam. Vier – fünf – sechs. Alles wird gut. Sieben – acht – neun …
Als sie bei ihrem Alter angelangt war, hielt Sam inne. Ihre Atmung hatte sich beruhigt. Die Nase war noch ein bisschen verstopft, aber solange sie ruhig blieb, bekam sie ausreichend Luft.
Nun nahm sie ihren eigenen Gestank wahr.
Ob er böse sein wird, wenn er das sieht?
Sam konnte sich nicht richtig an das erinnern, was der böse Mann mit ihr gemacht hatte, nachdem er sie ins Haus getragen hatte. Sie wusste nur noch, dass er sie auf den Boden geworfen hatte. Der Schmerz hatte ihr Bewusstsein vernebelt. Das tat er auch jetzt, denn er war überall. Am schlimmsten in ihrem Rücken und zwischen ihren Beinen.
Sie hatte gedacht, dass sie sterben würde, aber noch lebte sie. Ob das gut oder schlecht war, wagte sie nicht zu beurteilen. Sie wollte nur, dass der Mann wegblieb! Er hatte so nett gewirkt da unten am Strand, nur um sich kurze Zeit später in ein Monster zu verwandeln.
Samantha wusste, dass es böse Menschen gab. Meistens waren es Männer, die kleine Kinder in ihre Autos zerrten. Ihre Eltern hatten sie davor gewarnt. Es war falsch, mit Fremden zu sprechen oder gar mit ihnen zu gehen. Trotzdem hatte sie es getan.
Warum bin ich so dumm gewesen?
Sie verstand es nicht. Sie hatte sich immer für ein schlaues Mädchen gehalten …
Wo ist Mark? Sucht er mich?
Ihr Bruder würde sie nicht im Stich lassen, da war Sam sich sicher.
Aber woher soll er wissen, wo ich bin?
Das konnte er nicht!
Verzweifelt presste Sam die Augen zusammen und stöhnte vor Angst. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der böse Mann zurückkam. Dann würde er ihr wieder wehtun. Vielleicht bis sie tot war.
Du musst mich finden, Mark! Bitte finde mich!
***
In Marks Kopf war nur noch Platz für seine kleine Schwester und den gelben Plastikeimer, der so zerbrochen war, wie die Kleine es tun würde, wenn er sich nicht beeilte.
Er parkte einige Häuser von der Zufahrt des Entführers entfernt und näherte sich dem Tor zu Fuß. Ein paar Autos fuhren vorbei, deren Fahrer nicht mehr als flüchtige Blicke für ihn übrig hatten.
Noch kannst du jemanden anhalten oder zu einem der Häuser hinübergehen und um Hilfe bitten!
Das könnte er, würde es aber nicht tun. Weil das hier seine Sache war. Er hatte seiner Schwester und sich diesen Mist eingebrockt und er würde ihn auch auslöffeln. Allein. Danach konnte, von ihm aus, die ganze Welt erfahren, dass er mit Sam auf Coney Island gewesen war, doch davor würde es ihm das Genick brechen. Seine Eltern würden ihm nie wieder vertrauen.
Als strahlender Held, der todesmutig seine kleine Schwester gerettet und dabei einen Kinderschänder zur Strecke gebracht hatte, würden ihm allerdings sogar seine Alten zu Füßen liegen. Zum ersten Mal in seinem Leben.
Mark wollte das richtig machen. Er würde für seinen Fehler geradestehen und ihn ausbügeln. So, wie sich das gehörte.
Er erreichte das Tor, das mit einem schweren Schloss gesichert war. Wenigstens war – zumindest von hier aus – keine Alarmanlage zu erkennen.
Was nicht heißt, dass es keine gibt.
Wohl wahr, doch dieses Risiko würde Mark eingehen müssen. Falles er einen Alarm auslöste, würden die Bullen erscheinen. Dass das im Sinne eines kriminellen Pädophilen war, wagte er zu bezweifeln. Solche Typen blieben gern unauffällig und hielten sich im Verborgenen.
Aber was, wenn mich einer der Nachbarn sieht und die Polizei ruft? Das wäre wohl Schicksal. Sam wäre trotzdem gerettet und du spielst eh nur die zweite Geige. Dann wirst du eben auf deinen Ruhm verzichten müssen und die nächsten Jahre deines Lebens knicken. Hauptsache, Sam wird gerettet.
Natürlich war das die Hauptsache! So oder so.
Mark sah sich das Tor genauer an. Darüber zu klettern wäre möglich, aber wohl nicht im Sinne aufmerksamer Nachbarn. Daneben befand sich ein von Unkraut und niedrigen Büschen überwucherter Bretterzaun. Von Garten und Haus war nicht viel zu sehen, da die Einfahrt gleich hinter dem Tor eine scharfe Kurve machte. Mark konnte ein Stück des Daches und der Veranda einsehen. Der Garten glich einem kleinen Dschungel. Hier war sicher schon lange niemand mehr mit Rasenmäher und Heckenschere zugange gewesen. Absicht? Für einen psychopathischen Kidnapper gab es kaum eine bessere Deckung. Das war ein verdammtes Horrorhaus!
Mark schritt den unkrautüberwucherten Bereich rechts neben dem Tor entlang. Der Zaun war nur knapp einen Meter hoch, aber die verwilderte Hecke wucherte an manchen Stellen bis in Schulterhöhe, an anderen weit über Marks Kopf hinaus, der mit seinen eins fünfundachtzig nicht zu den Kleinsten gehörte. Er zwängte sich am Zaun entlang, bis er sich außer Sichtweite der Straße und – hoffentlich – sämtlicher neugieriger Nachbarsaugen befand.
Der süßliche, leicht modrige Duft von Herbstlaub stach ihm in die Nase und ließ ihn an früher denken, als er als kleiner Junge den Garten seiner Grandma erkundet und sich dabei vorgestellt hatte, ein Naturforscher auf geheimer Mission zu sein.
Im Dschungel seiner Kindheit hatten giftige Schlangen und Leoparden gelauert, doch das echte Monster erwartete ihn hier und heute in diesem unheimlichen Gruselhaus. Es war fast zu klischeehaft, um wahr zu sein. Der schmuddelige Lieferwagen, das überwucherte Grundstück, das versteckte Haus. Nur der Mann, den Mark hinter dem Steuer gesehen hatte, entsprach nicht dem Klischee eines einschlägigen Pädophilen. So einen hätte Mark sich ganz anders vorgestellt: fettleibig und schmierig, mit glänzender Glatze und dickem Schnurrbart.
Es schien falsch, dass jemand, der kleine Mädchen entführte, um Gott weiß was mit ihnen anzustellen, so verdammt normal aussah!
Und wen interessiert das? Du solltest zusehen, dass du über diesen verfickten Zaun kommst, weil da drin vielleicht gerade deine kleine Schwester stirbt!
Der Gedanke bohrte sich wie eine Lanze in Marks überlastetes Herz. Mit verkniffenem Blick suchte er Zaun und Hecke ab. Schließlich entdeckte er eine Stelle, an der die Hecke ein wenig lichter und die morschen Bretter des Zauns gut sichtbar waren.
Hier könnte ich durchkommen.
Dann tu es endlich!
Mark tastete nach dem Messer in seiner Jacke. Die einzige Verteidigungsmöglichkeit, die er hatte. Er schob widerspenstiges, trockenes Astwerk beiseite, schwang ein Bein über den Zaun und holte das andere nach. Spitze Äste und etwas, das sich wie Dornen anfühlte, bohrten sich in seine Hände und Wangen, blieben an seinen Klamotten hängen und krallten sich wie Hexenfinger in seine Haare. Fuck, das geht schwerer, als ich dachte.
Traf das nicht auf viele Dinge im Leben zu? Nun ging es darum zu kämpfen und Mark Ellison wollte verflucht sein, wenn er das nicht tat. Für die kleine Sam und sein eigenes Seelenheil.
***
Mara blieb stumm, als Dales Hände sich um ihren Kopf legten, der so klein und verletzlich wirkte wie der Schädel eines Neugeborenen. Ihre Augen waren geschlossen.
Verzeih mir.
Mit einem Ruck riss Dale Maras Kopf nach oben, nur um ihn im nächsten Moment mit voller Wucht auf den Boden zu knallen. Mara riss die Augen auf. Dale zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er ihren Schädel erneut auf den harten Beton schmetterte. Warmes Blut spritzte ihm ins Gesicht. Am Rande seiner Wahrnehmung registrierte er, dass er schrie, laut und kehlig, während Tränen aus seinen Augen liefen.
Doch er machte weiter, bis Maras Schädel mit einem dumpfen Knacken brach.
Ihre Augen hatten sich mit Blut gefüllt, der Mund stand weit offen.
Dale wollte nicht wissen, woraus die schleimige Masse unter ihrem Kopf bestand.
Er hob die blutigen Hände und war soeben im Begriff, sich nach dem Psychopathen umzudrehen und das kranke Schwein zu fragen, ob es nun zufrieden war, als das Geschrei losging.
***
Soeben hatte Casey mit wachsender Erregung zugesehen, wie dieser Penner sein letztes bisschen Menschlichkeit aufgab, um mit bloßen Händen Maras Herz zu zerquetschen, im nächsten Moment ertönte das Geschrei des Mädchens und brachte sein eigenes Herz zum Stolpern.
Scheiße, warum klingt das so nah? Außerdem hab ich ihr doch den Mund zugeklebt! Da stimmt was nicht!
Ohne Dale eines weiteren Blickes zu würdigen, rannte Casey zur angelehnten Tür.
***
Nachdem er es mit zahlreichen Striemen und eingerissenen Klamotten durch die Hecke geschafft hatte, schlich Mark in gebückter Haltung an dem in der Einfahrt parkenden Lieferwagen vorbei und zur Rückseite des Hauses. Er hatte vor, nach einem Fenster Ausschau zu halten, das er zerbrechen konnte. Eine Treppe führte zu einer Hintertür. Daneben befanden sich zwei Fenster, die allerdings zu klein waren, um durchzuklettern. Mark würde es dennoch versuchen. Er würde, verdammt noch mal, nicht aufgeben, bis er in diesem verfluchten Haus war!
Und was dann? , fragte er sich, als er die moosigen Stufen hinunterstieg. Der Typ könnte bewaffnet sein!
Das würde er riskieren müssen, wenn er Sam retten wollte. Er konnte nur hoffen, dass das Überraschungsmoment auf seiner Seite war und es ihm irgendwie gelang, das Schwein zu überwältigen. Er würde auch nicht zögern, die Drecksau abzustechen, falls dies nötig war.
Ich kann das schaffen! , hämmerte Mark sich ein und spürte die Macht des Adrenalinrausches.
Schon stand er vor der Tür … und vergaß zu atmen!
Ist die offen? Das kann nicht sein!
Mark rieb sich die Augen und sah noch immer dasselbe. Die Tür aus massivem braunem Holz mit dem eisernen Griff war angelehnt. Das gibts nicht! So viel Glück kann man nicht haben!
War der Typ sich seiner Sache so sicher, dass er bedenkenlos die Tür offen ließ oder hatte er es nur vergessen?
Vielleicht bin ich doch auf der falschen Fährte und er hat Sam gar nicht entführt! Vielleicht ist er nur irgendein harmloser Typ, der nie was Böses getan hat! Glaubst du das wirklich?
Mark glaubte es nicht. Er zog das Messer aus seiner Tasche, ließ die Klinge aufschnappen und versetzte der Tür einen leichten Tritt.
In dem engen Flur mit den vergilbten Wänden war es düster und stickig, doch das Licht, das durch die offene Tür fiel, reichte aus, um die Blutflecke auf den Holzdielen sichtbar zu machen. Blut! Mark blieb die Luft weg.
Ist das von Sam?
Es war nicht wirklich viel. Ein Kind mit Nasenbluten würde mehr verlieren. Dennoch war es deutlich sichtbar und wohl nicht das beste Zeichen, wenn man gerade das Haus des mutmaßlichen Entführers seiner Schwester betrat.
Gott, bitte mach, dass es noch nicht zu spät ist!
Und was hieß eigentlich zu spät ? Dass Sam tot war?
Was mach ich, wenn er sie vergewaltigt hat? Wird sie je darüber hinwegkommen?
Das waren Fragen für später. Wenn sie Pech hatten, würden weder Sam noch Mark lebend aus dieser Sache herauskommen. Er war hier und würde alles tun, um der Kleinen zu helfen.
Mit diesem sturen Alleingang bringst du sie unnötig in Gefahr! Warum rufst du nicht endlich die Polizei? Du bist weder Vin Diesel noch der gottverdammte Chuck Norris!
Das stimmte. Er war nur ein dummer Junge, der sich vor dem Anschiss seiner Eltern fürchtete. Manchmal reichte das.
Mit erhobenem Messer und in der Kehle pochendem Herzen sah Mark sich um. Die Einrichtung erinnerte an ältere Leute. Er musste unwillkürlich an das Haus seiner Großeltern in Connecticut denken. Auf einer kleinen Anrichte standen getrocknete Blumen in einer bemalten Vase, an den Wänden hingen Fotografien und Ölgemälde mit Stillleben.
Und da war auch weiteres Blut.
Die Tröpfchenspur führte zur Treppe. Mark hatte sich soeben an den Aufstieg gemacht, als er gedämpfte Stimmen aus dem unteren Teil des Hauses hörte. Er zuckte zusammen und hätte beinahe das Messer fallen lassen. Es waren Männerstimmen. Die Worte blieben unverständlich.
Aber es ist mehr als einer!
Erneut spürte Mark eine drückende Übelkeit in sich aufsteigen. Gegen mehrere Männer würde er kaum eine Chance haben.
Kurz dachte er darüber nach, kehrtzumachen, das Haus zu verlassen, zurück durch die Hecke zu seinem Auto und die neun-eins-eins anzurufen.
Da fiel sein Blick auf eine kleine grüne Haarspange, die auf einer der Stufen neben weiteren Blutstropfen lag. Mark erkannte die Spange. Er hatte sie selbst bereits mehrfach in Sams dünnen blonden Haaren befestigt. Der Kloß in seinem Hals rutschte in seine Hose. Mit brennenden Tränen in den Augen eilte Mark weiter.
Wenn es sein Schicksal war, hier und heute zu sterben, konnte er das wohl nicht ändern, doch die kleine Sam würde er mit seinem Leben verteidigen. Bis zum bitteren Ende.
***
Im ersten Stock war es genauso düster wie im Flur, da jemand die Fenster verhängt hatte, doch das Blut – so wenig es auch war – führte Mark zielsicher zu einer Tür, die sich äußerlich nicht von den anderen Türen in diesem Haus unterschied. Nur am Griff war etwas Blut. Mark drückte ihn hinunter – es war tatsächlich nicht abgeschlossen – und versuchte, sich innerlich gegen das zu wappnen, was er gleich zu sehen bekommen würde. Im schlimmsten Fall fand er eine kleine Leiche, was ihn wahrscheinlich um den Verstand bringen würde.
Der spärlich beleuchtete Raum wurde von einem großen schmiedeeisernen Bett beherrscht. Darauf lag die gefesselte Samantha, der Rücken mit Hämatomen übersät, die Pobacken blutig.
»Sam!«, brach es aus Mark heraus. Er vergaß alles um sich herum, stürzte zum Bett und griff sanft nach dem Kopf seiner Schwester, um ihr ins Gesicht zu sehen. Das war mit Tränen und Rotz bedeckt, der Mund unnatürlich schmal. Als das Mädchen ihren Bruder erkannte, füllten sich ihre Augen mit frischen Tränen. Sie schien sprechen zu wollen, brachte die Lippen aber nicht auseinander und konnte nur kehlig stöhnen.
Mark hielt ihr Gesicht mit beiden Händen fest und küsste sie auf die Stirn. »Was hat das Schwein dir angetan? Es tut mir so leid, Sammy!«
Sam konnte nicht antworten, sich nicht bewegen …
Worauf wartest du Idiot? Mach sie los und verschwinde von hier!
Keine schlechte Idee.
Mit dem Messer durchtrennte Mark die Fesseln seiner Schwester, die so eng saßen, dass er gut aufpassen musste, um nicht in ihre Haut zu schneiden. Zurückblieben hässliche rote Striemen. Sobald sie frei war, zog Sam die Knie an und rollte sich auf dem Bett zusammen. Verzweifelt blickte Mark sich in dem fast leeren Raum nach ihrer Kleidung um, konnte sie aber nicht entdecken. Schließlich riss er das blut- und dreckverschmierte Laken vom Bett und wickelte das Mädchen darin ein. Besser als nichts. Die Kleine versuchte indes, einen Finger zwischen ihre verklebten Lippen zu schieben. Es gelang ihr nicht. Mit panischen, riesigen Augen starrte sie Mark an.
»Alles wird gut«, flüsterte der. »Ich bringe dich zu einem Arzt.« Er hob sie hoch und wurde von einem heftigen Gefühl der Wärme überschwemmt, als Sam die dünnen Ärmchen um seinen Hals schlang. Freiwillig würde sie ihn so schnell wohl nicht mehr loslassen.
Und jetzt raus hier, Mann! Es wird echt Zeit!
Mark hetzte los, ohne zu bemerken, dass das kleine Mädchen in seinen Armen weiter zwischen ihren verklebten Lippen herumstocherte, da die Panik erneut in ihr hochgekocht war und sie befürchtete, jeden Moment zu ersticken.
***
Brennender Schmerz breitete sich aus, als es Sam schließlich gelang, einen Finger zwischen ihre Lippen zu bohren. Sie riss den Mund auf, um zu schreien, wobei der restliche Kleber sich samt einiger Hautfetzen löste. Blut rann ihr in die Kehle und über das Kinn. Sam klammerte sich an ihren Bruder und schrie alle Angst und allen Schmerz heraus.
Mark hielt mitten auf der Treppe inne und starrte in das blutige Gesicht seiner Schwester. Ihr Mund war weit aufgesperrt. »Sei still!« Er versuchte, ihr eine Hand auf den Mund zu pressen. Sam zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen und wehrte sich verbissen. Das Mädchen war völlig außer sich, die Panik hatte sie fest im Griff.
Für einen Moment dachte Mark, er würde sie fallen lassen. Sie würde sich das Genick brechen und alles wäre umsonst gewesen. Doch er hielt sie – irgendwie – und wollte gerade die nächsten Stufen nehmen, als von unten der deutlich vernehmbare Schrei eines Mannes ertönte. »Stopp!«
Da tauchte er auch schon im Flur auf. Mit nacktem Oberkörper und rasendem Blick. Als er Mark auf der Treppe erblickte, schlich sich Erkennen in sein Gesicht. »Du?«
Mark schnappte nach Luft. Seine Knie waren plötzlich wie aus Gummi. In seinen Armen kreischte die traumatisierte Sam, kreischte und kreischte.
»Lassen Sie uns gehen!«, flehte Mark. »Wir werden nichts sagen! Versprochen!«
Das brachte den Mann zum Lachen. Ob er das Messer in Marks Hand schon gesehen hatte? Vermutlich störte es ihn nicht. Sein Lachen klang irritierend vergnügt und zu hundert Prozent irre.
Was soll ich machen? Rennen?
Mark würde die Tür niemals vor dem Entführer erreichen. Da hätte er schon fliegen müssen. Hektisch fuhr er herum und rannte die Treppe wieder hinauf, ohne sich um das Geschrei und Gezappel seiner Schwester zu kümmern.
»Wo willst du hin?«, ertönte die heitere Stimme des Psychopathen. »Gib lieber auf und lass uns wie Männer reden. Das bringt doch alles nichts. Du kommst hier nicht raus.« Die Stimme kam näher.
Mark hetzte den Flur entlang und riss irgendeine Tür auf, die aussah wie alle anderen. Dahinter befand sich ein schmuddelig anmutendes Badezimmer. Die getrockneten braunen Flecken auf den Fliesen hätten Dreck oder auch Blut sein können. Mark knallte die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel herum. Er setzte Sam ab und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür. Seine Lunge schmerzte bei jedem pfeifenden Atemzug, von dem bohrenden Seitenstechen einmal abgesehen. Mark war völlig am Ende. Seine kleine Schwester stand in das schmutzige Laken gewickelt vor ihm und starrte ihn an. Ihr Gesicht war blutverschmiert. Zumindest war ihr Geschrei in atemloses Schluchzen übergegangen.
»Setz dich hin. Ruh dich aus«, sagte Mark. Seine Stimme klang weinerlich.
Das Mädchen setzte sich auf den Boden, lehnte den Rücken an die gekachelte Wand und zog die Knie an.
Gut so. Braves Mädchen.
Sterben wird sie trotzdem.
Mark presste die zur Faust geballte Rechte an die Stirn und dachte nach. Das Fenster am anderen Ende des Raumes war zu klein, um durchzuklettern und außerdem vergittert. Er sah keinen Griff und hätte wetten können, dass man es nicht öffnen konnte. Der Entführer hielt wohl nicht viel von einem gut durchlüfteten Badezimmer. Seine Prioritäten waren logischerweise anders gelagert.
Vielleicht kannst du es einschlagen!
Mark ließ den Blick schweifen. Er bezweifelte, dass er hier etwas finden würde. Resigniert betrachtete er das Messer in seiner Hand. Das würde ihm auch nicht mehr helfen. Nachdem er nun eingesehen hatte, wie dumm dieser Alleingang war, verfluchte er sich dafür, sein Handy im Auto gelassen zu haben. Scheiß auf die Konsequenzen! In diesem Moment hätte er nichts lieber getan, als die Bullen zu alarmieren.
»Komm raus, Junge!«, ertönte die Stimme des Mannes direkt hinter der Tür.
Mark konnte noch immer nicht fassen, dass jemand, der so normal wirkte, ein solcher Psychopath war. Er fragte sich, was das Schwein mit der kleinen Sam gemacht hatte. Das Blut, das er zwischen ihren Pobacken gesehen hatte, ließ nichts Gutes erahnen.
»Ich schwöre, dass wir nichts verraten, wenn Sie uns gehen lassen!«
Das brachte den Mann wieder zum Lachen. Die Türklinke wurde nach unten gedrückt und Mark zuckte zusammen.
»Du weißt nicht, mit wem du dich hier anlegst, Junge.« Jetzt ließ er sich gegen die Tür fallen. Sam schrie auf. Mark drückte mit aller Kraft dagegen. »Du solltest mich nicht wütend machen! Wenn ihr freiwillig rauskommt, werde ich deiner Schwester nicht mehr wehtun als nötig, das verspreche ich. Aber wenn ich euch holen muss, ficke ich die Kleine vor deinen Augen zu Tode, Junge! Das schwöre ich bei meiner toten Mutter!«
Er wird ihr nicht mehr wehtun als nötig? Ist das sein gottverdammter Ernst?
Wieder schlug der Mann gegen die Tür. Sam heulte wie ein getretener Welpe. Mark wurde langsam schwarz vor Augen. Er wusste, dass sie in der Falle saßen. Die Aussichtslosigkeit ihrer Lage brachte ihn um den Verstand!
Vielleicht sollte ich erst mal mitspielen. Wenn er diese Tür aufkriegen will, wird er das auch. Ich kann ihn nicht aufhalten. Aber ich kann versuchen, ihn auszutricksen …
Ihm war klar, was das unter Umständen für seine kleine Schwester bedeutete, doch er würde sie so oder so erst mal nicht vor dem Mann schützen können. Er biss sich auf die Unterlippe und schluckte schwer. »Okay, wir kommen raus.«
»Bravo!« Ein dumpfes Klatschen war zu vernehmen. »Ich wusste, dass du ein vernünftiger Junge bist.«
Mit zitternden Händen klappte Mark das Messer zu und steckte es sich hinten in den Hosenbund. Er hoffte, dass der Psychopath es dort nicht so schnell entdecken würde. Weil die Hoffnung immer zuletzt starb.
»Was machst du da?« Sams Augen waren in Panik geweitet. »Du darfst nicht aufmachen!«
Da hatte Mark den Schlüssel schon herumgedreht.
Sofort stürzte der Entführer sich auf ihn und verpasste ihm einen schmerzhaften Kinnhaken und ein paar gezielte Schläge in die Magengrube, die Mark in die Knie zwangen. Sams Geschrei war ohrenbetäubend.
Es tut mir leid , dachte Mark zusammenhanglos.
Schon packte der Psychopath ihn im Genick und drückte ihn bäuchlings zu Boden. Er brauchte keine zwei Sekunden, um das Messer aus Marks Hose zu ziehen, ihn bei den Haaren zu packen und die Klinge an seine Kehle zu halten. Mark stöhnte vor Schmerz.
Warum bin ich so dumm gewesen? Ich hätte die Polizei rufen sollen!
»Was wolltest du denn damit, Kleiner?«
Mark antwortete nicht. Er spürte einen kleinen spitzen Schmerz, als die Klinge oberflächlich in seine Haut schnitt. Dann nahm sein Angreifer das Messer weg und ließ seine Haare los, befand sich aber noch immer dicht über ihm. Mark wagte nicht, sich zu bewegen. Sams Schreie waren einmal mehr in ersticktes Schluchzen übergegangen.
»Nimm die Hände auf den Rücken!«
Mark gehorchte. Plötzlich machte der Mann sich an seinen Füßen zu schaffen und zog ihm die Schuhe aus, die er kurze Zeit später ohne Schnürsenkel auf den Boden warf. Mark stöhnte auf, als der Psychopath seine Hände mit den Schnürsenkeln fesselte und dabei wenig zimperlich vorging.
»So gefällst du mir schon besser«, lachte er und tätschelte Marks Kopf.
Der hätte heulen können, kämpfte aber – für den Moment – erfolgreich gegen seine Tränen an.
»Weiß jemand, dass du hier bist?«
Mark überlegte kurz, ob er lügen sollte. Was würde es ihm nützen? Er hatte versagt und alles war vorbei. Sam und er würden qualvoll sterben. Und das war seine Schuld. Es tut mir leid, Sam. So leid.
Der Entführer trat ihn in den Hintern. »Antworte gefälligst!«
»Nein«, jammerte Mark. »Niemand weiß davon.«
Der Mann trat noch einmal zu und der Schmerz kroch bis in Marks Eingeweide.
»Schwörst du es? Beim Leben der Kleinen?«
Ein Hustenanfall schüttelte Mark. Der Psychopath trat ihn, bis er schrie. »Ich schwöre es! Bitte hören Sie auf!«
»Soll ich mich lieber um die Kleine kümmern?«
»Nein! Bitte!«
»Nein? Aber wir müssen uns ja irgendwie die Zeit vertreiben, meinst du nicht?«
Dieses Lachen! Es rief die Assoziation eines abgebrochenen Fingernagels auf einer Schiefertafel hervor. Marks Hintern und Steißbein taten so weh, dass er sich ernsthaft fragte, ob etwas gebrochen war. Und wieder ein Tritt! Immer dieselbe Stelle! Großer Gott!
»Ist sie deine Schwester?«
Mark schluckte Rotz und Tränen hinunter. »Ja, Sir.«
»Wie heißt ihr und wo kommt ihr her?«
»Mark und Samantha Ellison. Wir wohnen in Queens.«
»Alter!«
»Ich bin sechzehn. Sam ist neun. Bitte, Sir, lassen Sie uns am Leben. Ich verspreche, dass wir nichts sagen werden!«
Die nächsten Tritte waren so heftig, dass Mark für einen Moment das Bewusstsein verlor. Als er Minuten später wieder zu sich kam, sah er aus dem Augenwinkel, wie der Entführer Sam vom Boden aufhob. Das Laken hatte er ihr weggenommen. Die Kleine schrie nach ihrem Bruder, der nur daliegen und sich in seinem Schmerz winden konnte, den er, verdammt noch mal, verdient hatte. So verließ der böse Mann den Raum mit Marks Schwester und ließ diesen in dem Schlamassel, den er sich selbst eingebrockt hatte, allein.
***
Nachdem sein Folterer den Keller so überstürzt verlassen hatte, blieb Dale noch eine Weile wie betäubt neben der toten Mara sitzen. Was da oben vor sich ging – die Schreie und Stimmen – interessierte ihn nicht. Ihn interessierte gar nichts mehr, denn er hatte einen Menschen getötet. Mara war gut zu ihm gewesen, eine echte Freundin. Und was hatte er getan?
Du hast ihren Schädel zerschmettert!
Sie hatte es so gewollt, doch Dale hatte das Gefühl, dass es vielleicht eine andere Lösung gegeben hätte. Er hätte sich nicht dazu hinreißen lassen dürfen. Der Psychopath würde sein Wort nicht halten und ihm für diese Tat einen sanften Tod gewähren. Er spielte mit ihm, so wie er es von Anfang an mit ihnen allen getan hatte. Niemals hätte er diesem Unmenschen einen Gefallen tun dürfen, nur um seinen eigenen Arsch zu retten! Es machte keinen Sinn, sich mit einem Psychopathen auf Kompromisse einzulassen.
Träge wandte er sich von Maras entstelltem Rumpf ab und warf einen kurzen Blick auf Donnas Überreste. Das Dreckschwein hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sie zu entsorgen.
Genau so wird er es auch mit uns machen. Entwürdigt bis zum bitteren Ende.
Wie im Zeitlupentempo bewegte Dale seine schmerzenden Glieder. Seit Wochen war er nicht mehr richtig auf den Füßen gestanden. Doch der Psychopath hatte es versäumt, ihn anzuketten. Sollte er nicht etwas aus dieser neu gewonnenen Freiheit machen oder es wenigstens versuchen?
Wozu? Ich bin ein Mörder und es ist zu spät. Alle sind tot.
Aber stimmte das wirklich? Wer hatte da oben geschrien? Der Entführer schien noch jemanden gefangen zu halten und diese Person war – zumindest bis vor ein paar Minuten – noch am Leben.
»Es ist erst vorbei, wenn ich tot bin«, krächzte Dale mit seiner neuen seltsamen Stimme. Stöhnend quälte er sich auf die Füße, indem er sich an der rauen Wand abstützte. Seine Knie zitterten. Auf Gummibeinen stakste er Richtung Tür und hielt sich dabei an der Wand fest. Wahrscheinlich hatte der Entführer abgeschlossen, aber manchmal fand schließlich auch ein blindes Huhn ein Korn.
Als er den Griff hinunterdrückte und Sekunden später vor einer offenen Tür stand, konnte Dale es kaum fassen. Sein Peiniger war durch die plötzlichen Schreie tatsächlich dermaßen aus der Fassung geraten, dass er nicht nur Dales Fesseln, sondern auch das Abschließen vergessen hatte. Vielleicht ging er auch davon aus, dass Dale bereits zu geschwächt war, um aus eigener Kraft zu entkommen. Viel wahrscheinlicher war allerdings, dass er vor lauter Schreck an gar nichts mehr gedacht hatte. Irgendetwas war schiefgegangen. Blieb die Frage, ob Dale noch in der Lage war, davon zu profitieren. Er schloss die Hände um das kühle Treppengeländer und machte sich daran, die Betonstufen zu erklimmen, die ihn möglicherweise in die Freiheit oder auch nur in das nächste Dilemma führen würden.
***
Der böse Mann brachte Sam zurück in das Bett, aus dem ihr Bruder sie eben erst befreit hatte. Dort fesselte er sie auf der blanken Matratze. Sie war wieder nackt, fror und stand Todesängste aus. Noch waren die Berührungen ihres Entführers sanft, doch sie wusste inzwischen, wie schnell sich das ändern konnte. Sam zitterte, als er die Hände langsam über ihren Rücken, ihren Po und ihre Beine gleiten ließ. Das Gefühl, einer fremden Person, die eindeutig keine guten Absichten hatte, so ausgeliefert zu sein, war schrecklich. Sam blieb nichts anderes übrig, als reglos dazuliegen und alles stumm über sich ergehen zu lassen. Sie hatte gesehen, was mit Mark passiert war, als der geschrien hatte. Auf keinen Fall wollte sie, dass der Mann sie schlug oder ihr erneut den Mund zuklebte. Wenn sie still blieb, würde ihr vielleicht wenigstens das erspart bleiben.
So blieb sie auch stumm, als der Entführer sich auszog und mit seinem ganzen Gewicht auf ihren Körper legte. Seine Hände schoben ihre Schenkel auseinander und schlugen auf ihre Pobacken. Sam schloss die Augen und betete, dass es schnell vorbeigehen würde.
Sie schwor sich, nicht zu schreien, was immer der böse Mann mit ihr machte.
Am Ende schrie sie doch.
***
Als Dale die Treppe erklommen hatte, fiel sein Blick auf den schmalen Tageslichtstreifen, der durch die angelehnte Tür auf die schmutzigen Holzdielen fiel. Da draußen wartete eine Freiheit, die ihm in seiner derzeitigen Lage makaber und unwirklich erschien. Er war sich nicht mal sicher, ob er sich das noch einmal antun wollte. Die Straße, die Drogen und all die bitteren Erinnerungen an seine verlorene Familie, die ihn für den Rest seines Lebens begleiten würden. Wäre es nicht so viel einfacher, dort unten zu bleiben und auf einen Tod zu warten, der bereits mehrfach angeklopft hatte? Sterben war nicht schön, aber das Leben am Abgrund, das er in den letzten Monaten geführt hatte, war noch viel hässlicher.
Dale geriet ins Schwanken, musste sich an der Wand festhalten.
Ist das dein Ernst? Willst du wirklich da unten verrecken?
Nicht wirklich. Er konnte aber auch nicht einfach durch diese Tür gehen und frei sein. Sein Geist würde für immer gefangen bleiben und dieses Horrorhaus niemals verlassen können. Weil er wusste, dass jemand hier war, der seine Hilfe brauchte.
Dale hatte weder Mara noch Donna retten können, doch sein eigenes Leben war nicht wertvoll genug, um es über diese Schwelle ins blendende Tageslicht zu schleppen. Er hatte die Schreie gehört. Mindestens eine weitere lebendige Person befand sich in diesem Haus und hatte vielleicht nicht mehr viel Zeit.
Bis er in seinem Zustand die Bullen aufgesucht und ihnen genug erzählt hätte, um sie hierher zu bewegen, würde diese Person vielleicht tot sein. Dann wäre wirklich alles umsonst gewesen.
Ich bin es nicht wert. Leben will ich nur, wenn ich damit jemanden retten kann …
Ob die Todesnähe ihm dieses edle Gemüt beschert hatte? Was auch immer. Dale würde auf jeden Fall nicht von hier verschwinden, ohne sein Bestes getan zu haben.
Er tastete sich an der Wand entlang durch den Flur, da er seinen Beinen noch immer nicht traute. Bevor er sich an den Aufstieg der nächsten Treppe machte, ging er in die Küche, die groß und einigermaßen sauber war. Die Einrichtung war altmodisch.
Wie zu Großmutters Zeiten.
Der Psychopath schien wenig Wert auf einen individuellen Wohnstil zu legen.
Klar, der Wichser hat Besseres zu tun , dachte Dale wütend.
Als sein Blick auf den Wasserhahn fiel, schlug sein Herz schneller. Er eilte zum Spülbecken und drehte das Wasser auf, ließ sich die erfrischende Köstlichkeit über den Kopf und in den Mund laufen. Herrlich! Für einen Moment vergaß Dale alles andere. Er trank gierig, spülte sich den Mund aus, trank wieder. Seine raue Kehle jubilierte. Alle Poren öffneten sich, als das kühle Nass über seine Haut lief.
Danke, Gott! Danke, danke!
Dale trank, bis sein Magen sich schmerzhaft verkrampfte. Er hatte es übertrieben, erbrach einen Teil des Wassers, nur um gleich weiterzutrinken, obwohl sein Bauch noch immer wehtat. Als sein Durst endlich gelöscht war, wusch er sein Gesicht und seine Haare und spritzte Wasser über seinen Körper. Er schauderte ob der Kälte, hatte sich aber lange nicht mehr so gut gefühlt. Fast wie neugeboren. Seine Schmerzen waren nur noch halb so schlimm. Dale fühlte neue Kraft in seinen Gliedern, sein Gehirn schien endlich wieder normal zu arbeiten. Er sah sich um, öffnete ein paar Schubladen, fand schließlich ein langes Messer, das scharf und gefährlich genug aussah, um damit auf einen psychotischen Serienkiller loszugehen.
Dale bewegte sich gerade wieder in Richtung Treppe, als weitere Schreie ertönten. Jetzt war er sicher, dass es sich um ein Kind handelte. Und wie es schrie, hatte es schrecklichste Qualen zu ertragen.
Du verdammtes Schwein! Ich bring dich um!
Dale umklammerte den Messergriff mit beiden Händen und stieg langsam die Treppe hinauf. Die kindlichen Schreie gingen ihm durch Mark und Bein.
Hoffentlich hat er noch keine Amputation durchgeführt!
Die Vorstellung, dies bei einem Kind mitansehen zu müssen, brachte Dale an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Dennoch konnte er nichts tun, als weiterzumachen und zu hoffen, dass er nicht zu spät kam. Er hatte schon so viel durchstehen müssen, seit er hier war. Das durfte nicht umsonst gewesen sein!
Er war gerade im ersten Stock angekommen, als die Schreie auf einmal verstummten.
Bitte lass das nicht das Ende sein!
Dale drückte sich mit dem nackten Rücken an die Wand und näherte sich der Tür, aus der er die Schreie vermutete. Er war so angespannt, dass die Adern an seinen Schläfen hervortraten und er das Pochen des hindurchfließenden Blutes bis in seinen Kiefer spürte. Sein Adamsapfel hüpfte wie ein Jo-Jo.
Lass dieses Kind leben. Bitte.
Er hob das Messer, war zu allem bereit, und hätte sich trotzdem fast in die nicht vorhandenen Hosen gemacht, als die Tür plötzlich aufging.
***
Nachdem er seinen Samen auf dem kleinen Kinderkörper verteilt hatte, richtete sich Casey auf und zog sich an. Die gefesselte Kleine war verstummt und rührte sich nicht. Lächelnd beugte er sich über sie, um ihr einen Kuss auf die verschwitzten Haare zu drücken.
Er würde sie eine Weile in Ruhe lassen, damit sie sich erholen konnte. Später würde er ihr ein kleines Abendessen bringen und vielleicht noch mal ein bisschen Spaß mit ihr haben. Morgen wollte er den OP-Saal vorbereiten.
Vergiss den Bruder nicht! , fiel es ihm plötzlich ein. Tatsächlich hatte er sich noch nicht überlegt, was er mit dem Bengel anstellen wollte. Er würde ihn erst mal in den Keller bringen und in Ketten legen. Alles andere hatte Zeit. Warum sollte er sich unnötig hetzen, jetzt wo Spaß und Freude in sein Leben zurückgekehrt waren? Hier ging es schließlich ums Genießen. Mit einem breiten Grinsen wandte Casey sich von seinem kleinen Opfer ab und marschierte zur Tür.
***
Mark war zu der gekachelten Wand gerobbt und hatte seinen Rücken dagegen gepresst, um auf die Füße zu kommen. Am Fensterbrett entdeckte er eine scharfe Kante, an der er seine Fesseln rieb, bis sie einrissen. Das dauerte eine gefühlte Ewigkeit und kostete ihn jede Menge Schweiß und Blut, da die Kante nicht nur die Schnürsenkel, sondern auch seine Haut aufriss, doch am Ende schaffte er es, sich zu befreien. Anschließend ließ er Wasser über seine verletzten Handgelenke laufen und stillte die Blutung mit Klopapier. Ein kurzer Blick in den verschmierten Spiegel zeigte ihm ein blasses, zu allem entschlossenes Gesicht mit einem wilden Glanz in den Augen. Er war noch da und würde alles tun, um seine Schwester zu retten!
Ich bring das Schwein um!
Dies war Mark Ellisons letzter Gedanke, bevor er die Tür öffnete.
***
Dale wusste, dass er schnell handeln musste. Seine einzige Chance gegen diesen brutalen Wichser war es, sich das Überraschungsmoment zunutze zu machen.  
Daher stach er sofort zu, als die Tür sich öffnete. Die fast dreißig Zentimeter lange Klinge bohrte sich bis zum Schaft in den Hals des Dreckschweins, das gurgelnd und blutspuckend auf die Knie sank.
Dale stieß einen wilden Jubelschrei aus, der ihm allerdings im Hals stecken blieb, als er in das schmerz- und schockverzerrte Gesicht des Sterbenden blickte. Die runden blauen Augen bohrten sich flehentlich in die seinen. Dunkle Haarsträhnen klebten auf der verschwitzten Stirn.
Die eine Hand des Jungen hatte sich um den aus seiner Kehle ragenden Messergriff geklammert, die andere streckte er hilfesuchend nach vorn.
Oh nein! Es ist ein Junge! Nur ein Junge! Was hab ich getan?
Dale packte die ausgestreckte Hand und fing ihn auf, bevor er umkippen konnte. Den zuckenden Körper in seinen Armen sank er auf die Knie. »Das wollte ich nicht! Es tut mir so leid!«
Die Augen des Jungen sahen ihn noch einen Moment verständnislos an, bevor sein Blick sich verschleierte. Hellrotes Blut sprudelte aus seinem Mund, seine Hand verkrampfte sich um Dales. Spastische Zuckungen schüttelten den Körper durch. Dale hielt ihn fest, bis er tot war. Als er den tränenverschleierten Blick hob, stand der grinsende Psychopath über ihm.
»Nimmst du mir die Arbeit ab, Dale?«
Dale konnte nicht sprechen. Er biss die Zähne zusammen und senkte den Blick auf den toten Jungen, dessen Hand er nicht loslassen wollte.
Es brauchte mehrere Stromstöße aus dem Taser des Psychopathen, um seinen Griff zu lösen.