27
Der Leitspruch des Fürsorgeheims bildete das erste Gebot: Ich bin der Herr, dein Gott. Getreu diesem Motto agierte der Heimleiter, Pater Hermann, der schon in den Dreißigerjahren die Leitung der Einrichtung übernommen hatte. Mittlerweile waren dort nur Mädchen untergebracht, und in der Einrichtung hatte sich seit Kriegsende einiges geändert. Homosexuelle Zöglinge wurden nicht in die Psychiatrie eingewiesen, wo ihnen Kastration oder die Tötung im Rahmen der Euthanasie drohte. Sie wurden auch nicht mit der neunschwänzigen Katze verprügelt. Trotzdem wurde auch jetzt bei der geringsten Verfehlung eine brutale Prügelpädagogik praktiziert. Die Zöglinge wurden geschlagen, eiskalt abgeduscht, kamen in die Isolation, wenn sie sich etwas hatten zuschulden kommen lassen. Man durfte sich nicht über das Essen beschweren, man durfte nicht heimlich Radio hören, man durfte den Nonnen nicht widersprechen, die übrigens die schulpflichtigen Mädchen unterrichteten und die Älteren bei der Arbeit beaufsichtigten, wie auch Peggy, die an diesen Morgen auffallend gut gelaunt war, weil sie sich auf das Treffen mit Thomas freute. Gut gelaunt, ja euphorisch, wie Verliebte nun mal sind, schneiderte sie eine Bluse für ihren kleinen Schützling, die achtjährige Maria, die vor einigen Wochen mit der Diagnose »
Kinderfehler« ins Heim gebracht worden war. Darunter verstand man auffälliges Verhalten von Kindern wie Bettnässen. Die kleine Maria musste einiges im Leben durchgemacht haben, denn sie sprach kein Wort, nässte zum Unwillen der Nonnen ins Bett und mied den Kontakt zu den anderen. Nur gegenüber Fritz und Peggy hatte sie ein wenig Vertrauen gefasst und ging manchmal mit ihnen im Garten spazieren. Nun wollte Peggy ihr die Bluse schenken, die sie selbst entworfen hatte.
Sie fand die kleine Maria im Eingangsbereich des Badehauses. Dort hockte sie wie ein Häufchen Elend auf dem alten Kachelboden und schluchzte still vor sich hin. Maria starrte Peggy mit glasigen Augen an und brachte kein Wort heraus.
Fürsorglich hob Peggy das verängstigte Mädchen hoch. Was war passiert? Die Antwort gab ein fröhliches Pfeifen, das aus dem Duschbereich kam. Peggy ging zur Tür und sah den Heimleiter unter der Brause. Er hatte offensichtlich beste Laune.
Dieses Schwein, schoss es Peggy durch den Kopf. Sofort wollte sie Maria in Sicherheit bringen, obwohl sie wusste, dass es im Heim keinen wirklich sicheren Platz gab.
Peggy sollte recht behalten. Zwei Nonnen versperrten ihnen im Hof den Weg.
»Wir müssen mit dir reden«, herrschte die erste sie an.
»Ich muss mich erst um Maria kümmern.« Peggy presste das hilflose Mädchen an sich.
»Du kommst jetzt sofort mit, haben wir uns verstanden?«, schnarrte die zweite Schwester und griff nach ihr.
Bevor sich Peggy wehren konnte, tauchten zwei weitere Schwarzkrähen auf, die jeden Widerstand zwecklos machten. Peggy wurde in das Zimmer der Oberin gebracht, die bereits hinter ihrem Schreibtisch wartete. Sie schwenkte mit ihrem Lineal Peggys Minirock in die Höhe und blickte angewidert darauf
.
»Das haben wir bei dir gefunden, du Miststück! Bist du eine Nutte?«
Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, betrat ein gut gelaunter Pater Hermann den Raum, frisch geschniegelt und gestriegelt. Er stank nach Kölnisch Wasser.
»Suchen Sie Maria?«, fragte ihn Peggy direkt ins Gesicht.
Er antwortete mit einer Ohrfeige. Sie tat ihm nicht den Gefallen und zeigte keine Spur von Schmerz. Daraufhin schlug er erneut zu. Diesmal reagierte Peggy mit einem Grinsen. Nun geriet der Pater in Rage und holte nochmals aus, überlegte es sich aber anders: »Dich kriegen wir noch klein!«
Peggy kam vor das sogenannte Heimgericht, das immer dann einberufen wurde, wenn eines der Mädchen »gesündigt« hatte. Als Richter fungierte Pater Hermann, als Geschworene seine hörigen Nonnen. Es gab keine Verteidigung. Warum auch? Gottes Urteil stand von vornherein fest. Peggy wurde Blasphemie und Missachtung der Hausordnung vorgeworfen.
»Deine Haare werden auf Jungenlänge abgeschnitten. Außerdem kommst du ins schwarze Zimmer«, sprach die Oberin und fügte grinsend hinzu: »Sei froh, früher wärst du auf dem Scheiterhaufen gelandet!«
Das Urteil wurde sogleich vollstreckt. An einen Stuhl gefesselt musste Peggy ertragen, wie die Oberin ihre Haare abschnitt. Währenddessen stand der Pfarrer dicht am Stuhl, und Peggy spürte seine Erektion.
»Bleib mir vom Leib, du Wichser!«, brüllte sie und fing sich diesmal eine schallende Ohrfeige der Oberin ein.
»Gott möge dir vergeben«, flötete Pater Hermann scheinheilig und strich ihr kaum spürbar über die Schulter. Dieses ekelhafte Stück Scheiße, dachte Peggy und spuckte ihm ins Gesicht, was ihr eine weitere Ohrfeige einbrachte
.
Bevor sie in die Zelle gezerrt wurde, duschten die Nonnen sie kalt ab, damit ihre »Sünden« abgewaschen wurden. Während der demütigenden Prozedur zeigte Peggy keine Regung. Sie wollte sich ihren Stolz nicht brechen lassen.