36
Gleich am nächsten Morgen wollte Thomas Dr. Nikasius einen Besuch abstatten. Diesmal fuhr er mit seinem Borgward auf das Gelände, was sich nicht als problematisch erwies, da er sich beim Pförtner als Kripobeamter ausweisen konnte. Auf dem Weg zur Pathologie musste er an der prächtigen Privatstation von Prof. Humbold vorbei. Dabei erregte vor dem Eingangsportal ein Quartett seine Aufmerksamkeit, das er in dieser Zusammensetzung nicht erwartet hätte: Prof. Humbold, Dr. Nikasius, Ehrenbürger Söhnlein und seine Gattin. Thomas fuhr den Borgward an die Seite und schaute interessiert auf die vier, die sich einen heftigen Wortwechsel lieferten. Es ging zwar laut zu, aber Thomas war zu weit entfernt, um irgendetwas verstehen zu können. Ihm fiel auf, dass sich der Arzt offenbar in der Defensive befand, jedenfalls wehrte er sich gestenreich und lautstark gegen die restlichen drei, die auf ihn einredeten. Irgendwann wurde es Dr. Nikasius offenbar zu viel. Er eilte fluchend zu seinem Käfer und brauste davon. Thomas konnte sich überhaupt keinen Reim auf das Ganze machen, fuhr aber Dr. Nikasius hinterher. Vor der Pathologie kam der Käfer zum Stehen, und der Arzt verschwand humpelnd im Gebäude.
Thomas traf ihn im Sezierzimmer auf der ersten Etage. Diesmal
hatte er sich gegen den Leichengeruch gewappnet und rieb etwas Mentholsalbe unter die Nase.
»Was willst du denn wieder hier?«, blaffte Dr. Nikasius ihn an, als er Thomas an der Tür sah. Der Arzt, der seine schlechte Laune von dem Disput eben mitgebracht hatte, stand vor einem Seziertisch, auf der eine zugedeckte Leiche lag.
»Guten Morgen, Dr. Nikasius. Meine Kollegen sind der Ansicht, dass ich mich öfters bei Ihnen blicken lassen sollte …«, begann Thomas, wurde aber sogleich unterbrochen.
»Das hier ist kein Kindergarten!«, bellte Dr. Nikasius, und mit einem Ruck entfernte er das Tuch von der Leiche, sodass Thomas auf den faltigen Körper eines sehr alten Mannes blickte.
»Es geht um das tote Mädchen, das vor ein paar Tagen in den Ruinen gefunden worden ist.«
»Hast du meinen Bericht nicht gelesen? Da steht alles drin.«
»Schon, aber ich hätte da noch einige Fragen, was die Fraktur am Kopf angeht.«
Anstatt zu antworten, begann der Arzt, mit einem Skalpell den Brustkorb des Mannes zu öffnen.
»Schädeldecke war kaputt. Noch Fragen?«
»Ich habe gelesen, dass bei einer Kopfverletzung, die durch einen Sturz oder Aufprall verursacht wird, entweder eine Schädelprellung oder ein Schädelbruch vorliegt.«
»Sagte ich doch, eine Fraktur!«
»Und welche genau? Kalottenfraktur, Gesichtsschädelfraktur oder Schädelbasisbruch?«
»Tu doch nicht so, als ob du Ahnung hättest«, brummte der Arzt, während er die inneren Organe des Toten entnahm und in Blechschüsseln verteilte. Das war kein angenehmer Anblick für Thomas, aber er zwang sich, nicht wegzuschauen. Dr. Nikasius sollte nicht denken, dass er schwächelte
.
»Bei einer Leichenbeschau wird der ganze Körper untersucht. Haben Sie auch den Hals des Mädchens in Augenschein genommen?«
Die Frage irritierte Dr. Nikasius. Er unterbrach seine Arbeit.
»Was fragst du da?«
»Sind Ihnen Würgemale am Hals aufgefallen, die aus einer Erdrosselung resultieren?«
»Blödsinn«, winkte der Arzt ab, doch Thomas bohrte weiter.
»Haben Sie auch nach Spuren einer Vergewaltigung untersucht?«
Unwirsch schüttelte der Arzt den Kopf und setzte seine Arbeit fort.
Thomas entschied sich jetzt, den Arzt aus der Reserve zu locken.
»Wie steht es eigentlich mit der Konzentration, wenn man als Diabetiker einen Insulinanfall hat?«
Seine Frage sorgte bei dem Arzt für weitere Irritationen.
»Wovon redest du?«
»Sie haben letztens behauptet, Diabetiker zu sein!«
»Ja und?«
»Sie haben mich angelogen. Sie sind morphiumsüchtig!«
Der Arzt schüttelte vehement den Kopf und hob drohend sein Skalpell. Dabei zitterte er am ganzen Körper.
»Bursche, ich warne dich!«
Aber Thomas ließ sich nicht beeindrucken, im Gegenteil, er drehte die Schraube noch fester: »Es besteht der Verdacht, dass Sie an dem Tag der Obduktion mit Entzugserscheinungen zu kämpfen hatten. Ich gehe deshalb davon aus, dass Ihre Untersuchung fehlerhaft verlaufen ist.«
Der Vorwurf saß. Dr. Nikasius biss sich die Lippen blutig und bohrte das Skalpell in den Torso
.
»Raus hier! Raus!«
Thomas versuchte, ihn zu besänftigen. »Beruhigen Sie sich doch! Ich bin nicht Ihr Feind. Mit mir können Sie über alles reden. Ich mache Sie für nichts verantwortlich, ich will nur wissen, ob Sie an dem Abend auf Entzug waren.«
Anstatt auf das Angebot einzugehen, brüllte der Arzt laut los.
»Einen Scheiß werde ich dir erzählen, du Rotzlöffel! Mach dich vom Acker, oder du kriegst verdammt viel Ärger!«, schrie er, schnappte sich plötzlich eine Knochensäge und stürmte auf Thomas zu.
Der war von der Attacke vollkommen überrascht und hatte seine Mühe, dem rasenden Arzt auszuweichen.
»Sind Sie wahnsinnig? Beruhigen Sie sich!«, brüllte Thomas und ging ein paar Schritte zurück. Als er über einen Stuhl stolperte, sprang der Arzt auf ihn und stieß seine Beinprothese gegen Thomas’ Knie, was höllisch schmerzte. Dann holte er mit der Säge zum Schlag aus. Blitzschnell nahm Thomas seine Pistole aus dem Halfter und drückte sie gegen die Schläfe des Arztes. Das wirkte. Nikasius glotzte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, verharrte regungslos.
»Ich drücke gleich ab. Notwehr. Paragraf 32, Strafgesetzbuch«, presste Thomas hervor und spannte den Hahn.
Langsam legte der Arzt die Säge auf den Boden. Vorsichtig schob Thomas ihn von sich und stand auf. Der Arzt blieb auf dem Boden liegen, wand sich vor Krämpfen, während sein Gesicht blau anlief.
»Ich könnte Sie jetzt ohne Weiteres wegen versuchten Totschlags festnehmen, aber ich gebe Ihnen noch eine Chance«, keuchte Thomas und steckte seine Pistole zurück. »Wenn ich morgen wiederkomme, werden Sie mir erzählen, was während der Untersuchung der Leiche schiefgelaufen ist.
«
Thomas war zufrieden mit sich. Er hatte auf den sinnlosen Angriff des Arztes mit Nervenstärke reagiert. Warum waren bei dem Doktor die Sicherungen durchgebrannt? War das ein Resultat seiner Drogensucht, oder hatte Thomas mit seinem Vorwurf ins Schwarze getroffen? Er zweifelte nicht daran, dass Dr. Nikasius die Leiche fehlerhaft untersucht hatte. Nur eine gerichtliche Obduktion konnte Klarheit über den Tod der kleinen Esperanza schaffen. Thomas wusste genau, dass ihm die rechtliche Handhabe für eine Obduktion fehlte. Die müsste gerichtlich initiiert werden.
Im Präsidium angekommen überlegte er, wie er den Onkel überzeugen konnte, eine Obduktion zu veranlassen. Er musste es versuchen. Zuvor wollte er aber erneut den Obduktionsbericht studieren. Als er die Akte hervorholte, las er zu seinem Erstaunen, dass die Leiche von der Staatsanwaltschaft zur Überführung nach Spanien freigegeben worden war. Bei Thomas schrillten die Alarmglocken. Wenn die tote Esperanza einmal in Spanien war, wäre eine Obduktion faktisch unmöglich.
Thomas entschloss sich, mit den Eltern des Mädchens zu sprechen, und fuhr zum Gastarbeiterheim. Ihm war die Brisanz seines Besuchs bewusst, denn er musste sie davon überzeugen, dass seiner Ansicht nach ihre Tochter ermordet worden war. Als er vor dem Wohnhaus stand, überkamen ihn Bedenken. Wie würden die verzweifelten Eltern, die von einem Unfall ihrer Tochter ausgingen, auf seinen Verdacht reagieren? Er ärgerte sich, dass er das alles nicht bedacht hatte.
»Nanu, ohne den Chef unterwegs?«, hörte er die schnarrende Stimme des Hausmeisters, der aus einem der Häuser schlurfte. »Tja, dumm gelaufen mit der kleinen Spanierin.«
»Wo sind die Eltern des Mädchens?«, fragte Thomas, die letzte Bemerkung des Hausmeisters ignorierend
.
»Wieder zurückgefahren. Haben gestern ihre Klamotten gepackt und sind wieder fort. Mit Sack, Pack und Sarg sozusagen.«
Die Art und Weise, wie der Hausmeister über das traurige Schicksal der Familie sprach, ärgerte Thomas maßlos. Aber er wollte jetzt nicht darauf reagieren.
»Ich möchte ihre Wohnung sehen.«
»Warum?«
»Weil ich das jetzt sage!«, brüllte Thomas genervt und stellte sich drohend vor dem Hausmeister auf.
»Ist ja gut, ist ja gut …«, antwortete Bukowski beschwichtigend und führte Thomas widerwillig in die Wohnung. Sie bestand aus einem Zimmer, in dem sich ein großes und ein kleines Eisenbett befanden. Auf dem Boden lagen noch Socken und Hemden, Teller türmten sich auf der Spüle. Die Klappe des Kohleofens war noch auf, die Briketts darin unverbrannt. Es sah aus, als ob das Zimmer fluchtartig verlassen worden war.
»Viel Spaß noch!«, grinste Bukowski und ging.
Thomas blieb nicht lange allein, weil ein dunkelhaariger Mann mit lustigem Gesichtsausdruck seinen Kopf durch die Tür steckte: »Buon giorno!«
»Guten Tag, ich wollte mich nur umschauen«, sagte Thomas und hob eine Kinderzeichnung auf. Darauf waren schöne Häuser, viele Bäume und eine lachende Sonne zu sehen. Über dem Bild stand das Wort Deutschland.
»Traurig, traurig. Sehr nette Leute. Gute Nachbarn«, seufzte der Mann und schaute ebenfalls auf das Bild.
»Kommen Sie auch aus Spanien?«
»Kennen Sie nicht das Lied von Rita Pavone, Zwei kleine Italiener
?«, lachte er und begann, die Melodie zu summen. Unwillkürlich musste Thomas mitlachen.
»Darf ich fragen, warum Sie nach Deutschland gekommen sind?
Gab es keine Arbeit in Italien?«, erkundigte sich Thomas, dem einfiel, dass er nichts über die sogenannten Gastarbeiter wusste.
»No! Deshalb war gekommen deutsche Kollege vom Arbeitsamt ins Dorf. Suchte Arbeiter für Mannesmann. Denn deutschen Arbeiter warn kaputt im Krieg. Vertrag gemacht, capito?«
Thomas hatte mehr oder weniger verstanden.
»Wissen Sie, warum die Familie jetzt zurückgefahren ist?«
»Großes Paradies versprochen. Aber bekommen haben Hölle«, seufzte der Mann traurig und ging wieder.
Während Thomas das Blatt sorgsam faltete und in seine Tasche steckte, dachte er über die Worte des italienischen Arbeiters nach: Man hatte ihnen das Paradies versprochen, doch sie hatten die Hölle bekommen. Aber sie hatten ein Recht auf Gerechtigkeit. Wie musste also sein nächster Ermittlungsschritt aussehen? Die Spur zu Esperanzas Mörder führte zu dem Mord an der kleinen Lotte. Dringend tatverdächtig war damals der Fahrer des Horchs. Konnte man nicht den Halter dieses Luxuswagens in Erfahrung bringen? Über das statistische Amt erfuhr Thomas zwar, wie viele Autos 1939 in der Stadt zugelassen waren, aber es gab keine Angaben über die Marken. Nach ein paar Anrufen bei einigen Autohäusern erfuhr er, dass das Autohaus, das die Marke Horch vor dem Krieg vertrieben hatte, nicht mehr existierte. Er war, was den Wagen des möglichen Täters betraf, in einer Sackgasse angelangt.
Was war mit den Eltern der kleinen Lotte? Über das Einwohnermeldeamt erfuhr er, dass sie nicht mehr lebten. Aber Thomas gab nicht auf. Da die Polizeiakten entfernt worden waren, begab er sich ins Stadtarchiv, um alte Zeitungen zu durchforsten. Er war gierig nach allen Informationen, die er bekommen konnte.
Das Stadtarchiv befand sich in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude, das schon bessere Tage gesehen hatte. Wenig einladend war auch der Pförtner, der sich in seinem Kabuffchen verschanzt
hatte und ein Schmalzbrot schmierte. Zunächst wollte der Mann, der sich wie ein Gutsherr aufführte, Thomas nicht in das Gebäude lassen, weil er sich nicht angemeldet hatte.
Beim Anblick der polizeilichen Dienstmarke schrumpfte er zu einem Gulliver und erklärte Thomas kleinlaut, wo sich die Zeitungen befanden. Die Archivarin dagegen – eine ältere Dame mit schütterem Haar – erwies sich als sehr zuvorkommend. Offenbar freute sie sich über ein wenig Abwechslung und half Thomas weiter.
»Die damaligen Zeitungen waren gleichgeschaltet. Die eine war ein reines Naziblatt, die andere musste es sein … Doch der Lokalteil blieb mehr oder weniger frei von Propaganda, obwohl die Nazis auch die kleinen Gartenvereine unterwandert hatten«, erklärte sie Thomas, der nach den unterschiedlichen Zeitungen gefragt hatte.
Thomas stellte fest, dass über den Mord an der kleinen Lotte ausführlich berichtet wurde.
Eine Schlagzeile sprang Thomas besonders ins Auge:
Wann wird der Kinderschänder endlich gefasst
?
Einige Tage später, am 2.9.1939 folgte:
Radschlägermörder gefasst!
Thomas las, dass die Geheime Staatspolizei einen Mann namens Eugen Schmitz verhaftet hatte, der auch geständig war. In dem Artikel stand, dass Eugen Schmitz, ein Fürsorgezögling, »sittlich verroht« war und »sexuell abnorm«. Kein Wort über seine Homosexualität und seine Kastration. Nur wenige Tage später wurde er von einem Sondergericht zum Tode verurteilt. Thomas musste an Eugens Akte denken. Er erinnerte sich daran, dass der Heimleiter eine Kastration von Eugen befürwortet hatte.
»Wie kann ich etwas über den damaligen Leiter des Heims, er hieß Hermann, erfahren?
«
»Sehen Sie doch im Adressbuch des Jahres 1939 nach«, antwortete die Archivarin und brachte ihm ein entsprechendes Exemplar.
Dort stand geschrieben, dass Hermann nicht nur Mitglied der NSDAP war, sondern auch Mitglied der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten«. Darunter konnte sich Thomas überhaupt nichts vorstellen. Erneut half ihm die Archivarin weiter.
»Diese Vereine wurden gegründet, um Menschen, die nicht der Volksgemeinschaft nützlich waren, zu entsorgen«, erläuterte sie mit bitterer Stimme. »Menschen, die dem Rasseideal der Nazis nicht entsprachen, wurden als wertlos angesehen. Es wurde ein Euthanasieprogramm entwickelt, das mehreren Zehntausend Menschen das Leben kostete. Sie wurden entweder vergast oder vergiftet. Und warum? Weil sie behindert waren oder homosexuell oder Zigeuner.«
»Und diese Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten entschied, wer sterben musste?«
»Richtig. Es gab Gutachter, das waren Ärzte und Heimleiter.«
»Also auch Hermann«, ergänzte Thomas, und die Archivarin nickte.
Thomas fiel in diesem Zusammenhang Prof. Humbold ein, den der alte Kommissar Fischer als »Eierschneider« bezeichnet hatte. Auch über Humbold wollte er etwas erfahren. Wieder erwies sich das Adressbuch als nützlich. Humbold war ein hoher Funktionär der hiesigen Ärztekammer, ebenfalls Parteimitglied.
Über Dr. Nikasius stand nur geschrieben, dass er Pathologe war. Offenbar gehörte er keiner Organisation und Partei an, was auch mit seinen Angaben übereinstimmte.
»Junger Mann, gehören Sie zur Sonderkommission zur Aufklärung der Naziverbrechen?«, fragte die Archivarin Thomas plötzlich.
»Nein, ich bin bei der Kripo.
«
»Ich habe Sie gefragt, weil Sie sich für diese Zeit interessieren.«
»Es geht um einen ganz gewöhnlichen Mordfall«, begann Thomas, berichtigte sich aber sogleich, »andererseits scheint er gar nicht so gewöhnlich zu sein …«
Mit Blick auf die Adressbücher fiel ihm eine Frage ein.
»Wissen Sie, warum Prof. Humbold nach dem Krieg weiterhin als Arzt arbeiten durfte?«
»Warum sollte er nicht?«, konterte sie mit leicht ironischem Unterton.
»Na ja, er war ein hoher Nazifunktionär. Und was er mit seinen Patienten angestellt hat, das war kriminell!«
»Wer hätte ihn denn anklagen sollen? Viele unserer Staatsanwälte und Richter waren damals auch Nazis«, antwortete sie leicht bitter. »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus!«
»Damit sollte man sich aber nicht zufriedengeben«, antwortete Thomas, der entschlossen war, den damaligen Justizmord nicht auf sich beruhen zu lassen.
»Ich würde gerne die Gerichtsakte des Falles einsehen. Wo finde ich die? Im Archiv des Landesgerichts?«
»Der Fall ist vom Sondergericht behandelt worden, deren Akten befinden sich in der Außenstelle Kalk. Wenn Sie wollen, kann ich dort anrufen.«
Thomas nahm das Angebot an.
»Morgen früh um neun können Sie die Akten einsehen«, teilte sie Thomas mit, nachdem sie mit der Außenstelle telefoniert hatte.
Thomas bedankte sich bei der freundlichen Dame, hatte aber noch eine Frage: »Könnten Sie mir vielleicht noch etwas über die Funktion dieser Sondergerichte sagen?«
»Das können wir schnell nachholen«, meinte die Dame und gab sich redlich Mühe, ihn aufzuklären.
Thomas erfuhr, dass die Nationalsozialisten neben den
Volksgerichten auch Sondergerichte eingesetzt hatten. Zunächst waren sie eingerichtet worden, um politische Gegner auszuschalten, aber dann hatten sie erweiterte Funktionen bekommen, zum Beispiel bei kriminellen Taten, die gegen das sogenannte gesunde Volksempfinden gerichtet waren. Die Sondergerichte sprachen sehr oft Todesurteile aus, in vielen Fällen wegen nichtiger Anlässe, beispielweise bei Beleidigungen des Führers. Was Thomas erstaunte und auch empörte, war die Tatsache, dass nach dem Krieg die Justizministerien die Todesurteile der Sondergerichte nicht beanstandet hatten.
»Diese Urteile hält man auch heute noch für vertretbar«, beklagte die Archivarin und fügte hinzu, dass sehr viele Richter und Staatsanwälte dieser Sondergerichte nach wie vor tätig sind.
Am Abend hatte Thomas Peggy viel zu erzählen. Er konnte ja mit niemandem sonst über seine Aktivitäten sprechen. Als Peggy hörte, dass der Arzt mit der Säge auf Thomas losgegangen war, machte sie sich große Sorgen um ihn.
»Der Kerl ist gemeingefährlich. Lass bloß die Finger von ihm!«
»Aber er hat was zu verbergen! Für mich steht fest, dass er Esperanza nicht richtig untersucht hat.«
»Aber ich komme um vor Angst, wenn du noch mal dahin gehst.«
»Ich passe auf mich auf, Peggy, mach dir keine Sorgen.«
»Versprich mir, dass du diesen Arzt nicht mehr besuchst.«
»Du kannst beruhigt sein, Peggy. Morgen fahre ich erst mal zum Archiv, um die Gerichtsakten über den armen Eugen zu lesen. Das ist ganz ungefährlich.«
Doch Peggy ließ sich nicht beruhigen.
»Die mache ich mir aber. Du rennst gegen eine Wand, Thomas! Lass uns verschwinden!
«
»Und wo sollen wir hin?«
Darauf hatte Peggy auch keine Antwort. Sie wollte sich von Alexis Rat holen. Vielleicht hatte er eine Idee. Er kannte sich doch überall aus und hatte Freunde in der ganzen Welt.
Gleich am nächsten Morgen fuhr Thomas nach Kalk, wo sich die Akten befanden. Seine Kollegen würden ihn sowieso nicht vermissen, weil sie ihn im Archiv wähnten. Ob er danach wieder in die Psychiatrie zu Dr. Nikasius fahren würde, wusste er noch nicht. Einerseits dachte er an Peggy, die sich um ihn sorgte, andererseits musste er Dr. Nikasius Druck machen, um zu erfahren, wie er die Leiche untersucht hatte.
Auch in Kalk machte Thomas eine positive Erfahrung mit einer Archivarin. Die freundliche Dame, um einiges jünger als ihre Kollegin vom Stadtarchiv, hatte für ihn die Gerichtsakte von Eugens Prozess bereitgestellt. Bei der Lektüre wurde ihm klar, dass von einem rechtsstaatlichen Verfahren keine Rede sein konnte.
Die Beweisaufnahme stützte sich auf ein Geständnis, das Eugen während der Vernehmung abgelegt hatte.
Dann wurden zwei Zeugen zitiert, die Thomas bekannt waren.
Zum einem Prof. Humbold: Der Angeklagte ist ein Mensch, der seinem inneren Drang zum Verbrechen hemmungslos unterworfen ist. Er hat des Öfteren Frauen triebhaft belästigt. Er ist intelligent und gerissen und steht jenseits von Gut und Böse.
Als weiterer Zeuge wurde der Heimleiter Hermann gehört: Eugen Schmitz ist ein frivoler und rücksichtsloser Gewaltmensch, eine asoziale Natur schlimmster Sorte!
Thomas konnte gar nicht glauben, was er da las. Es war offensichtlich, dass man den armen Eugen zu einem Monster machte, um ihn dann wegen »Mordes und vollendeter Notzucht« zum Tode zu verurteilen
.
Natürlich fand die Tatsache keine Erwähnung, dass er aufgrund seiner Homosexualität für ein Sexualverbrechen an einem kleinen Mädchen gar nicht infrage kommen konnte.
Aus der Akte wurden ebenfalls Details der Hinrichtung, wie Ort und Dauer, ersichtlich. Makaber auch, dass die Kosten für den Scharfrichter aufgeführt wurden, unter anderem, dass der Scharfrichter 325,70 Reichsmark in Rechnung stellte.
Aber eine Sache war dann doch interessant. Auch Strobel hatte der Hinrichtung beigewohnt!
»War es üblich, dass ein Vertreter der Polizei bei den Hinrichtungen anwesend war?«, fragte Thomas die Archivarin.
Sie verneinte. »Offensichtlich hatte der Hauptkommissar ein besonderes Interesse, was ich mir aber nicht erklären kann.«